Heinrich Schaumberger
Zu spät
Heinrich Schaumberger

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Daheim

An einem sonnigen, wonnigen Sonntagnachmittag im Mai kam ein einsamer Wanderer die Schottendorfer Straße den Werthagrund herab. Die Gäste im Sülzdorfer Wirtshaus blickten neugierig dem stattlichen Fremden nach und verwunderten sich, wie vertraut er dem Wirt zugenickt hatte – kannte er ihn vielleicht? Während aber die Gäste gleichmütig zu ihren Karten zurückkehrten und den Wanderer bald vergessen hatten, schritt dieser wie im Traum an den letzten einsamen Häusern vorbei. Aus dem einen guckte der uralte Schneidershannikel noch gerade so lustig auf die Straße wie ehemals, nur älter war er geworden und sein Haar ganz weiß. Und dort vor dem äußersten Häuschen, unter dem weißblühenden Pflaumenbaum neben der Haustür, saß auch noch der breitgeschulterte, muskelkräftige Hammerschmied aus dem nahen Eisenwerk; faul hatte er die mächtigen Arme auf die Knie gestützt, und während ein Häuflein Kinder auf ihm herumkletterte, rauchte er gleichmütig sein Pfeifchen. Fritz mußte sich abwenden und die Augen wischen; waren die trüben, traurigen Jahre, die er in der Fremde verlebt, nur ein Traum gewesen? – Ach nein, wie hätte ihn sonst die Heimatluft so durchschauern können, wie die Heimaterde so mächtig erschüttern, als müsse er niederknien und sie küssen? 307 – – Und doch, – da lag auf der Straße noch derselbe rötlichgraue Staub, den er so oft geatmet, und am Rain standen die alten Apfelbäume noch gerade so verwahrlost, verwildert, vom Wind zerzaust und verbogen, von Wagen und Menschen geschunden und gequetscht wie immer. Da war noch die Narbe am Stamm, die sein eigener Wagen gerissen, und dort schwankte noch der Ast über den Weg herein, der ihm öfter denn einmal im schärfsten Fahren die Mütze vom Kopfe gestoßen. Hatte die Zeit hier still gestanden während seines Fernseins?

Jetzt tauchte vor ihm das gebrochene, geschwärzte Dach des Eisenhammers aus den Erlen des Mühlgrabens auf, dahinter dehnten sich die Wiesen bis zur Wertha, die in vielfachen Windungen die jenseitigen, schon zur Bergheimer Flur gehörigen Hügel bespülte. Hinter dem bewaldeten Ufergelände stieg die Bergheimer Feldflur erst sanft bis zum Königsbühel, dahinter steiler zum Steinschrot und Kulm empor. Vom Kulm rauschten die Tannen nieder, vom Steinschrot blinkten die jungen, glänzenden Blättchen der Birken wie grüne Lichttropfen herab. Und lichtgrün schimmerten die Saaten, die Hänge und Raine; helle Wasser hüpften und rauschten zwischen Erlen und Haselgesträuch zu Tal, und die Obstbäume, die besonders am Hang des Steinschrotes kleine Wäldchen bildeten, die Hecken von Schlehdorn – sie hatten sich in duftigen Blütenflaum gehüllt und glichen kleinen schneeigen Federwölkchen! – Ja, das war die Heimat! – War es denn möglich, daß er so lange in der Fremde hatte aushalten, vor Sehnsucht hatte bleiben können?

Auf der Höhe des Parnikelsschrotes, dicht über der Wertha, unter der uralten Ruheiche, von wo sich der 308 herrliche Blick talauf und talab öffnet, hatte sich eine Gesellschaft Burschen und Mädchen zusammengefunden, und hell klang ihr Gesang über das Tal:

»Ach, du klarblauer Himmel, und wie schön bist du heut'!
Möcht' ans Herz gleich dich drücken vor Jubel und Freud',
Aber 's geht doch nicht an, denn du bist mir zuweit,
Und mit all meiner Freud', was fang' ich doch an?

Ach, du lichtgrüne Welt, und wie strahlst du vor Lust!
Und ich möcht' mich gleich werfen dir voll Lieb' an die Brust.
Aber 's geht doch nicht an, und das ist ja mein Leid,
Und mit all meiner Freud', was fang' ich doch an?

