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Zweites Capitel.
Die Frau Rath.


Darauf eingelassen, erkannte er sogleich den vorigen nun altgewordenen Hauswart und rief vor Freuden den Namen »Hagebald«, alter Hagebald! Er eilte die breite eichene Treppe hinauf, deren wie indeß noch glätter gewordenes Geländer die heiße Hand ihm kühlte, und ihn selbst durch und durch erquickte. Alte Treppe, seufzte er leise, was ist Alles seitdem über dich ergangen, seit ich vom Hochzeitstische meines Bruders hinweg in die Welt laufen mußte, weil er die schönste Jungfrau von Köln, die einzige Tochter des steinreichen Wollenwebers, die liebe Irmentrud, als Patricier den Andern allen ehrenrührig zur Edelfrau genommen, und ich wegen meiner losen Reden, als leidiger, kecker, vermutheter Bauchredner-Jüngling, schon vor das geistliche Gericht abgeholt werden sollte, als wäre ich schon eine Katharer-Brut, oder ein junger Petrobrusianer, die in der Stadt schon damals übermächtig zu werden drohten. Ich floh; aber gerade in die Heimat dieser freien rechtschaffenen Gemeinde. Ich ging natürlich ohne Frau und Kinder, und kehre unnatürlich von unsern Feinden beraubt, ohne Frau und Kinder wieder.

Er stand und weinte bitterlich; und der Hauswart, der ihn weinen sah, ließ ihn ungehindert hinaufgehen, indem er dachte: »Wer da weint, ist kein Feind«, und kam ihm nur nachgeschlichen. Er ließ sich von ihm für den Doctor ein Zimmer anweisen, worein dieser ging, und trat selbst in das ihm bekannte Wohnzimmer, in welchem ihm seine Schwägerin, die Frau Rath, entgegentrat und die Anrede erwartete. Denn sie war es, seit den 18 Jahren stark und völlig geworden in tausend Freuden- und Gnügetagen – aber jetzt wie durch eine Krankheit um das Feuer ihrer großen Augen gekommen, um die Röthe ihrer vollen Wangen; aber dafür mit Wehmuth in den Zügen, mit verweinten Augen und blassen zuckenden Lippen, wie eine Bestrafte oder ihre Strafe Erwartende.

Er streckte ihr die Hand entgegen und sprach nur seinen Taufnamen »Raimund« aus.

Da fiel sie ihm um den Hals und weinte, während er sie an die Brust drückte.

Nach langer Zeit sprach er erst: Mein Bruder lebt, hörte ich draußen soeben erst vor der Stadt; du trauerst nicht, liebe Irmentrud; deine beiden Töchter leben also auch, die ich noch nie gesehen – die zeige mir doch! Deine Aelteste, die nach unserer Großmutter Frederunegetaufte – sie muß schon 18 Jahre sein, und deine Jüngste, die Irmengard, wol auch schon 13! Aber vor allem: Wo ist mein Bruder? der gute Aldewin, oder »alter Wein« – wie ich ihn immer aus Neckerei nannte.

Er sitzt nur hier nebenan in seinem Zimmer. Schweres Leid ist über unser Haus gekommen! Er hat soeben den letzten Bescheid aus dem Rathe auf seine dringende Eingabe erhalten; das Urtheil erwägt er vor seiner Lampe am Tische sitzend. Ich brenne, ich vergehe danach vor Neugier, als Mutter! O daß wir – nicht etwa wieder glücklich werden, denn das ist uns auf Erden nicht mehr möglich; aber daß unsere gute Tochter Frederune nicht ganz in Verzweiflung vergeht, nur den Wunsch gilt es noch. Ich will die Thür ein Schlitzchen öffnen und sehen, ob er fertig gelesen? und ob er mir winkt?

