Heinrich Schaumberger
Zu spät
Heinrich Schaumberger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»I hab' einmal ein Schätzli g'habt!«

Die Kirchen standen heute nachmittag leer und verlassen, nur wenige alte Weiber verschliefen die Strafpredigten des eifernden, schwitzenden Geistlichen, und die Organisten erwarteten ungeduldig das Amen, um noch rechtzeitig auf das Schottendorfer Vogelschießen zu kommen. Draußen auf der staubigen Straße rasselte ein Gefährt nach dem andern vorüber, alle Fußwege waren voll geputzter, fröhlicher Menschen, ganze Dorfschaften mußten auf den Beinen sein. Dröhnte dann, was von Zeit zu Zeit geschah, aus der Gegend von Schottendorf ein dumpfer Kanonenschlag herüber, verstummte auf Sekunden das Gespräch und Gelächter, eine erwartungsvolle Spannung zeigte sich auf den Gesichtern, unwillkürlich beschleunigten sich die Schritte, – die Schüsse verkündeten ja, daß die Lustbarkeit auf dem Schottendorfer Schießplatz begonnen hatte. Auch Bergheim war zum guten Teil auf der Wanderschaft, lange Züge zu Fuß und zu Wagen strebten Schottendorf zu.

Es war ein drückend schwüler Nachmittag. Kein Lüftchen regte sich, die Blätter hingen welk von den Zweigen, die weißen Halme der Kornäcker knisterten und die verbrannten Wiesen schienen die Glut zu vermehren, – trotzdem ging es lustig vorwärts, Staub und Hitze wurden 99 nicht beachtet. Nur drei Wanderer machten eine Ausnahme. Sie hielten sich fern von den andern, gingen langsamer, in Sülzdorf verließen sie gar die belebte Straße und bogen in einen Wiesenweg ein, der bald am Waldesrand, bald am murmelnden Bach angenehm im Schatten hinführte. Unter einer weitästigen, uralten Eiche blieben sie aufatmend stehen, und Bernhard sagte, indem er sich den Schweiß von der Stirn wischte: »Na, Gott sei Dank! Wir sind doch wenigstens allein! – Ist das 'ne Hitz' – nicht einmal der Schatten gibt Kühlung! – Und wie die Mücken stechen,« fuhr er ärgerlich fort und schlug sich mit dem Taschentuch in den Nacken. »Paßt auf, 's gibt noch was heut', dort hinter dem Bleßberg steigt's auch schon ganz schwarz auf! – Einen Regen können wir zwar brauchen, 's verbrennt sonst alles rattenkahl auf den Feldern und Wiesen, aber 's wär' doch ein allzu schlechter Spaß, würden wir heut' auch noch eingeweicht, da wir so beinah' wider Willen aufs Vogelschießen laufen. Ja, Bärble, hätt' ich's nicht deinetwegen getan, Schottendorf ständ' mir lang' gut!«

»Und nun verdrießt's mich doppelt, daß der Fritz wiederum nicht Wort hält!« sagte Dorle und knüpfte ihre Jacke um die Taille. »Jetzt schwitzen wir uns ab rein für die Katz', und der Hanswurst lacht uns obendrein noch aus! Ein feiner Kerl, der Türkenfritz! – Du armer Narr, gehen dir noch immer die Augen nicht auf über ihn?«

»Ach, habt nur noch ein Linsele Geduld!« bat Bärble und zerpflückte hastig eine große Gänseblume. »Er kann ja noch jeden Augenblick kommen und zuletzt, wer weiß, was ihn abgehalten hat!«

»Wer weiß? – Was Gescheites gewiß nicht!« fiel Dorle 100 bitter ein, während sich alle drei langsam in Bewegung setzten. »Brauchst dich nicht nach ihm umzusehen, Bärble, das ist gänzlich unnütz! O, – ich könnt' dem Fritz was anders antun! Was soll das heimliche Getu' und Geschwänzel? Warum geht er nicht öffentlich mit dir, wenn's ihm Ernst ist? – Bärble, sieh dich vor!«

»'s ist nicht zu leugnen,« meinte Bernhard nachdenklich, »nach dem Zank wegen der Theaterfahrt sah's beinah' aus, als wollt' nun der Fritz doch in sich gehen. – Aber trau' dem Teufel, geht er zur Mess'! Nichts war's, und seit der Grundmüllersjakob nun wirklich nach Amerika ausgewandert ist, und er auch von der Seite nichts mehr zu fürchten braucht, seitdem treibt er's schlimmer denn jemals. – Bärble, mich dauert der Jakob, 's ist ihm hart ankommen das Fortgehen, wenn er sich auch tapfer gestellt hat; ich hab's wohl gemerkt. – Und das bloß deinetwegen. Die Augen vergess' ich mein Lebtag nicht, als er mir die Hand drückte und sagte: ›Grüß' das Bärble von mir viel tausendmal und sie soll meine Reden nicht vergessen, ich bleib' darauf bestehen!‹ – Die helle Lieb' hat da 'rausgeleuchtet!«