Und da seh' ich mein Lieb unterm Lindenbaum stehn,
War so klar wie der Himmel, wie die Erde so schön!
Und wir küßten uns beid', und wir sangen vor Lust,
Und da hab' ich gewußt, wohin mit der Freud'!«

Fritz stand an seinen Stock gelehnt und lauschte, – und in seinem Herzen quoll es auf, und mit der Hand strich er über die Augen. War er verzaubert? Neckte ihn ein Traum? – War er noch der glückliche, lebensfrohe, hoffnungsreiche Türkenfritz? – – Ach nein, das waren nicht seine Kameraden, die das Lied sangen; das Bärble und das Dorle, der Bernhard, der Jakob – der Wagnershannikel waren nicht mehr darunter, das war ein jüngeres Geschlecht, das ihn nicht kannte! Vorbei, – vorbei für immer sind die schönen Zeiten, da auch er»nicht wußte, wohin mit der Freud'!« – da er »sein Lieb sah unterm Lindenbaum stehn, wie der Himmel so klar, wie die Erde so schön!« Fritz wischte sich die Augen. Vorbei, 309 vorbei! – Mit stiller Wehmut ward er inne, wie die Welt ewig jung, schön und reich bleibt, nur der Mensch altert, verarmt und wird einsam. Auch er war gealtert: wie jener Mensch im Märchen hatte er seine Jugend verträumt, verloren; jetzt, da er erwachte, war er ein alter, verlassener Mann. Eine neue Zeit war gekommen, die er nicht kannte, nicht verstand – nein, so schlimm war es doch nicht! Er war ein Mann, konnte wirken, schaffen, Gutes tun – das ist ja zuletzt das einzige, was dem Menschen bleibt. Freilich sein Herz blieb geteilt; die Heimat hatte er gefunden, aber die Menschen, die er liebte, die waren weit, weit weg!« – »Ausgehalten!« sagte er leise. »Nicht klagen und jammern darf ich, dankbar muß ich sein, daß ich noch schaffen kann und in der Heimat jedem aufrichtig in die Augen sehen darf!«

Kurz unterhalb des Eisenhammers verließ er die Landstraße und folgte dem schmalen Windsberger Kirchsteig, der quer über die Wiesen führte. Auf einem Steg überschritt er die murmelnde Wertha, am Rand des Parnikelsschrotes stieg er die steile Uferhöhe hinan. In der Mitte des Hangs senkte ein gewaltiger Kirschbaum seine Blütenzweige über den Weg. Fritz blieb atmend stehen und brach ein Reis, der Baum gehörte zum Türkenhof, er stand auf eigenem Grund und Boden! – – Langsam wandelte er über seinen Acker, nun noch über einen Rain – vor ihm, im Schoße der Berge, von einem Kranz weißblühender Obstbäume fast versteckt, lag Bergheim. Stattlich erhob sich der Quaderbau der Kirche über die tieferliegenden Häuser, und jetzt ward ihm auch ein äußeres Zeichen, daß die Zeit doch nicht ganz spurlos an dem Dorf vorübergegangen war: statt des traurigen Notdaches, das früher 310 den altersgrauen Kirchturm verunstaltete, stieg jetzt eine schlanke Spitze leicht empor, gekrönt von blitzendem Knopf und leuchtender Wetterfahne. Über eine fruchtbare Ebene zwischen sprossenden Saatfeldern hin, leitete der Kirchsteig ins Dorf.

Aus der Lorenzgasse kam ihm der Hasenherle mit dem unvermeidlichen Korb auf dem Rücken entgegen. Ein wenig gealtert und gekrümmt wohl, sonst noch das alte schlaue Fuchsgesicht, die durchtriebenen Schelmenaugen. Auch der Herle kannte ihn nicht. Doch jetzt mußte Fritz lächeln. Das junge, frische, fröhlich aufstrebende Leben im Dorf war ihm fremd geworden, dem verknöcherten, verrosteten, stillstehenden Alter war er unkenntlich. Mochte das auch in äußeren Veränderungen seinen Grund haben, Fritz, der jetzt gern mit seinen Gedanken tiefer ging, freute sich darüber. Ja, auch er war nicht mehr der alte; innerlich gewachsen, als neuer Mensch kehrte er heim.