Sie ging leis und kam leis, und bedeutete ihn mit der Hand zu Geduld. Aber du, lieber Schwager, sprach die Frau Rath, hast uns geschrieben, du würdest zu uns kommen und triffst auf den Tag ein – und auch deine angezeigten drei kleinen Fäßchen ... Rosinen – in jedem ein kleines Tönnchen Gold – sind schon zur See über Amsterdam richtig eingegangen und liegen dir drunten zum Schein nur wie ganz leicht bewahrt in den Kellern. Sei also um dein Vermögen nicht in den geringsten Sorgen, wie es scheint, weil du so nacheilst! Aber wo sind deine wahren größten lebendigen Schätze: dein Weib Gabriele und deine Kinder? Wir haben ihnen schon draußen in unserm Schlosse die schönsten Zimmer hergerichtet, und manches ihnen vielleicht erst recht Liebe ist noch unterwegs. Ich hoffe, sie sollen sich herzlich darüber freuen!

Sie! sich freuen? sprach Raimund halblaut zur Erde starrend. Sie, nie mehr! – Es ist jammervoll für einen Nachgebliebenen, wenn nach kurzer oder langer Zeit noch ein Brief an einen Todten kommt, der nicht mehr zu bestellen ist! ... wenn ein Armer, in Noth und Elend Begrabener noch, o nun erst eine große Erbschaft macht ... oder wenn ein selbst unterdessen gestorbener Doctor einem Sterbenskranken rasch, rasch ja die Nacht noch Hülfe bringen soll!

Wozu ist das die ahnungsschwere bestürzende Einleitung? frug die Frau Rath, indem sie auf ihn zutrat, und ihm die zitternde Hand auf die Schultern legte und liegen ließ.

Auf nichts, erwiderte er bitter und tonlos, als auf Das, was man den Tod nennt, oder das Schicksal, das nichts ist als böse, rasende, abergläubische Menschen, welche die Weltdinge in die grausame Hand nehmen – aus Furcht zu bleiben und zu bestehen, und nicht selbst von ihren Feinden in die Hand genommen zu werden! Ja, die Meinen sind todt, mein Weib auf eine Weise, die einem schamvollen Weibe die schmachvollste ist, weil sie die willenloseste ist für ein treues Herz; – und die Kinder mit Schwertern zu Tode gehauen in der Wiege, und das in der angezündeten, brennenden, erstürmten Stadt, die unsere Zuflucht sein sollte, und es gewesen wäre – ohne den Verrath und den Misbrauch, ein wüthendes Kreuzheer in der Heimat wüthen zu lassen!

O weh, weh! Armer Mann! rief sie und frug: und wie heißt die Stadt?

Sie hat geheißen »Beziers«. – Beziers! sprach er, stellte sich stammhaft und aufrecht fest, und fuhr in ruhig gelassenem, aber feierlichem Tone fort: Sieh, liebes Weib, wer einen Streit gewinnen will, wer einen Feind hat, der muß ihn kennen am besten durch und durch, und dazu muß er sich in ihn versetzen, und gleichsam aus seinem Herzen und Sinn herausfühlen, was er will und was er kann; er muß aus des Feindes Augen sich selbst betrachten; und wenn er eine Seele hat, so muß er billig und gerecht sein gegen den Feind, der sich selber nur der beste, zärtlichste Freund ist, und darum nur des Andern Feind, der zufällig oder unvermeidlich ihm in die Parade fällt ... in die Perücke ... oder in die Krone. Da ist nun ein bunter Schatten in Italien hereingeschwebt, aus dem Morgenlande, in die Stadt, die sonst – wie man das abscheulich kleinlich und albern nennt – »der Welt« gebot, die aber erbärmlich und abscheulich in tausenderlei Schutt zerfallen und nur ihre alten Knochen noch aus der Erde streckt. Ihre Macht aber scheint den Thoren nicht versunken, sondern aus dem Todtenreich, ja aus der Luft noch wieder auf- und herzustellen in die Luft. Und das ist, von einer Seite betrachtet, dem Volk und den nächsten Völkern umher recht heilsam, um die hier rohen, ja grausamen, dort losen, dort tyrannischen oder habsüchtigen zeitlichen Herren derselben doch einigermaßen durch allerhand Künste und Vorspiegelungen in Furcht zu halten, und sie doch an einen Schein des Rechts, des Verstandes und des Guten wie an eine unsichtbare Kette zu legen.