Bärble rollte das Schürzenband um den Finger und sagte leise: »Ja, der Jakob ist ein treues Gemüt, – ich halt' ihn auch wert allezeit, aber kann ich dafür, daß mir der Fritz nun einmal das Liebste ist auf der Welt? Kränkt mich nicht mit euren Reden, mein Herz ist ohnedies nicht leicht! Ihr zwei könnt nun einmal den Fritz nicht leiden, und der Jakob war dein bester Kamerad, Bernhard; – tut mir's nicht an, daß ich auch euch noch mißtrauen muß.«

»Verhüt' das Gott! Du hast recht, Bärble, in solchen Sachen ist's 's beste, man hält's Maul! – Verübel' mir's 101 nicht, bin ich knurrig, 's geht mir danach. Da ist zuerst der Jakob fort, – und jetzt merk' ich erst, wie wir zusammengewachsen waren. Das Dorf ist mir so groß, so leer, ich kann's nicht sagen, überall fehlt mir was, eine innerliche Unruhe treibt mich 'rum, ich bin gar nicht mehr daheim, 's ist mir immer, als zupft' mich was und sagt': ›komm' nach, ich erwart' dich!‹ Und das hat noch andern Grund! Hab' immer gedacht: Bin ich Meister und hab' ich erst Arbeit, kann's nicht fehlen, und in ein paar Wochen mach' ich Hochzeit! Ja, hoff' du! Besonders, wenn noch die Gemeind' ein Wörtle drein zu reden hat, dann ist's gewiß g'fehlt. – Jetzt bin ich weiter von der Heirat denn je!«

»Ja, aber wie denn?« fragte Bärble teilnehmend und drückte Dorles Hand, der das Wasser in den Augen stand. »Wer kann euch was nachsagen? Und ich hab's von meinem Vater: Rechtschaff'nen Leuten wär' die Aufnahm' nimmer zu weigern. – Woran steupert sich's?«

»Ja, freilich, so g'radzu wie sonst dürfen's die Vorständ' nimmer 'raussagen, was sie im Schild führen, die Amtleut' sind ihnen scharf auf der Haub'n, aber sie verstehen sich auch schon meisterlich aufs Katzenpföteln. – Vorn streicheln sie einen, geben einem gute Worte und bei jedem Antrag heißt's: ›Ja, ja, 's wird sich machen lassen, besonders bei dir hat's ja gar keinen Anstand!‹ – Hinterm Rücken ziehen sie einem danach 's Fell über die Ohren, und wundert man sich, heißt's: ›'s ist uns rechtschaffen leid! Ja, wenn's auf uns allein ankäm', – aber so sind einmal die Gesetz' da, und über die Verordnungen können wir nicht 'nüber!‹ – Ja, meine Mutter hat recht: ›die Welt bleibt sich gleich, 's ist immer und überall dasselbe Spiel, nur die Art und Weis' wird anders!‹«

102 »Ach, – wie du mich doch erschreckst!« rief Bärble. »Haben sie dem Dorle die Aufnahm' verweigert?«

»Ei, beileib'! – Wo denkst du hin? Ganz im Gegenteil! Der Ausschuß und der Schulz können das brave Mädle nicht genug rühmen, sie sind der Meinung, 's wär' eine Ehr' und ein Glück fürs Dorf, blieb sie für immer da. Nur um eine Kleinigkeit handelt' sich's: – ich sollt' von Breitenfeld – Dorles Heimat – einen Vermögensschein für sie beibringen! – Ach, – im größten Elend mußt' ich vor dem Ausschuß lachen! – Vermögensschein! Ja, wenn wir den erlangen könnten, dann wär' uns ja geholfen! Wie ich das dem Ausschuß auseinandersetz' und mich auf unser Verhalten, auf unsre Ersparnisse beruf', gucken sie sich untereinander an, der Schulz hebt die Schultern und meint: ›Ja, Bernhard, damit ist uns nicht gedient! Wir haben allzu große Verantwortung und müssen uns den Rücken frei halten. – Da ist's mit einer Aufnahm' nichts! Aber tu' dich um im Dorf, vielleicht läßt dich ein Nachbar auf sein Haus trauen, – dir wird's gewiß nicht fehlen. Und ist das nichts, bring's uns schriftlich, daß du auf zehn Jahr unkündbar ein Quartier gemietet kriegst, so ist's auch gut!‹ – Damit war ich abgewiesen! – Ja, wär' der Bergbauer noch Schulz, da ständ's anders!«

»Aber das ist doch nicht so arg schlimm! – Und lauten die Gesetz' wirklich so, was kann der Schulz und der Ausschuß dazu?«