Statt durch die Lorenzgasse ins untere Dorf einzutreten, bog er rechts ab, ging an der duftenden Hecke von Schlehdorn, Herrgottsbeeren und wilden Rosen entlang um das Dorf, bis er auf den Sülzdorfer Kirchsteig traf. Die Sonne sank eben hinter dem Steinschrot hinab, als er in den schmalen Heckenweg zwischen den Hausgärten einbog. Auch den Herrenhof umging er; hinter der gewaltigen Scheune stieg er hinab zum Lindenbach und drüben am steilen Rand zum Pfarrhof empor. Seine Sorge war umsonst, die Pfarrfamilie saß vorn im Garten zusammen, niemand bemerkte ihn. Aus dem Pfarrhof wollte er in den Türkenhof schlüpfen, eine stattliche, neue Scheune sperrte ihm den Weg. »Gottfrieds Werk!« sagte er leise, und strich wie zum Gruß über Balken und Mauerwerk. 311 Wollte er nicht umkehren, blieb ihm nur ein schmaler Durchschlupf zwischen der Hirtenwand des Elternhauses und dem Paulesschuppen. Durch kniehohes Sauerampfer- und Nesselgebüsch arbeitete er sich, – wie oft hatte er als Bube mit seinen Kameraden bei ihren wilden Spielen diesen verborgenen, fast vergessenen Gang benützt! – kam auf die Dorfstraße und mußte nun doch den Türkenhof von vorn betreten. Gasse und Hof waren leer, es war gerade Essenszeit; als er an den Stubenfenstern vorbei nach der Haustür schritt, rief drinnen eine erschrockene Mädchenstimme: »Ach Gott, ich glaub' gar, der Amerikaner kommt!« Fritz mußte lachen, also: der ›Amerikaner‹! hieß er in Zukunft.

In der Stube war es dunkel, niemand kannte ihn; erst als er mit bebender Stimme einen guten Abend bot, warf die Base den Löffel nieder und hing mit dem Ausruf: »Um Gottes Jesu Christi willen, es ist wahrlich der Fritz!« an seinem Hals. Nun schlürfte auch der Henner dem Sohn entgegen, aber seine Begrüßung war ziemlich frostig. Er konnte es Fritz nicht vergeben, daß er trotz seines strengen Befehls noch einige Jahre in Amerika geblieben war und auch dann nur unter der Bedingung zurückkehrte, daß er ihm nie vom Heiraten rede. Das würgte und kitzelte Henner im Hals, gar zu gern hätte er sogleich den Anfang gemacht, dem Sohn die dummen »amerikanischen Mucken« auszutreiben, aber er kam nicht dazu; Fritz war zu den Dienstboten getreten, drückte ihnen die Hände und versicherte, sie sollten mit ihm wohl auskommen, und wenn sein Koffer eintreffe, werde sich für sie auch etwas finden. Damit hatte er die Dienstleute für sich gewonnen; bei dem großen Kriegsrat in der Küche erklärten Knechte 312 und Mägde einstimmig, der Amerikaner sei nicht vergebens in der Welt gewesen, er wisse wohl, was sich schicke, nur seine »grausamen Schnurren« paßten nicht für Bergheim.

Fritz schützte Ermüdung vor und zog sich bald auf seine Kammer zurück. So war er daheim, nach langen Jahren ruhte er wieder unter dem eigenen Dach! – Aber wie einsam, wie öde war es in dem großen Hause geworden, wie wehte es ihm von den kahlen, weißgetünchten Wänden so kalt zu – das Beste fehlte dem Vaterhaus; die Mutter, der Bruder! Und so einsam sollte es nun bleiben sein Leben lang, nur immer stiller sollte es im Haus werden. Fritz schauerte zusammen; er empfand die ganze Schwere seines Geschickes, empfand schmerzlich, wie sein Herz ewig geteilt bleiben, mehr den Freunden in der Fremde, denn der Heimat gehören werde.

