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Achtes Capitel.
Die Kinderpredigt.


Nach einiger Zeit, die dem Raimund in einer gewissen Herzensängstlichkeit verschlichen, holte er den schönen, in seinem begeisterten und begeisternden Wesen, auch widerwillig von dem nüchternsten Manne fast erhaben zu nennenden Hirtenknaben, und die ihm wie schaf- oder gar leithammelmäßig folgende Irmengard, die ihn wunderbar rührte, und doppelt, weil sie so schön war, aus dem Garten; während er, tief durchbebt, doch vergebens nachsann, wo er sie je gesehen, oder wem sie bis zum Weinen ähnlich gesehen, oder vielleicht gar wer sie wäre oder wer sie gewesen sei, ja wer sie noch werden könnte – oder wirklich würde. Er war wie bezaubert. Doch was half das. Er führte Beide hinauf in das Zimmer des geistgesendeten langbeinigen Boten, der sich nur den bescheidenen Namen »Angelus« gegeben, bei dem er schon seinen neuen Freund, den Doctor Ramon, fand, welchen er, um ihm einigen irdischen Menschenrespect zu geben, jetzt immer auch Don Ramon nannte. Sie setzten sich alle vier um den müdegelaufenen Angelus, und es wurde von der verhalten lächelnden Frohmuthe »Liebfrauenmilch« kredenzt, in welche Don Ramon aber von seinem nüchternmachenden, unschädlichen geheimen Heilmittel getröpfelt hatte. Und sie tranken, vom Doctor im Stillen sehr ernst und genau beobachtet.

Sie tranken. Sie nippten. Sie tranken wieder. Und nach längerer Zeit verwandelten sich ihre Augen zuerst, die aus schwärmerischer Begeisterung und wetterleuchtendem Funkeln matt und matter, ihre Stirn kühler, ihre Wangen blässer, ja blaß, ihr Laut gemäßigter und ihre Sprache langsamer und ruhiger wurden, und sie saßen zuletzt da, die Hände müßig im Schoos. Eines wollte weinen, das Andere lachen; aber ward gleich wieder ernst und saß jetzt erst recht wie in einem Zaubergarten, aber verworren. Um sich zu beleben, trank Irmengard am meisten, füllte neu und trank dem Nikolas, der zürnend und erglühend dasaß, das Glas zu. Er hatte wie mit den allerfeinsten Sinnen begabt – und als wäre er wirklich, wie das Volk von ihm rühmte, mit höhern, ja mit Wundergaben begabt – nur von Zeit zu Zeit den Arzt mistrauisch angesehen, schlug jetzt der Irmengard das Glas aus der Hand, zeigte mit dem Finger der ausgestreckten Hand auf Don Ramon und rief: Das ist ein Feind, ein Verräther, ein Ungläubiger! Fort von ihm! – Er ist betrunken!

Und während Don Ramon selbst überrascht stand, sprach sein Freund Raimund in seiner Bauchsprache, die er von dem Angelus mit den langen Gebeinen tönen ließ: Knabe, du bist betrunken! Die Trunkenen halten die Nüchternen für perfect, wie sie das nennen, und halten die ganze Welt, die Sonne und den Mond für perfect; ja Häuser, Kirchen und Thürme, die Glocken darauf, und ihren eigenen würdigen Großvater, der mausstill im Sarge liegt, für besoffen, und sich nur für nüchtern. So ist das Ding! Du Glaubensherzog.

Der entflammte Knabe, zugleich von einem widerwilligen Grauen wie in zwei unsichtbare Geister zertheilt, aber faßte und hielt das Mädchen an ihren beiden Händen, küßte die Duldende fromm auf die Stirn und sprach: Meine Irmengard, du predigst als wahrer Engel den Kindern heut zu Nacht!

Raimund konnte sich nicht enthalten, darein zu sagen: »Heut zu Tag« – das gibt es nicht mehr – bis Weiteres.

Als Nikolas entrüstet fortgegangen, und wunderbarlich sogar sein Schäferhund Phylax den Don Ramon angeknurrt hatte, wollte sich Irmengard vor Unwohlsein zu Bette legen, denn sie sah eben nicht sehr malerisch aus, aber sie mußte gezwungen hinunter in den Saal, dem Maler als Modell zu knien.