»Was der dazu kann? – Die Verordnung mag bestehen, sell will ich nicht bezweifeln, aber was sie bedeutet, hat sich gezeigt. Hat vielleicht die Schulzenmagd neulich einen Vermögensschein beigebracht? Was kann ihr 103 die Gemeind' für einen Leumund ausstellen? Und was ist gar ihr Schmiedsgesell' für ein Kerl? Ich will mich nicht selber berühmen, aber wir sind ein ander Paar! Und warum haben die eine Aufnahm' kriegt und wir nicht? – Sieh', da hast du's! Der Schulz wollt' nun einmal seine Magd aus dem Haus haben und doch seinen Gesellen nicht verlieren, drum ist's gegangen! Mir hilft kein Mensch, ich sitz' auch gut! – O, ich möcht' manchmal die Schwerenot kriegen!«

»Du hast aber doch noch Ausweg'! Dich läßt jeder Nachbar auf sein Haus trauen!«

»Frag' doch deinen Vater oder nur deinen Fritz! Daran mag ich schon gar nicht denken. Aber auf mein Häusle hab' ich gerechnet! Der Paulesnickel kennt mich, meine Hauszins' bezahl' ich pünktlich auf den Tag, – also, warum soll er mir nicht Quartier darin auf zehn Jahr verschreiben? Heut war ich bei ihm. Wie ich in die Stube tret', kommt der Vögelesschuster mir daraus entgegen. Das wollt' mir gleich nicht gefallen, und ich hab' mich nicht geirrt, mein alter Meister hat einen Riegel vorgeschoben, daß mir's Glück nicht in den Himmel wächst! Wie ich mein Anbringens mach', höselt der Nickel in der Stub' auf und ab, knurkst und murkst eine Stund' lang, was ich nicht versteh', endlich kommt's 'raus: Die Verschreibung könne er nicht geben. Zum ersten wollt' er nicht der sein, dem die Gemeind' eine Last zu danken habe; zum andern dürfe man's doch auch mit den Nachbarn nicht verderben, zum letzten wolle er nicht selber ein Servitut auf sein Häusle bringen. Zehn Jahre seien eine lange Zeit, und 104 der Vertrag bringe ihm argen Nachteil, wolle er unter der Zeit das Häusle verkaufen. Übrigens sage er mir auch nicht gradezu ab, in acht bis vierzehn Tagen könne ich wieder nachfragen, bis dahin würd' er sich die Sache überlegt haben. – Ja, ja, Bärble, weiß schon, was du sagen willst, 's ist freilich noch nicht alles aus, aber große Hoffnung hab' ich auch nicht. Ich hab' Feind' im Dorf und im Ausschuß, bin ein armer Teufel und hab' nicht gelernt, den Fuchsschwanz streichen, – drei böse Dinge für einen Anfänger. – Aber nun mag's genug sein von dem; wir sind einmal auf dem Weg zum Vogelschießen, drum wollen wir auch die Köpfe nicht hängen lassen. Heul' nicht, Dorle, du weißt, das geht mir wider die Natur. Wir sind keine Kinder mehr, und solang' wir gesund bleiben, haben wir keine Ursache, zu verzweifeln. Wir haben warten gelernt, was liegt an ein paar Jahren mehr? Zuletzt wird sich ja doch ein Unterschlupf für uns finden.«

»Könnt' ich nur helfen!« klagte Bärble.

»Du gut's Dingle – hast an deinem Bündel zu tragen! Ja, wenn dein Fritz aufrichtig wollt', dann wär' uns allen geholfen.«

Man kam an einem Kornacker vorbei, dessen Ähren in dicken »Gelegen« den Boden deckten; das brachte das Gespräch auf die bevorstehende Ernte. Aus den Seitentälern schlängelten sich schmale Fußpfade; je näher man Schottendorf kam, desto belebter war der anfänglich so einsame Steig. Der Weg führte jetzt an einem mit Obstbäumen und Gartenhäuschen bedeckten Hügel hin, rechts drüben auf der andern Seite des Werthagrundes dehnte sich Schottendorf auf seinem Hügel; gerade voraus, in etwa viertelstündiger Entfernung, stieg mitten aus den 105 Wiesen ein sanft gerundeter Berg empor, dessen Spitze eine alte Burgruine, daneben ein weißes Schlößchen krönte. Am Fuß des Berges, halb vom Walde versteckt, erhob sich ein stattliches Gebäudes, von dessen Giebeln Fahnen wehten, aus dessen Fenstern Schüsse knallten, – das Schottendorfer Schießhaus. Der Weg von Schottendorf bis an den Schießplatz war mit Menschen bedeckt, ein bläulicher Rauch stieg im Wald empor, neben dem Rauschen einer zahlreichen Volksmenge tönte unseren Freunden auch schon das einförmige Gedudel der Leierorgeln und Ziehharmonikas entgegen, ununterbrochen von den Büchsenschüssen, Kanonenschlägen und anderm Getöse, welches stets diese Volksfeste begleitet. Statt aber ihre Schritte zu beschleunigen, wie alle übrigen Wanderer, gingen unsere drei noch langsamer; Bernhard wischte sich den Schweiß von der Stirn und meinte: »Guckt nur, wie's um den Bleßberg braut! Verjagt's nicht ein Wind, ist das Gewitter da, eh' wir's denken! – Ich wollt', ich säß' auf dem Bänkle unter meinen Kirschenbäumen. Solch ein Vogelschießen ist recht für glückliche Leut' und lustige Kinder; wer aber so viel Kreuz auf sich liegen hat wie wir, sollt' daheimbleiben. – Ich wollt', ich wär' schon wieder da an dem Fleck!«

