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Zwölftes Capitel.
Zweiter Bericht aus Speier.


Ich weiß also alles Nöthige, und freue mich. Haltet den Narren nur warm, diesen in aller Stille mächtigen Herrn, der tausend Gutes durch Späße wirkt und es zu thun keinen Finger zu netzen braucht. Das ist die Geistermacht – und auch der Geist steckt an, fange ich an zu glauben, nicht blos das Herz. Es freut mich für dich, mein Ramon, daß du auch dem alten braven Herrn das Licht seines Leibes erhalten kannst und wirst. Können ist eine schöne Sache, ein Absenker der Allmacht, und Wissen ist sein Vater. Hier sind so viel Grabmäler von gestorbenen Kaisern, daß Einem ordentlich frei und hoffnungsreich und groß zu Muthe wird. Doch das beiseite.

Unsere Heeresmacht, die beim Auszug, ohne die geistlichen Herren, nur etwa 7000 Mädchen und Knaben betrug, hat sich bisjetzt durch Aufnahme und Mitnahme von andern auf unserm Wege und durch Zuzüge aus dem breiten Flußgebiete bis über die Hälfte vermehrt, und durch weitere Verstärkung werden wir mit 20,000 jungen Kreuzzüglern die Alpen übersteigen, wobei die Kinder durchaus darauf bestehen, den Pilatusberg zu betreten oder aus der Ferne zu beaugen. Sie werden dann – denn wahrscheinlich werde ich wegen meines Seiten- und doch Hauptgeschäfts nicht mit dabei sein – ihren Weg von Basel über Zürich, den St.-Gotthard, Bellenz, Mailand und Pavia nach Genua nehmen. Aber welchen Weg! Einen Heuschreckenweg! Denn ich will Euch zum Andenken nur Einen Tag beschreiben.

Früh knien Alle nieder und beten, das Gesicht nach Morgen gewandt. Dann gibt jeder Hauswirth einer zu Nacht bei ihm eingefallenen Kinderschar aus allen seinen Leibeskräften ein Frühstück, und sie packen sich die Pilgertaschen noch voll. Alles was Beine hat, begleitet dann mit der singenden Geistlichkeit den Zug zum Dorfe oder der Stadt hinaus, und, von Boten geführt, vereinigen sie sich vorwärts und den Ortschaften zur Seite auf der angenommenen Hauptstraße. Für unterwegs haben wir Reisegebete, wie die Geistlichen welche haben, nur den Umständen angepaßt, weggelassen oder zugesetzt von dem wirklich bewundernswerthen klugen, wie allwissenden Nikolas. Kreuze am Wege, Kirchen, Kapellen in der Ferne werden mitgenommen – das heißt begrüßt mit Kniefall. Bienenkörbe auszunaschen ist verboten, weil es Vielen sehr schlecht bekommen. Ein sonniger Wald voll rother Erdbeeren ist eine köstliche Labung, auch eine Ruhezeit. Aus den Orten kommen uns Processionen entgegen und wir singen uns einander an; da wird auch wol wieder Eins geweint. In den Orten, wo uns Nikolas weislich voraus ankündigen lassen, werden wir zum Mittagsessen eingeladen und von Weibern und Kindern in die Häuser geführt, wo bald Alles von den Tischen verschwindet; denn die armen Hungrigen essen (mit einem »fr« davor) wie Heuschrecken, nur wie riesenhafte zweibeinige. Darauf wird gedankt im Namen des Herrn. Darauf wird gewaschen und satt getrunken, und der Stab weitergesetzt unter Kinderbegleitung, von denen die größern uns den Weg weisen auf die Seitenwege, da wir dann in der Breite marschiren, und weil ein Strich Dörfer auf einer Straße uns nicht ernähren und Nachts beherbergen könnte. Die meisten gehen barfuß und lernen es recht gut. Viele haben sich einander die Haare vom Kopf geschoren, um gewisse Kümmernisse loszuwerden, und lagen wie Lämmchen den Andern im Schoose. Das war eine große Wollschur der armen geduldigen Schafköpfchen. Fromme alte Weiber nahmen sich ganze Schürzen voll mit nach Hause zu ewigem Andenken. Die Kinder können unmöglich immer weinen und beten und singen – das verzieht sich so vor den tausend kleinen Wandersorgen. Denn in der Nachmittagszeit laufen die Knaben wol nach Eichhörnchen, kriechen nach Vogelnestern, und die Mädchen, schon große Trullen dabei, spielen Ball mit den Knaben und necken und werfen sie – aus lieber Natur! Oder sie spielen Leinwand, und die Katze, die Wächterin, miaut erbärmlich, wenn dem Herrn wieder eine Elle Leinwand vom Diebe gestohlen ist. Aber plötzlich stehen sie, wie heim auf ihre Spielplätze gezaubert, und fangen an bitterlich zu weinen. In der Abendstunde baden Knaben und Mädchen, weit genug durch Gebüsche voneinander geschieden, in den Bächen, und krebsen wol auch darin. Indeß sitzen Andere und flicken sich ihre Sachen. Oder die mitgekommenen Weiber und Weibspersonen waschen an den Ruhetagen ihre Lümpchen und Läppchen und Tüchel, und flicken die zerlaufenen Strümpfe, oder machen aus den nicht mehr fadenhaltigen Bälle, – und die kleinen erschöpften Wandersleutchen pflegen sich und werden gepflegt. Die schlimmste Krankheit ist das Heimweh, wobei die Kleinen untröstlich weinen und immer rufen: »Ich will heim! ... Ich will heimgehen ... Ich will zu meiner Mutter!« ... oder Andere, schon etwas von kindischer Vernunft wie Angebrannte, klagen: »Ach, wäre ich doch zu Hause geblieben! Wie gern wollt' ich folgen! Wie wird meine Mutter weinen!«