Ramon und Raimund aber gingen in die Zimmer der Kinder, bei denen zwei arme Witwen geblieben waren.

Sie besprachen sich leise; Raimund war auf das Mittel gespannt, und Ramon sagte es ihm in kurzen Worten, und erläuterte es ebenso kurz, überzeugend und bündig, und sprach: Ihr seid doch wol einmal, also ein erstes Mal zu Schiffe gefahren, also seekrank gewesen – also ist Euch ganz erbärmlich zu Muthe gewesen, vollkommen gleichgültig gegen Himmel und Erde, Vater und Mutter, und hättet die ganze Welt um einen Batzen verkauft. Nicht wahr?

Ja wahr! antwortete Raimund lachend; für einen Kreuzer!

Also errege ich Abscheu, Widerdei, zuerst gegen Alles, dann in Tagen: Gleichgültigkeit gegen Vieles, zuletzt nur Begehren nach Hülfe in der Seele, und mache die Kräfte des Leibes schwach durch ein zweites »ausführliches« Mittel. Kann man Verliebte so heilen und mäßigen, eben denn so auch Verglaubte, welche hier vorliegen; so denn auch Steckenpferde und Steckenesel, ja Katzen. Das ist nicht Scherz! Denn stellt einen Blumennapf mit einem Busch » Marum verum« vor das Fenster, da sehet wie die Katzen und Kater kommen, nach dem Kraute springen, den Napf herunterhäkeln, und dann am Boden sich auf dem duftigen Kraut vor Entzücken wälzen und vor Wonne miauen, sodaß sie gar keine irdischen Katzen mehr scheinen, sondern unaussprechlich liebe und gute Wesen, nur noch mit irdischen Schwänzen und etwas höllischen Stimmen; die sich willig fangen, ja martern und todtschlagen lassen. Und welcher Katze der Pelz mit dem Geruche durchzogen ist, dieser laufen alle andern Katzen und Kater – denn ein Kater ist auch eine Katze – und Kätzchen nach durch Wasser und Feuer.

Das wäre eine Rede für meinen Bauch! sprach Raimund lachend.

So hat jeder Mensch, fuhr Ramon fort, und jedes Volk eine Zeitlang sein wahres » Marum verum«, das zu seinem Glücke es behext, und ihm über alle andern Uebel seiner Zeit hilft. Aber begießest du es mit Lauge, dann ist es den Katzen » Marum falsum«, ja sie verunehren sogar es dann auf ihre Art, vor Scham über sich selbst, und vor Rache an sich selbst.

Seid fest überzeugt, ich rede nur von Uebertreibung und möchte nur ein vieltausendfaches absehbar-unabsehbares Unglück verringern, da eine Verhinderung über der Macht aller Päpste, Kaiser und Könige liegt. Die Gedanken, Gefühle und Wünsche der Aeltern in einer Zeit stehen im nächsten Geschlechte auf, in die Welt, die nur eine große Carnevalsgarderobe erscheint, und werden in ihren Kindern geboren, und ihre Kinder sind die Aeltern mit frischen Händen und Füßen. Denn was wären sonst Kinder? und was wären sonst Aeltern? Und so werden die Knaben und Mädchen im leidenschaftlichen Frankreich und am feurigen Rhein hier jetzt Kreuzfahrerchen und nähen oder kleben einander Kreuze auf den Rücken, und selbst die kleinen Kinder im Hemde treten vor ihre Mütter und wollen schon ein recht schönes Kreuz von ihr aufgeklebt haben! Und sind wir Beide besser? Ich bin der Extract meiner Aeltern, und Ihr seid der der Euren – nur mit der Gefahr, eingekerkert, ja verbrannt zu werden, welcher wir Beide nur mit knapper Noth glücklich entritten sind! Diese Priester und Leviten hier, die so brav und gescheit sind wie wir, und im Grunde so gut wie alle andern vernünftigen Menschen, sie müssen aber diese berauschten Kinder segnen; drum möchte sogar ich, blos als ein Mensch, den bedrängten Geistlichen helfen vor Schimpf und Schaden, durch Hülfe an den Kindern; und Euch, mein theurer Raimund, sehe ich noch mit den Kindern ziehen, um ihnen zu helfen, zu rathen, oder nöthigenfalls unfehlbar mit ihnen zu weinen und ein armseliges Häuflein davon nach Hause zu bringen! Und nur Ein Kind Einer Mutter erhalten ist eine doch nicht strafbare That.