Bärble seufzte tief. Sie hatte sich so sehr auf diesen Tag gefreut, hoffte sie doch, Fritz würde nun endlich einmal frei öffentlich mit ihr gehen und dadurch zeigen, daß er nun Ernst zu machen gedenke. Aber wieder, wie so oft schon, brach er sein Wort, verwandelte ihre Freude in bitteres Leid. Bärble hatte die Worte der alten Rosine nicht vergessen, sie gab sich wacker Mühe, den Sturm in ihrem Gemüt zu verbergen. Aber sie war noch eine Anfängerin in der schweren Kunst der Selbstbeherrschung, 106 der Zwang, den sie sich auferlegte, brachte nicht Ruhe, er vermehrte den Aufruhr. Es war nicht gekränkte Liebe allein, was ihr Herz so schmerzlich zusammenzog, es war die Angst vor einer nahen, schrecklichen Entscheidung, der Jammer einer verlorenen Jugend, eines leichtfertig zerstörten Glückes. Plötzlich schrak sie zusammen; dort vor ihnen, neben der schimmernden und tänzelnden Schottendorfer Hofkleinen, – war das nicht der Wagnershannikel und ihr Fritz? Ein Blick des Einverständnisses zwischen Bernhard und Dorle, den sie auffing, bestätigte ihre Entdeckung. Bärble fuhr mit der Hand nach dem Herzen, es wurd ihr schwarz vor den Augen. Als sie wieder zu sich kam, kniete Dorle mit tränennassen Augen neben ihr, Bernhard trug in einem – wer weiß wo? aufgetriebenen – Gefäß frisches Wasser zu und trieb die Neugierigen, die sich um sie sammelten, auseinander. Bärble raffte sich auf und wankte, auf Dorle gestützt, weiter, um nur den Leuten zu entgehen, die sie so zudringlich betrachteten. Seitwärts vom Weg fanden sie hinter dichtem, schattigem Gebüsch ein einsames Plätzchen, hier ließ Bärble ihren Tränen freien Lauf. Dorle blickte finster vor sich nieder, Bernhard aber sagte: »Bärble, nimm dich zusammen. Ich hab's ja lang so kommen sehen! Kopf in die Höh', Mädle! Ich hab' meine Augen scharf umgehen lassen, hab' aber weder was vom Fritz noch vom Hannikel bemerken können, – am End' haben wir uns doch nur geirrt. Zum übrigen will ich dir aufrichtig sagen: Ob er jetzt noch mit andern Mädeln läuft oder nicht, das ist haux wie maux! – 's ist ihm nicht Ernst mit dir, das mußt du jetzt wissen, nachdem er dich so niederträchtig im Stich gelassen hat; danach mußt du mit dir selber ausmachen, wie du dich 107 zu ihm stellen willst. Ich red' nicht zu, nicht ab, – aber nur den Kopf in die Höh', Mädle! Das ist allem Anschein nach erst der Anfang, 's wird noch besser kommen! – Willst umkehren oder willst dir die Geschichte wenigstens einmal angucken?«

Bärble seufzte; sie sehnte sich nach Einsamkeit und Stille, um zu sich selber zu kommen; aber auch der Verdacht gegen Fritz ließ ihr keine Ruhe, sie wollte Gewißheit haben, volle, ganze. Langsam strich sie sich über ihr sanft gewelltes Haar, brachte ihren Anzug in Ordnung und sagte: »Kommt, so nah' kehrt man nicht um!«

»Wie du willst!« entgegnete Bernhard freundlich. »Bedenk' nur deine Kräfte, kein Mensch kann wissen, was in der nächsten Minute geschieht!«

»Also hab' ich doch recht!« sagte Bärble mit zuckenden Lippen. »Drum eben geh' ich, – kommt!«