Da sieht nun der redlichste Dülpner ein, es braucht noch gar kein kluger Kölner zu sein: daß wir dem neuen Pontifex maximus – oder den größten Brückenbauer über die Zeit weg in den Himmel – ein Dorn im Auge sind, ein Wurm im Gehirn, ein Polyp am Herzen. Denn wenn jeder noch so lumpige Schacher und Schacherjude durch seine bloße Erscheinung in der Sonne der Nachwelt ihn und alle sein Reich geradezu vernichtet, alle Kirchen geradezu – ohne nur zu hauchen – in die Luft bläst, sodaß er ihr Todfeind sein muß – so mußte er es auch uns sein, um nicht etwa schon uns – sonst ganz unschuldigen Reinen, uns Katharer in Südfrankreich, Piemont und ganz Oberitalien – die wir jede Todesstrafe für ungöttlich und darum für höllisch und ganz abscheulich halten – für Menschen zu erklären. Und ohne Todesstrafe durch Feuer und Schwert ist er unrettbar verloren, da auch diese kaum mehr abschreckt, höchstens nur angestaunte neue Märtyrer macht in neuer Welt; und nur der Geistertod, die Geisterunwissenheit und Dummheit vermöchte noch einige Zeit hinzuhalten, bis das größte Wunder geschehen wird: »Die Sonne geht aus finsterer Mitternacht auf.« Und wo befinden sich, umringen ihn seine Feinde und schränken ihn ein? Etwa über der See? Nein, in Italien! Jenseit Roms, in Sicilien die Araber. Diesseit, die vielnamigen, aber Eines Herzens und Sinnes zusammen ein Volk ausmachenden Katharer, von denen Tausende schweigend und redlich selbst hier in unserm Köln ihre Zeit erwartend leben – und an denen ich selbst getreue, Alles aufopfernde Freunde habe, meine liebe Frau Rath. Da er dort am fürchterlichsten und entschiedensten hart in der Nähe bedrängt ist – denn der brennende Rock ist der wärmste – sodaß er zuletzt nur mit einem Sprunge in den Vesuv sein Leben rettet – oder aus dem Lande flieht, was ganz gewiß noch wird geschehen, wer es erlebt, da er die Sarazenen aus Morgen und die Mauren aus Abend zu fürchten hat, so hat er die Kreuzzüge unterbrochen, und einen Rettungskrieg vor den nahen Feinden für einen Kreuzzug erklärt – und Er mit Recht! Cardinäle haben diese mordbrennenden Kreuzträger geführt – darauf hat der Simon von Montfort die Stadt Beziers belagert, erobert und Alles über die Klinge springen lassen, selbst die alten Weiber, die auf keinem Bein mehr stehen konnten, und die Kinder, die es noch nicht können. Mich, mich hat nach der Vertheidigung bis auf den letzten Mann die bekreuzte Pilgerkutte eines erschlagenen Wüthrichs errettet. So sind die Schuldigen mit den Unschuldigen ohne Schonung hingerichtet, weil – wie der Legat Allen zum Trost und sich zur Entschuldigung gesagt: »Gott wird schon die Seinen kennen!« Das eroberte Land gehört nun seinem Eroberer, sammt den nun mit Schutt und Asche begrabenen Gebeinen meines Weibes, ach! meiner Gabriele und unserer kleinen Kinder.

Armer Mann! stöhnte die Frau Rath.

Ich floh, unermordet, sprach er fast lächelnd. Ich freue mich ernst; denn aus unbegreiflicher Kurzsichtigkeit schonte man die Auswanderer, die nun über die Grenze geworfenen Feuerbrände; die aber voll im Herzen zusammengeschossener Glut sich auswärts sammeln, vereinigen, stärken, um Vernunft und Muth in den Landen auszubreiten. Das tröstet mich hoch! Unmenschliche Thoren müssen sich selber alle zugrunde richten.