Und was würden die Mütter, die Väter und Geschwister sagen, wenn sie das sähen! – Und ich sehe es gleichsam für Alle, und fühle es für Alle, denn ein Mensch fühlt wie Tausende, und keiner mehr noch anders. Solche Kleine behalten gütige Mütter bei sich und versprechen ihnen, sie nach Hause führen zu lassen, oder auf Kähnen, auf Frachtwagen mit. Da lachen sie himmelsfroh! Andere sind wirklich krank und werden untergebracht in Klöstern oder Hospitien von Begharden oder Beguinen – wo welche sind! Sie sollen mit den andern Reconvalescenten und mit den Lahmen nachhumpeln und nachhinken! Die Kreuzknaben sind von Allen geehrt. Füllen sie Sonntags die Kirche, dann müssen sie sich setzen und die Gemeinde steht. Die darin zu Hause bewanderten Knaben dürfen als Chorknaben ministriren, und die Einheimischen ziehen ihnen ihre Amtskleider sie bewundernd an; ja, die Kinder der Einwohner lassen ihnen den Vorrang, auf den Thürmen die Glocken zu läuten, und freuen sich, daß sie an den Stricken und Strängen sich gerade wie sie selbst von der zuletzt ausschwingenden Glocke mit dem Kopfe bis an die Decke hinaufreißen lassen – was uns einen Todten gekostet, mit dem alle Einwohner zu Grabe gingen. Unser Nikolas, jetzt mit dem Anstande eines vornehmen Edelknaben oder Grafensohns, läßt manchmal seine Irmengard fahren, und wenn er sie zu Hause als Hirtenknabe kaum Sonntags von Ferne sehen und grüßen durfte, so hat er sie hier draußen in Gottes freier Welt, unter Blütenbäumen sitzend, oder an Quellen im Walde, und sie macht einen Kranz, den er zuletzt immer bekommt, aber ihr hold auf das geneigte Köpfchen setzt. Seit unsere Irmengard als Engel gepredigt, hat sie mich durch Schönheit und Begeisterung zu sich bekehrt. Natürlich ohne Eifersucht, fühle ich Neid gegen ihren Seelenbeherrscher. Fast kann auch kein Mädchen meinem verlorenen jungen schönen Weibe, meiner Gabriele, in ihren Mädchenjahren, wo ich sie lieb gewann, ähnlicher sehen, als Irmengard. Und daß sie in seinem Wagen fährt, den immer sich abwechselnde, sehr rüstige Knaben mit Herzenslust ziehen, daß die Räder bald zerbrechen, hat auch irdische Ursachen: denn in der wie heiligen Karrete ist immer ein wohlschmeckender Vorrath an Trank und Speise – Schinken, Rheinlachs, allerhand Klostergebäck und Flaschen vortrefflichen Rhein- und Neckarweins, die ihm die Frommen verehrt, und den er ihr kredenzt aus dem einzigen Glase des ganzen Heerzugs.

Der langbeinige Wegweiser ist also geheilt – denn er ist nicht nachgekommen; auch nicht die Kinder aus der Lindenburg. Aber andere in der Stadt, die von den Aeltern in Keller und Kammern schon vor dem Auszug eingesperrt gewesen, aber von dem Lauten und Rufen und alle der, als Geräusch nur vernommenen Begeisterung des Auszugs so ergriffen – sind so hinterlistig gewesen, erst einige Tage nachher, nicht mehr bewacht, theils zu Fuß zu entlaufen, theils in Schiffchen, Rhein zu Berg, uns nachzufahren. Da war Freude!



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