Der Menschenstrom, in dem sie jetzt, wie drei Tropfen im Bach, verschwanden, und der sie gewaltsam vorwärts dem Schießplatz zudrängte, ließ keinerlei vertrauliche Rede zu, und so ließen sich unsere Freunde fortschieben. Mitten in den Wiesen, dicht am Rand des Weges, saß einsam ein Mensch und bewegte den Kopf mit den lichtlosen Augensternen langsam hin und her; auf den Knien balancierte er eine Ziehharmonika und spielte fort und fort:

Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht;
Pflücket die Rose, eh' sie verblüht!«

An einem Pfahl war eine Papptafel mit den Worten: »Erbarmt euch des Blinden!« darunter eine Blechbüchse befestigt. Lachend gingen die meisten vorüber, und der schwarze Pudel, der Gefährte des Ärmsten, blickte 108 vergebens die Reihen auf und ab, – niemand gedachte seines Herrn. Bärble gedachte seines Herrn. Sie hatte schon lange in ihren Taschen gesucht, rasch aus der Reihe tretend, schüttete sie, ohne es erst anzusehen, was sie in der Hand hatte, in die Büchse ein Geldstück und flüsterte ihm zu: »Könnt' ich euch doch helfen! Der Herrgott führe euch viel mitleidige Menschen zu!« Der Blinde hob den Kopf und drehte ihn hastig herum, – er vernahm nichts als den Lärm fröhlicher Menschen. Langsam strich er dem Pudel über den Kopf, und als er dann sein Lied wieder aufnahm, rollten zwei große Tropfen über seine Wangen.

Je näher dem Schießhaus, desto größer der Lärm und das Gedränge. – Bärble ward es unsäglich weh, sie fühlte sich so verlassen unter den fröhlichen Menschen, bitter bereute sie jetzt, daß sie nicht doch umgekehrt war und hing sich fest an Dorle. Bernhard und sein Schatz boten alles auf, Bärble zu erheitern, führten sie an die bunten Glücksbuden, machten sie auf Bekannte aufmerksam, – Bernhard überraschte sogar die Mädchen, als sie den rauschenden Klängen der Regimentsmusik aus der nächsten Garnisonstadt lauschten, – mit Bier und Bratwürstchen. Aber Bärble lehnte ab, nicht um die Welt konnte sie jetzt einen Bissen essen. Heimlich auf Fritz schimpfend, verzehrte zuletzt der treue Mensch die verschmähte Wurst selber und als er das Fett von den Fingern leckte, schwur er Fritz grimmige Rache.

Im Schatten der mächtigen Buchen am Hang hinter dem Schießhaus entfaltete sich ein buntes, fröhliches Treiben. Herren und Damen, Bürger und Bauern, reiche Kaufleute und Grundbesitzer, arme Tagelöhner und liederliches Gesindel, alt und jung, saßen friedlich zusammen auf den 109 roh zusammengenagelten Bänken und gaben sich alle erdenkliche Mühe, so recht lustig zu sein, das Vergnügen dieses Tages recht auszugenießen. Bärble stand einsam seitwärts und blickte starren Auges hinein in das bunte Gewühl; sie sah nicht die freudeglänzenden Gesichter um sich, nichts von dem Gewimmel hinauf zum eigentlichen Festplatz und wieder hinab zum Schießhaus, sie hörte nichts von der rauschenden Musik nebenan, nichts von dem Gedudel unzähliger Leierkasten, dem Schreien der Ausrufer von den Glücks- und Tierbuden, dem Knattern der Schüsse aus den Schießständen, – ihr Geist war weit, weit weg. In Gedanken folgte sie einem einsamen Wanderer, der dem Meere zupilgerte, der Heimatland, Freunde und Verwandte, alles, alles verließ ihretwillen, und der dennoch, obgleich sie ihm das bitterste Weh angetan, auch in der Ferne noch über sie wachte, für sie besorgt war. – Und der, um dessentwillen sie ihn verschmäht, der, für den sie mit Freuden ihr Leben hingegeben hätte, zog jetzt eben vielleicht mit einem andern Mädchen herum, – lachend, scherzend, glücklich! – – Bärble preßte die Hände zusammen. Was war das für eine Welt? Ringsum Licht, Glanz, Leben und Freude, – nur sie allein, verlassen, verstoßen! Wie konnten all die Menschen so fröhlich sein, während ihr das Herz entzwei brach? –

»Bärble, das ist nichts!« sagte Dorle und zog sie mit auf den runden, von hohen Fichten umgrenzten Festplatz, mitten im grünen Wald. »Bärble, das ist nichts! – Angst und bang wird's einem um dich! Komm, tu die Augen auf, 's gibt allerlei zu sehen, – das wird dir gut tun, dich lustig machen!«

»Hast ihn noch nicht gesehen?«

110 »Frag' mich nicht nach dem, – ich mag seinen Namen nicht über die Zunge bringen.«