Wenn sie uns, uns hier im Hause, und rettungslos erst noch zugrunde gerichtet; klagte jetzt die Frau Rath, und rang die Hände. Mag dir mein Mann unser Geschick erzählen. Stumm duldet eine Mutter noch im zerrissenen Herzen ihr Leid; aber laut es sagen, gleichsam es gestehen, es beichten wie eine Anklage des Himmels, das, das kann ich nicht!

Sie ging wieder die Thür leis öffnen. Sie sah lang erstarrt hinein, dann winkte sie blaß wie der Tod den Bruder herbei; doch ehe er kam, stürzte sie schreiend zu ihrem Manne und rief: Er ist todt! Er stirbt!

Er eilte hinein. Die Lampe brannte hell auf dem mit einem niederländischen Teppich bedeckten Tische. »Der Mann und Bruder und Vater« saß daran auf seinem geschnitzten Großvaterstuhle und hielt mit seinen beiden ausgestreckten Händen steif und starr ein offenes Pergament. Sein Bruder Raimund, der nur kaum eine einzige Viertelstunde zu spät aus der Fremde zurückgekehrt war, um ihn wiederzusehen, rang die Hände über sein Haupt. Denn sein Gesicht bedeckte schon Todesblässe; er fing sich schon an zu strecken, daß der Tisch knisterte und der alte Stuhl sich rückte und lebendig zu werden schien; ein Zittern durchrieselte ihn, daß das Pergament in seinen Händen bebte. Er hatte die starren Augen noch groß und weit offen, und sie glänzten weiß und schauerlich. Sie wollten ihm eben brechen, als er des Bruders ihn anrufende, ja anschreiende Summe doch noch zu vernehmen schien, das Haupt noch zu ihm wenden zu wollen rang, aber kaum regte, ihn anstarrte, ihn anlächeln wollte, aber starb. Die Augen brachen ihm; der Tisch und der Stuhl knistern jetzt zum Fürchten geisterhaft; geisterhaft erhob sich seine Gestalt, von seinem letzten Willen geheimnißvoll mächtig, aber ohnmächtig emporgerissen, um ihn zu umarmen. So mit ausgebreiteten Armen brach er zusammen und war, was die Leute so nennen, ein Seliger.

Der Bruder sprang hinaus und fort nach dem neuen Freunde, dem Doctor, nach Hülfe, wenn man den Todten noch helfen kann.

Sein Weib hielt ihn treu und thränenlos in den Armen, ihre Stirn an seine Stirn gelegt, und empfand sich nicht, und die Welt nicht, nur ein namenloses Weh.

Der Arzt kam, den sie nie gesehen, und der weltfremde, ernste, gelassene Mann war ihr der ersehnteste, theuerste Freund. Er prüfte den Todten und den Tod. Doch als er zuletzt mit Achselzucken mit der rechten Hand, wie höflich, nach unten zu wies, wie um ihn der Erde zu befehlen, da sprach sie leise: Er ist an Verzweiflung über die Menschen gestorben. Ach, unsere bittersten Feinde wohnen uns am nächsten! Was thut uns der Mann im Monde? der gute Kerl!

Der Bruder drückte ihm sanft die Augen zu, dann band sie ihm schonend den Mund zu, daß er mit offenem Munde im Sarge nicht noch über die Welt schreien zu wollen scheine.

Die Todten haben vieles zu vergeben, ja Alles, sich sich selbst, das Leben und die Welt, die ganze lange, lange Welt; sprach der weinende Bruder. Denn was man auch dagegen zu sagen sich unterstehen möchte: wäre die Welt nicht, dann wäre auch nie nur ein böser Mensch gewesen und noch, oder würde je sein – nie wäre eine Thräne geflossen! nie würde in Ewigkeit ein Tropfen Blut fließen. Eine schöne Sache! – aber doch eine namenlos-tolle. Drum wollen wir doch lieber vernünftig bleiben – oder ganz es werden, und Allen dazu rathen, Hohen und Niedern!