Der Tag verschlich darauf Jedem nach seiner Weise und der armen Irmengard in banger Unentschlossenheit. Und dennoch, auf bessere Stimmung hin, begab sie sich mit ihrer Frohmuthe bei der Abendröthe, wenigstens auf jeden Fall bereit, in das Haus in der Stadt und ließ sich von ihr schmücken. Raimund kam nach, auch Ramon. Als die Glocken darauf von dem Thurm zu der Vesper der Kinder bei den Ursulinerinnen erschollen und hallten, als aus allen Gassen Tritte von andächtig Schweigenden dröhnten, da befiel es sie wieder aus dem Glockenhall wie Himmelsruf; sie fuhr auf und reichte dem Raimund die Hand, sie in die Sacristei zu führen. Es erging ihr, wie dem zu einem Rehchen verzauberten Brüderchen – in dem Märchen »Brüderchen und Schwesterchen« – das zwar still und getreu bei dem Schwesterchen blieb; aber wenn draußen im Walde die Hörner lustig zur Jagd erschallten, dann hinaus mußte zu den Rehen, und sollte es zerrissen werden von den Jagdhunden oder erschossen von dem Pfeil des jagenden Königs – und sollte sich sein Schwesterchen darüber zu Tode weinen, oder indeß doch tausend Angst ausstehen. Jetzt war sie das arme Rehchen.

Die hohen breiten Fenster der Kirche waren von außen beleuchtet; aber als sie zu Thor und Halle hineingetreten, sahen sie erst mit Bewunderung, daß sie erleuchtet waren, und wie bezaubernd! Die bunten purpurnen und smaragdnen Scheiben glühten und sprühten; die heiligen Schädel der Jungfrauen, als große Juwelen in Gold und Perlen gefaßt, sprachen aus ihrem Glanze von göttlichen Dingen eine stille bezaubernde Sprache, die Jedem, auch dem Kinderherzen verständlich war, wie den Blumen im Garten die Sonnenstrahlen. Alles saß und stand unter dem hellen Gewölbe unten voll Kinder, Mädchen und Knaben, und Mütter und Väter, und alte Muhmen und Vettern – himmlisch angefunkelt!

Der leise Gesang begann. Raimund übergab seine zitternde Irmengard dem Geistlichen in der Sacristei, und begab sich mit Ramon auf ein Chor der Kanzel gegenüber. Silberne, im Strahle der Kerzen blitzende Leuchter standen zu beiden Seiten auf ihrer Brüstung. Endlich schwieg der Gesang, und das heilige Mädchen, die im Antlitz marmorweiße Irmengard erschien, heute viel größer, mit den goldenen, wie mondscheinhell leuchtenden Flügeln, den grünen Palmenzweig in der Hand, während der Geistliche etwa drei bis vier Stufen niedriger auf der Kanzeltreppe stehen geblieben war und nur mit Haupt und Schulter erschien.