»'s ist gut, daß ich euch find,« sagte Bernhard, »grad' fängt 's Kasperle zu spielen an, das ist was zum Lachen, komm, Bärble!«

Sie unterdrückte eine Frage und folgte den Freunden. Scheu irrten ihre Blicke umher, das Herz klopfte ihr zum Zerspringen. Jeden Augenblick konnte er ja neben ihr stehen und in seiner herzlichen Weise sagen: »Ach, Gott sei's gedankt, daß ich dich endlich – endlich find', hab' dich gesucht wie 'ne Stecknadel!« – Jeden Augenblick konnte sie ihn aber auch bei einer andern erblicken. Bärble zitterte, sie ward schwindlig und mußte das Gedränge um das Kasperletheater verlassen. Die Freunde wollten sie bereden, Tierbuden, ein Wachsfigurenkabinett anzusehen, aber Bärble wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Ich kann nicht, nicht um alles! – Geht in Gottesnamen, daß ihr doch nicht ganz vergebens hergelaufen seid.« – »Nimm's«, fuhr sie fort und drückte Dorle Geld in die Hand, »nimm's, das schändet euch nicht, bezahl' den Eintritt damit. Geht jetzt hin, – habt ihr's gesehen, sucht mich dort hinter der einzelnen Bierbude, – jetzt geht, ich muß allein sein und ein paar Minuten Ruhe haben.

Wie zerbrochen sank Bärble hinter der bezeichneten Bierbude an einer Buche nieder, ihr war zum Sterben elend. Sie hoffte durch Weinen Erleichterung zu finden, aber ihr Auge war tränenlos, trocken; die Last auf ihrem Herzen ward schwerer und schwerer, keines klaren Gedankens mehr mächtig, lehnte sie den Kopf an den Stamm und wünschte sich den Tod. Auf das Lärmen und Schreien nebenan achtete sie nicht, – plötzlich fuhr sie halb auf, sie 111 hatte eine Stimme in der Bude flüstern hören, die ihr durch und durch ging. Sie brauchte nicht zu lauschen, die Hofkleine von Schottendorf lachte hell auf: »Und das soll ich glauben? O du Narr! Die ganze Gegend ist voll davon: der Türkenfritz läuft dem lumpigen Veitending nach!«

»Und was ist da weiter dabei?« lachte der Wagnershannikel, »hast du vielleicht noch keinen Anhang gehabt?«

»Solch geringen nicht! Übrigens muß doch Ernst dabei sein, für nichts und wider nichts führt man kein Mädle ins Theater!«

»Dummheit! – Wofür hätt' nachher der Fritz die Hämpelsmädle noch mitgenommen?«

»So, die waren auch dabei?« – Die Hofkleine wollte sich totlachen! – »Eine schöne Gesellschaft war da zusammen, das muß man sagen!«

»Jetzt red' ernstlich – wie steht's?« fragte Fritz halblaut.

»Erst muß ich wissen, ob's mit dem Veitenmädle und dir reine Butter ist!«

»Wenn du weiter keinen Anstand hast, sag' ja!« drängte Fritz. »Mit dem Bärble, das ist eben so ein Gehäng', weiter nichts, verlaß' dich drauf, ist mir im Traum noch nicht beigekommen, die zu heiraten!«

Das laute Gelächter der Hofkleinen übertönte den tiefen Seufzer dort hinter der Buche. In Bärbles Kopf wirbelte und brauste es, alle Pulse schlugen; sie wollte aufspringen und Fritz vor allen Leuten einen Lügner schelten, seine Schändlichkeit aufdecken, – aber sie blieb sitzen, sie wollte aufspringen, – – aber sie schüttelte den Kopf und blieb sitzen. Allmählich legte sich der erste Aufruhr, aber die Welt war dunkler, lichtloser geworden; eine eisige Kälte 112 senkte sich langsam tief und immer tiefer in ihr Herz, – mit einem bitteren Lächeln beugte sie das Gesicht auf die Hände und hauchte vor sich hin: »Nun ist's entschieden, – alles aus und vorbei!«

Bernhard und Dorle erschraken über ihr verstörtes Aussehen; ohne sie mit Fragen zu belästigen, nickte Bernhard zustimmend, als Bärble bat, sogleich aufzubrechen. »Geht durchs Holz um das Schießhaus, daß ihr ihm nicht noch begegnet,« sagte er, »beim Blinden kommen wir wieder zusammen, ich muß noch einmal über den Platz. Arm's Mädle! – ich hab's ja vorausgesehen!«