Sie ließen den Todten sitzen und ihn gleichsam zuhören, da er über alle Welt erhaben war; sie setzten erschöpft sich an die andere, die leere Seite des Tisches, und das nunmehrige Haupt der Familie ergriff getrost das gefährliche Blatt, und mit dem derben Vorsatze: kein Narr der Welt oder irgend Jemandes darin zu sein, überflog er es erst mit feindlichen abstoßenden Blicken, um ihm seine ansteckende oder betäubende Kraft zu benehmen, und las dann, erst leis und sätzeweise, dann immer lauter und verbitterter – der neuen Witwe und dem feuerfesten neuen Freunde die Antwort der Behörde auf des Gestorbenen Eingabe.

Sie hatten aber eine stille Zuhörerin bekommen, die in das Haus gehörte. Denn die jüngste Tochter des gestorbenen Vaters, welche ohne Einwilligung der Aeltern das Kreuz genommen, die dreizehnjährige Irmengard, war mit ihrer Kammerjungfer Gaiette – einem französischen tüchtigen Mädchen, das hier im deutschen Lande Frohgemuth oder Frohmuthe hieß – von der großen Procession der jungen Kreuzfahrer oder Kreuzfahrtjungen und Mädchen, die sie auf den Feldern vor der Stadt gehalten hatten, jetzt Abends nach Hause zurückgekehrt und in ihrem langen Pilgerkleide, ihrer Sklawine, durch das dunkle Zimmer der Mutter in des Vaters Zimmer getreten und auf dem weichen Teppich hingeschlichen sich auf einen bequemen Lehnstuhl gesetzt, die Hände zum Beten gefaltet. Aber die Neugier: wer die fremden Männer seien, war stärker als Alles, und vom Vater hatte sie den falschen Glauben, er sitze nur so mit verbundenem Munde da, weil er Zahnschmerzen habe.

Sie hielt ihren breitrandigen Pilgerhut auf dem Schoose, und noch erhitzt im Gesicht von dem Uebungszuge, dem Singen und dem Weinen mit der zahllosen Heerde von Knaben und Mädchen ermüdet, saß sie in ihren Locken, zum Verwundern zugleich und zum Kopfschütteln sonderbar und doch hübsch, wie eine aufbrechende Blume des Himmels in Menschengestalt mit Armen und Beinen und Nase und Augen und Ohren auf Erden, wie eine Novize der Heiligkeit da, der die Locken noch nicht abgeschnitten sind und deren Lippen noch Keinem einen Kuß gegeben haben, aber dem Kusse entgegen brennen mit aller Menschen- und Mädchenglut.

Und so hörte die junge Irmengard, was ihr noch nie gesehener Oheim Raimund mit erschütterter Seele erst selbst erfuhr, indem er las, und zögernd Das aussprach, was überhaupt erst dadurch wahr zu werden schien, daß er es aussprach:

– »Bescheid des Rathes der Hohen Zehner hiesiger freien Reichs- und Hansestadt, etc.

– »Leider und abermals leider ist das Unglück, wie der leidige Satanas, eine so freche Person, die sich erdreistet, mir nichts dir nichts höchsten und hohen Personen wie Allergemeinsten und Aermsten an ihr Habe und Gut, ja an ihr Herz zu greifen und unser pflichtmäßigstes Bedauern, daß das in unsern Zeiten allerschmählichst und redlich geschmähte Unglück auch Euch, Ihr biederer Herr Rath und unser ehrbarstes Mitglied selbst, in Eurer Tochter das Herz uns gebrochen und im Leibe zerrissen, ja zermalmet hat. Weswegen wir Euch gebührendermaßen bedauern, da wir Euch nicht helfen können, ja nicht wollen, weil wir nicht wollen dürfen; ausgenommen wir leugneten die Schöpfung der Welt, Sündenfall und Erlösung, und hätten wenig, ja keine Furcht vor einem Weltgericht, das Gott uns Allen gnädig gebe! Amen.