Durch das Fenster leuchtete das Abendrot glühend herein und übermalte die Wände mit seinem Purpur, unter dem Dach zwitscherten die Schwalben, andere segelten schreiend durch die milde Luft. Um den blühenden Pflaumenbaum drüben im Garten summten die Maikäfer, auf der Gasse jauchzten spielende Kinder, und das Dorf herab zogen singend die Burschen und Mädchen. Wie war die Welt so freudenvoll, nur er allein verlassen, ein dürrer Zweig am Baum des Lebens! Fritz stützte die Arme auf die Knie und legte den Kopf in die Hände; allmählich löste sich die Spannung. »Ausgehalten!« sagte er leise, während er sich entkleidete. »Ausgehalten und jetzt schlafen! Ein Trost bleibt: die Arbeit! Gleich morgen soll ein rechter Anfang gemacht werden!«

313 Dazu kam es freilich nicht. Der Vater konnte seinen Unmut nicht verbergen, seine spitzen Reden führten gleich am Morgen eine gründliche Auseinandersetzung herbei, in der Fritzens Bart nicht die letzte Rolle spielte. Maßvoll, aber ernst und entschieden stellte Fritz ihr gegenseitiges Verhältnis fest. Die Güter waren ihm schon vor seiner Heimkehr zugeschrieben worden, darum übernahm er die alleinige Führung der Wirtschaft, sonst blieb Henner scheinbar im Besitz der Herrschaft und des Kaffenetle. »Vom Heiraten redet kein Wort!« sagte Fritz am Schluß, »wenn Ihr nicht wollt, daß ich noch einmal, und dann für immer, in die Welt gehe. Ich kann nicht heiraten und will nicht, dabei bleibt's!« Vor solcher Sprache verstummte Henner, mürrisch fügte er sich in das Unvermeidliche.

Seine Heimkehr war natürlich für Bergheim ein Ereignis, alles drängte sich um ihn, die Neugierde hielt es gar nicht für nötig, sich hinter Teilnahme zu verstecken. Fritz wußte sich aber zu helfen. »Ich freu' mich,« sagte er, »daß ihr mich nicht vergessen habt und dank' euch für eure Teilnahme. Sonst laßt mich in Frieden, mit der Zeit werdet ihr noch alles erfahren, was ihr zu wissen braucht, wir werden auch bald wieder bekannt werden. Fürs erste laßt mich in Ruhe, ich hab' nicht Zeit, einem jeden Nachbarn Red' und Antwort zu stehen, ich muß arbeiten!«

Das ward ihm freilich sehr verdacht, fast noch mehr als sein Bart, den er nicht abtun wollte. Knurrend gingen die Nachbarn ohne Fritz ins Wirtshaus, ließen es sich manches Seidel Bier kosten, ihren Zorn recht in Glut zu bringen, und vom Wirtshaus ging nun ein Sturm aus gegen Fritz, der ein verzagtes Gemüt wohl hätte erschrecken können. Aber Fritz lachte, als ihm Achselträger berichten 314 wollten, was der und der, dieser und jener über ihn gesagt. »Laßt sie nur,« war seine Antwort; »an meine amerikanische Weise müssen sie sich gewöhnen, da kann ich ihnen nicht helfen. Mit der Zeit werden die Nachbarn einsehen, daß ich kein Menschenfresser bin!«

Statt in das Wirtshaus ging Fritz noch am ersten Tag in das Pfarrhaus; er blieb lange, redete viel mit dem Geistlichen über seine Mutter und seinen Bruder. Als er schied, gab ihm der Pfarrer das Geleit bis an das Hoftor und lud ihn ein, doch recht oft zu kommen. Auch im Veitenhaus und in der Grundmühle sprach er ein; verweinte Augen blickten ihm da und dort nach, er selber machte einen weiten Gang durch die Flur, ehe er ins Dorf zurückkehrte.