Damit wendete er sich nach dem Platz zurück. In der Bierbude, wo er ihn schon vorhin bemerkt, war Fritz nicht mehr, dafür sah er den Wagnershannikel im eifrigsten Gespräch mit der Hofkleinen nach dem Schießhaus hinabgehen. »Also schon auf dem Ball zusammen?« knirschte er. »Das geht ja merkwürdig geschwind! O der Hund!–– Und doch hat der Jammerlappen nicht das Herz, dem Bärble zu begegnen, schleicht heimlich außen 'rum, wie ein Fuchs um's Eisen! – Aber wart', Vogel, mir entgehst du dasmal nicht, ich will, – – nein, vergreifen will und mag ich mich nicht an solch einem. Der Schrecken, wenn er merkt, ich bin ihm auf der Spur, wird ihm seine Herrlichkeit schon auch ein bisle versalzen.«

Anscheinend gleichmütig trat er ins Schießhaus, ließ sich ein Glas Bier geben und machte sich's in einer Ecke des Tanzsaals bequem. Es dauerte nicht lang, so kam Fritz auf ihn los, wischte sich den Schweiß ab und fragte, während seine Augen unruhig umherirrten: »Bist allein?«

»Ich wollt', ich wär's!« war die kurze Antwort.

»Warum?«

113 »Meinst, mir ist was an deiner Gesellschaft gelegen?«

Fritz war rot und ein böser Blick streifte Bernhard; nach einer Pause begann er zögernd: »Ist's Bärble da?«

»So, – das wollt' ich blos von dir hören!« Bernhard richtete sich hoch auf; nachdem er sein Glas Bier leer getrunken, fuhr er voller Hohn und Verachtung fort: »Kannst dir wohl denken, daß ich nicht für mich auf's Vogelschießen renn'! – 's Bärble läßt der Hofkleinen zu ihrem Hauptfang, den sie an dir gemacht hat, Glück wünschen. Kannst's ihr sagen!«

Ohne sich nach dem Bestürzten umzusehen, verließ er den Saal und eilte den Mädchen nach. Als er an dem Blinden vorbei kam, der noch immer, wenngleich der Weg fast leer von Menschen war, sein »Freut euch des Lebens!« fortspielte, warf er ihm eine Gabe in die Büchse und sagte: »He da, könnt ihr euch auf euren Hund verlassen? – So packt euren Kram zusammen und macht, daß ihr unter Dach und Fach kommt, es zieht ein schweres Wetter herauf!«

Als er die Mädchen einholte, sagte er: »Hört', wir wollen nach Schottendorf und das Wetter abwarten, – seht nur, wie schwarz 's vom Bleßberg 'runterzieht, wie's hinter der Burk aufsteigt, – kommen die Gewitter zusammen, sei uns Gott gnädig!«

Aber Bärble wollte von einem Aufenthalte nichts wissen, obgleich schon der Donner rollte; ihren Bitten gab auch endlich Bernhard nach. »Aber nun aufgeschritten, ihr Mädle, jetzt gilt's!«

»Na, Sulzdorf wird ja noch zu erreichen sein«, meinte 114 Dorle. »Und erwischt uns das Wetter, – nässer als bis auf die Haut werden wir doch nicht!«

»Jawohl!« nickte Bernhard lächelnd. »'s ist am Ende ein Trost so gut als ein anderer; ich fang' an und versteh' den Fuchs, der sagte: ›'s ist ein Übergängle‹, als ihm das Fell abgezogen wurde. – Bärble, das solltest du beherzigen, zuletzt ist alles eben nur ein Übergängle, und mehr als das Leben kann uns auch nicht genommen werden! – Ach, Gott, Mädle, guck' nicht so grad' 'naus, als gehörtest du schon gar nimmer in die Welt, – komm', red' was, schütt' uns dein Herz aus, schluck nicht alles in dich hinein. Komm', red'! Dazu hat man ja die Freund', daß man ihnen vertraut.«

Ein blendender Blitzstrahl, dem betäubender Donner auf dem Fuß folgte, schnitt Bärbles Antwort ab. Nach kurzem Blick auf den Himmel schürzten die Mädchen ihre Röcke auf, dann begannen sie zu laufen; die tiefe Dunkelheit, die sich über die Erde legte, die zuckenden Blitze und der rollende Donner sorgten, daß sie keine Ermüdung spürten.

Noch war die Luft unbewegt, kein Blättchen regte sich, kein Laut war vernehmbar, und dieses tiefe Schweigen, dieses ängstliche Lauschen der Natur bedrückte das Gemüt unsäglich. Keuchend, schweißtriefend eilten die drei Wanderer dahin. – Bärble allein ruhig, gelassen; das drohende Wetter am Himmel, – was bedeutete es gegen den Sturm in ihrer Seele? Der dröhnende Donner war ihr eine Wohltat, er betäubte sie auf Sekunden; längst schloß sie nicht die Augen, wenn sich die Wolken öffneten und Feuer über die Erde gossen, – ach, in ihr brannte noch eine ganz andere Glut. Das arme Kind! Sie fürchtete nicht mehr den Blitz, – was lag ihr noch am Leben?