»Weswegen wir Euch denn unsere gerechte Freude bezeigen und Euch hochbeloben, daß Ihr in Eurer – hoffentlich letzten Eingabe bescheidentlichst gar nicht mehr »um das Leben« Eurer verlorenen, ja schon vorläufig verfluchten Tochter Frederune bittet, sondern blos, zugleich als menschlich oder teuflisch nicht ganz zu leugnender Großvater von mütterlicher Seite, nun ihren leider nicht ganz zu leugnenden Mutterwunsch gottergebenst uns vor Ohren bringt, daß an dem zu Gottes Ehre angesetzten heiligen Tage der Hurd: ihr armes Würmlein, ein Knäblein oder ein Fräulein, oder so Gott so gewollt: gar Zwillinge noch im Mutterleibe noch und schon mit verbrennen müssen, ohne noch schreien zu können; ihr aber zur unnatürlichsten oder natürlichsten Qual, ja Verzweiflung, indeß wir zu unserm Heil nichts mit der Natur zu thun noch zu schaffen haben, also nicht zugeben können noch wollen, weil wir, wie besagt, nicht wollen dürfen, auch wenn wir wollten, und unsere Weiber daheim uns mit Thränen gefleht, ja bedroht haben aus weiblicher Schwachheit; weil ja Eure Tochter alsdann sogleich auf der Stelle verbrannt sein wolle mit ihrem Galan, wenn und sobald sie nur das Kind geboren, gesehen, zum Himmel gehoben und redlich, ja über die Maßen beweint; ja auch stillschweigend erdulden wolle und müsse, daß es nach seiner Geburt auf den Armen seines Vaters im Rauch ersticke und die kleinen Gebeine des armen Würmleins, des armen Ururenkels der naschhaften Eva mit zu Asche verbrannt werde, weil ihm die böse sündige Welt seinen Tod sogleich zugleich an den Anfang seines Lebelchens gesetzet.

»Diese entsetzliche Bitte ist aber die allerungewährbarste und wird der Mutter hierdurch ehrenfest abgeschlagen, welches Ihr derselben in Person zu verkünden und zu ihr in Kerker zu gehen, hierdurch Vergunst haben sollt, um sie von der Sündhaftigkeit solcher Bitte zu überführen und wo möglich ihre Seele zu retten, wenn der Glaube die alberne Natur von ihr austreibt. Darum überwindet Euch zu dem Gange eines rechtschaffenen Vaters und halb nicht zu leugnenden Großvaters und Rathes!

»Denn wäre das Kind nicht eines, wenn auch noch so schönen, reichen und ehrlichen, wenn man so zu sagen sich herausnehmen dürfte: – aber doch Juden Kind, so hätte das Mal nichts mehr, als tausend andere Mal zu bedeuten: es wäre ein richtig eingeschriebener Himmelsbürger oder Bürgerin, und sie nur eine voreilige Mutter, die gegen Buße und Reue noch ein »vergebenes« Weib sein könnte. Aber ein Judenkind von einer Christin ist die allergrößeste Blasphemie, eine geistige Unnatur, ein Kobold der Hölle, ein ver- und behextes Meisterstücklein des Teufels, ein sichtbarer Misbrauch der Kräfte Gottes mit Händen und Beinen, wogegen sogar ein pures Judenkind noch ein pures Engelein ist, verzeih' uns die heilige Mutter Gottes!

»Drum muß diese Misgeburt mit verbrennen, und muß ihr im Leibe noch lebendig mit verbrennen, damit Natur und Mutterherz durch unbeschreibliche Angst sie zur Erkenntniß ihrer unverzeihlichen Sünde zur gnadenerwerbendsten Reue bringt, und aus den Flammen sie rein in den Himmel eingeht – wenn noch!

»Wir haben zwar hier wie in allen Städten am Rhein seit schon lange niemals ermangeln lassen, Hurde zu feiern, zu unserer Bezeigung; wie die vielen alten schwarzen Kohlen auf unserer Schädelstätte beweisen; aber in diesen neuesten und letzten Zeiten bedarf die Religion, wie eigentlich immer, einer tief und sichtbar eindringenden Erfrischung! Denn was die Augen sehen, das glaubt das Herz. Und so bleibt die Hurd festgestellt auf den Tag vor Carneval, zur Erfrischung der Seelen; und erfrischet auch Ihr Euch daran, wie wir Alle.