Lange war kein Wort von der Kinderkreuzpredigerin zu verstehen, nur tauchten jetzt ein: »Lasset die Kindlein zu mir kommen« auf – ein: »Ihnen ist das Reich«; und Alle weinten und schluchzten schon. Darauf ergoß sich mit ergreifender Rührung gleichsam ein brennender Fluß: Laßt alle Könige, selbst den König Andreas, zu Hause sitzen – uns Kindern ist das Heilige Grab gegeben! Wir Kinder werden das Herz des Sultan Malek in Aleppo rühren, daß er ein Christ wird. Ihm wird ein Licht aufgehen, wenn Kinder schon so verwogen sind, so weit hinzuziehen in den Kampf, und ihn bitten, selig zu werden! Das wird ihn doch überwinden, wenn er noch so tapfer sich gegen Harnisch und Schwerter wehrt! Und uns Kindern ist der Entschluß so ganz nicht schwer, so ganz nicht kühn, der Sache ein Ende zu machen! Unter glänzendem Himmel werden wir hinwandern, in schönen Gärten unter milden Lüften, über blumigen Rasen. Goldene Früchte werden uns zu Seiten des Wegs hangen; Feigen, Weintrauben an Reben, gehangen von Pappel zu Pappel – wir werden Thränen Christi trinken! Ganz gewiß und ganz unmerklich werden wir jede Nacht eines Rosenblattes Dicke größer wachsen, und also dort groß und stark ankommen; keine Schuhsohle wird uns reißen, kein Aermel nur ein Loch bekommen, wie ihre Gewänder den Juden nicht in der Wüste, die 40 Jahre gehalten – und wie weit wären wir in 40 Jahren! Engel werden uns die Steine vom Wege lesen; das Meer wird zurückfliehen, wenn wir an seine Ufer treten, daß wir trocken hindurchgehen. Schwalben und wilde Gänse werden Befehl erhalten, uns am Himmel den Weg auf Erden zu zeigen. Und daß jedes Bedenken in euch erstickt, so wisset: Unser Heiliger Vater in Rom, Innocent. III. in Adhortat. der nie irrt, hat aus der Offenbarung offenbart und verkündet: Das Thier, der Mohammed, der Lügenprophet soll überhaupt nur 666 Jahre leben, und jetzt, heute sind die Hunderte davon, und von morgen an liegt er nur noch die ihm gezählten Tage im Sterben. Im Oratorio des kaum vergleichlich guten Kinderwohlthäters, Philippo Neri zu Rom, finden noch jetzt alle Advente Abends bei Licht rührende Predigten eines Kindes vor Kindern statt. Es kann nichts Holderes geben.

Jubelruf unterbrach sie, sodaß sie erst nach langer Zeit noch rufen konnte: Und die Kinder der Franzosen sind schon fort uns voraus nach Massilia und dort eingeschifft auf sieben großen Schiffen, und brauchen keinen Fuß zu setzen; – gewiß will man uns nur schrecken mit der Kunde: Zwei Schiffe, voll ihrer, sind untergegangen ... und alle die Dreißigtausend sind von einem Seelenverkäufer an die Sarazenen zu Sklaven verkauft! – Das, das glaubt nicht! Wie kann das der Herr, wie kann das ein Engel nur zulassen? Kommen sie uns braven deutschen Kindern nicht zuvor! Oder wäre ihr Tod und ihr Unglück wahr – dann, nicht desto besser, sondern desto höher unser Ruhm auf Erden und unser Lohn im Himmel! Und so sage ich und verkünde ich euch: Unsere Ausfahrt ist auf heute über acht Tage bestimmt von Nikolas, der seine Boten überall hin ausgesendet. Und ganz überflüssig für euch, setz' ich hinzu: Todsünde hat der Heilige Vater darauf gesetzt, wer nicht zur rechten Stunde seinen gelobten Zug antritt!

Und nach dem neuen Begeisterungssturme fing sie nun an in Aller Namen den Müttern und Vätern der Kinder zu danken; dann für sie und für sich zu beten; dann großen feierlichen Abschied zu nehmen auf kurze Lebenszeit oder auf seliges Wiedersehen und selige Ewigkeit im Himmel.

Das war über die Kräfte aller Kinder und Aeltern. Da wurden viel Tausend Thränen geweint; denn wer hatte zu irgendeiner Zeit je solches gehört und empfunden. Irmengard war ganz starr und steif geworden; sie sank dem Geistlichen in die Arme, und die Freunde führten gleichsam eine Selige in ihr Vaterhaus, während Raimund bei sich sprach: »Nun ziehe ich mit!« und Ramon beinahe sich schämte: »Wie schön ein Wahn sei, wenn er nur dauerte!« Aber es fiel ein Stern wunderschön vom Himmel. Und er war wieder ein Mann, ein Bewohner der unermeßlichen Hallen der Welt, worin die Erde nur ein Fünkchen ist.



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