Und als es am Abend stiller im Dorf ward und das Abendrot sich in den hohen Kirchenfenstern spiegelte, schlüpfte er heimlich auf den stillen Gottesacker. Hier fand er sich bald zurecht; um die Kirche rauschten noch die alten knorrigen Apfelbäume, dort in der Ecke breitete sich noch die dunkle Blutnußhecke, auf der Kirchhofsmauer nickten und schwankten die Herrgottsbeer- und Himbeerzweige, von uralten Efeuranken durchflochten, gerade wie früher. Nur die alten Kreuze waren verschwunden, dafür aber desto mehr neue an ihre Stelle getreten. Der Tod hatte in seiner Abwesenheit eine reiche Ernte gehalten. Und wie hoch war die Trauerweide aufgeschossen, dort inmitten des Friedhofs, die er nur als schwankes Rütchen gekannt hatte. Ach – unter ihren wallenden, eben die Knospen öffnenden Zweigen, dort lag das Doppelgrab, das er suchte. Lange stand er sinnend vor dem kleinen Hügel, dann setzte er sich darauf und blickte wie träumend über die Giebel 315 der Häuser und Scheunen hinweg hinaus in die lichtgrünen Saatfelder, hinüber zu dem rosig angehauchten Waldgebirge. Ja, er war doch recht arm, sehr arm; sein Leben grausam verödet! Es will etwas heißen, ganz allein auf sich selber zu stehen. – Und wofür war er eigentlich auf der Welt? für wen wirkte und schaffte er? – – »Ausgehalten!« seufzte er. »Für mich gibt's keinen andern Trost! Was der Mensch sät, das wird er ernten, – ja, ja! – Wer Liebe nicht erkennt und nicht zu würdigen weiß, der muß eben ohne Liebe durchkommen! – O Mutter, Mutter! warum hab' ich dich erst zu spät verstanden? – Ja, zu spät! – Und doch, o mein Gott, wie dank' ich dir, daß ich noch hier sitzen darf, daß es nicht auch dazu zu spät ist! – Ausgehalten! es muß sein! Und ich werd's tragen, weil ich will! – Wird mir's einmal zu schwer, so weiß ich ein Plätzle, wo ich ausruhen kann. Mutter – Bruder, euer Fritz wird oft kommen!«

Damit hatte Fritz der Vergangenheit ihren Zoll abgetragen, fortan gehörte er, wie er sich's gelobt, der lebendigen Gegenwart. Das Urteil der Bergheimer ward bald ein andres über ihn. Man konnte dem ernsten, bleichen Mann, über dessen Mund nie ein unfreundliches Wort kam, der sich so herzensfreundlich, so aufopfernd der Armen annahm, der gegen alle Nachbarn so gefällig und hilfbereit war, nicht zürnen. Langsam, aber sicher stieg er in der allgemeinen Achtung, und noch nicht nach Jahresfrist war der Amerikaner einer der angesehensten Männer im Dorf.

Auch er hatte sich in den heimischen Verhältnissen bald zurechtgefunden. Wohl kamen sie ihm oft recht eng und beschränkt vor, aber ein Fortschritt zum bessern war nicht 316 zu verkennen. Aufrichtig unterstützte er die Männer, die vor wenigen Jahren ernstlich in der Gemeinde aufgeräumt und eine neue Ordnung der Dinge begründet hatten, und bald verband ihn neben gleicher Gesinnung und gleichem Streben die herzlichste Freundschaft mit den Tüchtigsten des Ortes und der Umgegend, dem Beckenjörg, dem jungen Herrnbauer, dem Schreinersjohannes, dem Bergjörg und dem Schulbauer von Sülzdorf.

Mit dem Wagnershannikel kam er nicht wieder in das alte Verhältnis. Der lockere Bursche hatte sich endlich doch von der Eckenlisbeth »fangen lassen«, wie er Fritz klagte, hatte sie heiraten müssen und führte nun ein trostloses Leben. Wie anders sah es jetzt in dem Zieglershäuschen aus, als da die Schustersrosine darin waltete! Fritz wies den zurückgekommenen Jugendfreund ernsthaft zurecht; mehr als seine Worte wirkte freilich das Versprechen, ihm unter die Arme zu greifen, wenn er sich bessere. Hannikel nahm sich zusammen, Fritz hielt Wort. Da der Hannikel in Bergheim gegen den wohlhabenden Linnertswagner nicht aufkommen konnte, mietete er sich in Sülzdorf ein, Fritz versah ihn reichlich mit Handwerkszeug und Werkholz, auch der Schulbauer nahm sich seiner an, und so besserte sich seine Lage zusehends, nach wenigen Jahren saß er im eigenen Häuschen und erfreute sich eines gesicherten Auskommens. Zufrieden ward er aber nie, und das war es, was Fritz mit den Jahren völlig von ihm schied.

Der Erfolg seiner treuen Arbeit blieb nicht aus; die Achtung seiner Freunde, die dankbare Anhänglichkeit seiner Nachbarn erquickte Fritz, – heiter, ja nur ruhig ward er doch nicht. Je länger, desto quälender empfand er seine Verlassenheit; alle Freundschaft, alle Teilnahme konnte 317 ihm die fehlende Familie nicht ersetzen. Oft, wenn die Kinder vor seinem Haus spielten, wendete er sich rasch ab und schloß sich in seine Kammer. Was half ihm, daß sich sein Wohlstand mehrte? Niemand erfreute sich dessen, er konnte ihn mit niemand teilen. Ach, all der Dank der Armen und geretteten Notleidenden ersetzte ihm nicht die Liebe eines Weibes, eigener Kinder. Fritz ward nicht ungeduldig, nicht unmutig; nur eine tiefe Schwermut drückte seinen Geist nieder und trübte sein klares Auge. Öfter besuchte er die Gräber seiner Lieben, tiefer wurden seine Seufzer, und das: ›Zu spät‹, das er schon in Milwaukee überwunden zu haben meinte, es machte ihm von neuem Not.