»Gegeben den 10. Hornung im Jahr seit Erschaffung der Welt im 5,161sten, oder nach der neu eingeführten Jahreszahl seit Geburt unsers Herrn im Jahre 1212.«

Wie die Mutter so über den Tisch gebeugt lag mit dem Gesicht auf den Armen, ohne vor Schrecken und Jammer nur eine Thräne vergießen zu können – wie Raimund, der Bruder des Todten – wenn ein Todter noch Bruder, Schwester, Vater und Mutter und Kinder hat und gehabt hat und noch haben kann anders als dereinst einmal vorher im wachen Leben gehabte Träume – als der Todte mit blassem Gesicht und vor der erbärmlichen Welt geschlossenen Augen starr dasaß – und indem der jüdische Arzt halb ingrimmig, halb lachend über die kindische Erde erhoben, durchdringend sann: wie da noch zu helfen sei, ja selbst durch die äußersten Mittel; indeß hatte sich die junge Tochter Irmengard, die sich zum Kreuzzuge der Kinder geweiht, erhoben, war wie eine junge Dämonin – um für die besondere Sache ein besonderes Wort zu gebrauchen – bis an den Tisch getreten, legte jetzt ihre Hand auf den Kopf ihrer Mutter und sprach erzürnt: Also Mutter, du hast mich belogen! Meine Schwester ist nicht nach Aachen gereist, sondern sitzt – und weswegen! – im Kerker der schwersten Todsünde schuldig, und unrettbar ... das freut mich im erleichterten Herzen – denn sie ist meine Schwester nicht. Denn: wer ist meine Schwester? Und du bist meine Mutter nicht, wenn du eine Thräne über sie weinst! Denn: wer ist meine Mutter? Und der Mann da, der seine solche schuldige Tochter der so gnadenvollen seelenheilsorgenden, ja doch blos zeitlichen Strafe der heiligen Kirche entziehen will, also die Schuld und die Strafe, sich empörend, nicht anerkennt, der ist mein Vater nicht! Denn: wer ist mein Vater? Was ist er?

Er ist todt, ein heiliger Todter! ein Vater! ihm thut kein Zahn mehr weh! riefen Alle voll Grausen zugleich sie an.

Die begeisterte Irmengard schwieg plötzlich, schien gerührt zu werden, da sie den guten Mann anstarrte, und dennoch aus innerm grauenvollen Trotz ihr Wort wiederholen zu wollen die Lippen öffnete, indem sie die Hand mit der Geberde des Abscheus gegen den Todten ausstreckte.

Alle sprangen auf. Raimund faßte sie mit beiden Händen in den Haaren, hielt sie starr fest, die ihn ruhig und lächelnd ansah, als er nach treffenden Worten im Geiste suchte und endlich nur hervorstürmen konnte: Du vertauschtes Teufelskind! Du auch kein Kind! keine Tochter! Du Molch aus der Hölle! Drauf riß er sie an den Haaren nieder auf die Knie vor die Mutter, und dann auf die Knie vor dem todten Vater, dessen kalte Hand er ihr auf das Haupt legte, zum Zeichen: er habe ihr vergeben. Dann riß er sie fort und stieß sie hinaus, und schloß die Thür hinter ihr zu. Aber sie donnerte mit den Fäusten daran, daß Allen der Athem verging, sie stumm sich ansahen, dann schamvoll über sie zur Erde und falteten die Hände.

Da trat Raimund an die Thür und rief ihr zu: O du rasendes armes Kind; o wisse: Niemand lebt, der nicht in jede Schuld verfallen kann ... hüte du dich nur, daß dich nicht ein Anderer verführt, – ja daß du dann dein Kind nicht ermordest aus verzweifelnder Ehre: unschuldig zu scheinen! Du alberne junge, noch pipende Gans, du weißt es nicht: wer etwas verwünscht, der steht dem Verwünschten näher als Alle, die es gelassen empfinden. Haß und Verwünschung richten nichts aus, als sich selbst nur zugrunde. Doch was weißt du armes verdreht gemachtes Schaf, und sehr richtig und tüchtig verdreht, das muß man mit Thränen in Augen gestehen! – Doch dies mein Wort das soll dir keine Prophezeiung sein, nur eine Bitte um Schwester- und Mutterliebe.

Der jüdische Doctor aber sprach: Da ist doch Moses ein anderer Mann; und sein Gebot: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter lieben und ehren«, ist das erste und letzte allen natürlichen Menschen, und wird die Welt ausdauern selber bei wilden Thieren, Bären und Löwen, und Kühen und Kälbern. – Und wenn, was Gott verhüten möge und zu verhüten versprochen hat, daß die Welt noch einmal losginge, so würde das Gebot als das Erste aus der Erde wieder aufwachsen in Schlangen und Geier und Alles was kreucht und fleugt. – Ihr armen Leute! Der Lichtwerth unserer Erde ist noch wenig werth; sag' ich dazu als Astrolog.

Die Mutter aber ging zu ihrem gestorbenen Manne, beklopfte ihm Haupt und Schulter mit der Hand, küßte ihm die Stirn und sprach dann: Wie gut haben es doch die Todten! Hier den Vater rührt solch Grauses nicht einmal zu einem Seufzer! Und über den ich nicht Thränen fand, den muß ich schon segnen – den Todten! Und wie viel wird er noch verschlafen! O, es ist auch ein Großes todt zu sein und sich nicht zu empfinden oder die Welt; denn fühlten wir Menschen die Welt noch, wären wir da selig? O Zeit, zu welchen bittern Qualen und unnöthigen Worten zwingt uns das liebe leidige Leben. Wann habe ich glückliches, ruhiges, einfaches, ja albernes Weib, wie mein weiser Mann und Rath mich oft nannte, je solche Dinge überhaupt oder nur für Andere erträumt, die ich erlebt und noch erst recht erleben soll! O meine arme Frederune! und gar erst meine arme Irmengard! ... Mir hat einmal ein unglücklicher alter Mann gesagt, den ich trösten und beschenken wollte: »Mein gutes Kind, sagte er, da sagen sie, ohne daß es Einer gesehen hat: Gott hat die Welt geschaffen – glaube es, wer es will und kann, ich weiß und sage: Gott hat die Welt geweint! und die Sterne sind die schimmernden Thränen aus seinen Augen, und so unzählige – er muß lange und viel geweint haben, oder er weint noch schweigend immer fort.« Den Mann versteh' ich erst heut, und glaub' ihm noch morgen.

Die Mutter war darauf ihrer Tochter, die darum immer ihr Kind noch war, weinend nachgegangen. Die Tochter war ihr zu Füßen gefallen, und hatte ihr geschworen, sie werde im Heiligen Grabe zu Jerusalem für den armen Vater beten! Und die Mutter hatte das angenommen, um sie zu schonen; denn sie fühlte ihr an, daß sie krank war, sehr krank im Kopf und darum auch im Herzen, und beruhigte sie in der Hoffnung, daß sie, als ihr letztes Kind, sie nun doch nicht verlassen und hingehen wollen werde – wo sie nicht hinkommen, nur umkommen werde.

Aber Irmengard frug sie dagegen nur: Kann ich und du nun in der Schande mit Ehren hier bleiben? Komme du selber auch mit! Denn wie viele arme Weiber haben auch das Kreuz genommen! Und selber alte, die sich getrauen doch mit uns Kindern fortzuwatscheln und zu humpeln. – Und die Mutter schwieg. Aber sie bestellte durch den Hauswart die Brüderschaft, die das Begräbniß besorgen, aber sogleich den Sarg herbringen sollte, um den Todten, den das Volk aus Mitgefühl für einen Selbstmörder halten könnte, wenn auch gerade für einen redlichen Vater – die Nacht noch hinaus auf ihr Schloß nach der Lindenburg zu tragen oder zu fahren; sie werde ihn begleiten. Irmengard komme mit. Von dort aus wollten sie ihn still in ihre Familiengruft nach Melaten begraben.



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