So gingen die Jahre dahin, eines wie das andere arm an Lust, reich an Leid. Schon lange war Fritz ein Liebling der Kinder, und die Augen der Nachbarn ruhten im Verborgenen voll Liebe und Teilnahme auf dem stillen Mann. Dann kam eine Zeit, wo sich seine Stirn noch sorgenvoller faltete denn sonst, und die Nachbarn sannen vergebens, was ihm begegnet sein könne, daß er sogar achtlos an den Kindern vorbeiging, ihre schmeichelnden Zurufe gar nicht zu hören schien. Als nun aber die Grundmüllers- und Veitenleute in schwarzen Anzügen erschienen und mit verweinten Augen berichteten: das Bärble und der Jakob seien in Amerika kurz nacheinander verstorben und ihre zwei Kinderchen seien nun ganz verlassen, – da verstanden sie den Kummer des Amerikaners und ehrten ihn um so mehr.

Aber wieder ward er allen ein Rätsel. Zwar ging auch er in schwarzer Trauerkleidung, zwar zeigte sein Auge oft Spuren heimlicher Tränen, – dennoch war der Mann ganz anders, als man ihn erwartete. Sein Gang 318 war aufrechter, seine Stirn freier, auf seinem Gesicht lag es wie ein Schimmer fröhlicher Hoffnung. – Und auch dieses Rätsel löste sich. Eines Tages rollte eine Kutsche in den Türkenhof, daraus sprang der Schustersbernhard, – jetzt ein stattlicher, vornehmer Herr, – und hinter ihm kamen zwei Kinder hervor, ein Mädchen von zwölf, und ein Knabe von zehn Jahren. Fritz drückte die Kinder wortlos an sich, dann führte er sie, an jeder Hand eines, in die Stube zu dem Vater und der Base Lene und sagte: »Vater, Base, – da sind meine Kinder, nehmt sie freundlich auf und behandelt sie gut!« Der Henner sah aus wie einer, der nicht weiß, soll er lachen oder heulen. Als ihm aber Fritz weiter erklärte: das seien die Kinder des Grundmüllersjakob und des Veitenbärble, und er habe sie an Kindes Statt angenommen, da fuhr der Alte auf wie in seinen schlimmen Tagen, stieß die Kinder zurück und rannte fluchend und schimpfend hinaus. Die erschrockenen Kleinen beruhigte bald die gute Base, und Fritz und Bernhard vereint sorgten dafür, daß sie sich bald heimisch fühlten.

Das Erstaunen der Nachbarn verwandelte sich in herzliche Teilnahme, aufrichtige Freude; die Veitenleute und Grundmüllers, denen er auch seinen Plan geheim gehalten hatte, waren glückselig. Dank und Lob lehnte Fritz bescheiden ab; zu Bernhard sagte er, als er ihn zu dem Grab der Mutter und des Bruders führte: »Dem da, meinem Gottfried, gebührt das Verdienst, nicht mir! Ich erfülle nur sein Vermächtnis!«

Die Kinder waren bald eingewöhnt, und Bernhard drängte zur Abreise. Zwar gefiel es ihm in Bergheim, besonders der Freundeskreis, den er durch Fritz kennen 319 lernte, war ganz nach seinem Sinn, – dennoch sehnte er sich nach Amerika, zu Weib und Kind, in sein Geschäft zurück. Vor seiner Abreise willigte er auf die Bitte seines Freundes darein, daß sein Patchen Dorle forthin nach ihrer Mutter Bärble genannt werden solle. Es ging das wohl an, da ihr voller Name Dorothea Barbara war.

Nun erst begann ein neues Leben im Türkenhof. Fritz ward zusehends jünger, seine Wünsche waren ja erfüllt, er hatte Kinder um sich, die er mit vollem Recht sein nennen durfte, für die er wirken und schaffen konnte, – ja, sogar ein Bärble war ihm beschieden, schon jetzt war das Mädchen das verjüngte Ebenbild ihrer Mutter. Und als sich die Kinder an ihn gewöhnten, mit wahrer, inniger Liebe an ihm hingen, – da schwand der letzte Schatten aus seiner Seele.

Wunderbar war die Veränderung, die mit dem Henner vorging. Anfangs tückte und quälte er die Kinder, wo er nur konnte, bald jedoch erschreckten ihn die wunderbaren Augen des Mädchens, die ihn gar so unschuldsvoll verwundert, so schmerzlich fragend ansehen konnten. Ihm selbst zum Ärger regte sich in ihm etwas fast wie Liebe und Teilnahme. Zuerst schlich er den Kindern heimlich nach, hütete sie nur mit den Augen, bald aber konnte er ohne ihre Gesellschaft gar nicht mehr bleiben. Ein merkwürdiges Verhältnis bildete sich zwischen ihm und dem Bärble. Das Mädchen fürchtete den alten Grämling und dennoch beherrschte sie ihn, jeder Wink war ihm ein Befehl; was kein Mensch sonst erlangte, das erreichte sie durch ein einziges Wort. Dafür nahm sich aber auch Bärble des doch recht morsch gewordenen Alten auf das liebreichste an, und als er gegen den Herbst den Sessel nicht mehr 320 verlassen konnte, sagte er oft: »Mädle, der Herrgott segne dir, was du an mir tust! – Du bist mein Glück!« Wie seine Kräfte schwanden, ward er milder, weicher; er redete öfter von der Vergangenheit und sah es gern, wenn ihm der Pfarrer Trost einsprach. Wenige Tage vor seinem Tod bat er Fritz um Verzeihung, daß er durch verkehrte Weise soviel Unglück über ihn gebracht, dankte ihm, daß er sein früheres Unrecht gutzumachen suche, und bat ihn, darin nicht nachzulassen. Ohne gerade krank zu sein, schlief er eines Abends in seinem Sessel ein, um nicht mehr zu erwachen.

Als Bärble, das liebe, schöne Kind, bei der Konfirmation mit ihren Beichtkameraden vor dem Altar stand, wunderten sich die Nachbarn, daß der Amerikaner, der feste, starke Mann, so heftig weinen mußte. Niemand erriet den Grund; nur Fritz allein wußte, daß heute sein Pflegekind zum erstenmal das Tuch und die Schürze trug, die er einst seiner Mutter geschenkt und an jener Unglückskirmes zurückerhalten hatte.

Daheim fand er einen Brief von Bernhard vor, worin ihm dieser schrieb: »Mutter, Frau und Kinder, – vor vier Wochen hatte er sein erstes Töchterchen taufen lassen, – befänden sich wohl, sein Geschäft stehe mehr im Flor denn je, und sein Wohlstand sei im Wachsen. Wenn es ihm jemals in Amerika gefallen habe, so gefalle es ihm jetzt erst recht, da nun endlich der Sklaverei ernstlich zu Leibe gegangen werden solle.«

Nach herzlichen Glückwünschen zu dem erfreulichen Familienereignis, schrieb Fritz dagegen: »Du weißt noch, wieviel Not mir in Amerika das ›Zu spät‹ gemacht hat, – jetzt gestehe ich Dir, auch in Deutschland ließ es mir lange, 321 lange nicht Ruhe, nicht Rast. Jetzt ist es aber überwunden, ganz und für immer. Was ich nie für möglich gehalten hätte, ist doch noch geworden: ich bin glücklich! Ich bin nicht vergeblich auf der Welt, was ich an der Mutter gesündigt, darf ich an den Kindern gutmachen, – ach, und ich bin ja nicht mehr verlassen, nicht mehr allein, ich habe ein Bärble, ich habe meine Kinder, – der Herrgott segne sie! Ich gehe noch oft auf den Gottesacker und kehre dann im Herzen still wieder heim. Ja, ich habe empfangen über Verdienst, täglich sehe ich das mehr ein! Macht mich das auch im Herzen gar verzagt und demütig, so freue ich mich doch auch, daß ich endlich die Nichtsnutzigkeiten in mir gründlich überwand, daß es von meiner Umkehr nicht wirklich heißen muß: Zu spät!«

 


 


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