115 Auch in der Luft ward es lebendig; heulend, pfeifend, brausend kam es daher; die Eichen ächzten und stöhnten, die Erlen bogen sich zur Erde, ein grauer Dunst umhüllte die Wanderer, Staub, Blätter, Zweige, ganze Äste wirbelten um ihre Köpfe. »Ausgehalten!« schrie Bernhard. »In den Sulzdorfer Schulbauersschuppen!« Ob er gehört worden? – Er wußte es nicht, der Wind riß ihm die Laute vom Munde weg, kaum vernahm er sich selbst. Ihm war, als flöge er durch feurige Wellen, das Knattern, Rollen und Krachen benahm ihm fast die Besinnung. Da sah er vor sich eine dunkle Wand. »Hieher – hieher!« schrie er, riß eine kleine Tür auf, drängte zwei dunkle Körper ins Innere, – kaum hatte er die Tür geschlossen, so knallten und prasselten die ersten Tropfen auf die Ziegel, bald fielen nicht mehr Tropfen, der Regen goß, rauschte in Strömen nieder.

Schauernd saßen die drei Geborgenen auf dem Stroh und der duftenden Waldstreu, lauschten dem Aufruhr der Elemente, dankten Gott für ihre Errettung und beteten, daß er das Wetter gnädig vorüberführe. Tiefe Finsternis, nur auf Sekunden von den zuckenden Blitzen schauerlich erhellt, umgab sie; durch die schmalen Spalten der Bretterwand züngelten die Flammen wie gelbe Schlangen herein und umspielten grausig die geisterbleichen Gesichter mit bläulichen Lichtern. Dazu krachte und knatterte der Donner ununterbrochen, heulte und pfiff der Sturm, klatschte und rauschte der Regen, – selbst dem unverzagten Bernhard ward es schwül, er wußte keinen Trost für das zitternde Dorle, das sich weinend an ihn schmiegte. Nur Bärble hatte die Hände im Schoß gefaltet und blickte, ohne mit der Wimper zu zucken, hinein in den Feuerschein. Mochte auch 116 der Donner noch so betäubend krachen, der Sturm noch so wütend um den leichten Schuppen brüllen, das Rauschen des Wassers im nahen Fluß immer verdächtiger anschwellen, – ihr Atem blieb ruhig und gleichmäßig. Dunkel wie die Welt draußen war ihr Gemüt, wie die Blitze zuckten die Schmerzen durch ihr Herz, betäubend wie der Donner klang es fort und fort in ihr: »Mit dem Bärble ist's eben so ein Gehäng', weiter nichts, verlass' dich drauf, ist mir noch nicht im Traum beikommen, die zu heiraten!« So saß sie still und klaglos, der Aufruhr draußen war ihr Wohltat, die Natur selbst gab ihrem Schmerz Töne und Sprache. Sie hätte versinken mögen in dieser Dunkelheit, diesem Getöse.

Aber so rasch es gekommen, so rasch enteilte das Ungewitter auf den Fittigen des Sturmes. Die tiefe Dunkelheit wich einer grauen Dämmerung. Die Blitze wurden seltener und schwächer, der Donner erstarb als fernes Grollen, der Wind schlief ein, nur der segnende Regen rieselte befruchtend nieder. Mit dem wiederkehrenden Licht erfüllten kräftige Wohlgerüche den Schuppen; als Bernhard die Tür öffnete, lag die Abendsonne rötlich auf den Bergen, und vor den schwärzlichen Wolken wölbte sich strahlend der Bogen des Friedens. – Die neubelebte Natur, der heitere Abendfriede löste den Bann des stummen Schmerzes, der ihr Herz zusammenschnürte, der beklemmende Druck auf ihrer Brust verschwand, – Bärble warf sich in den Schoß ihrer Freundin und weinte!

»Gott sei gepriesen!« schluchzte Dorle und drückte Bärbles Hände. »Du kannst weinen, – das Schlimmste ist überstanden!«

Bernhard nahm wieder Platz neben Dorle und sah 117 sinnend hinein in die fallenden, glänzenden Tropfen. Ja, ein Sturm in der Natur, so schrecklich er sich anläßt, zuletzt wird er doch dem Ganzen zum Segen, reinigt die Luft, erquickt Tiere, Menschen und Pflanzen. Freilich, wen der Blitz erschlagen, den macht alle Herrlichkeit nicht wieder lebendig, der zerbrochene Baum verfault am Boden, die vom Hagel zerschlagene Frucht richtet sich nicht wieder auf. Was hilft den einzelnen Betroffenen der Vorteil des Ganzen? – Da hat auch ein Sturm ein Mädchen niedergeworfen, – wird sie liegen bleiben? Wird sie wieder werden, was sie war? Bernhard verfolgte nicht die Irrgänge menschlicher Zweifel, die sich vor ihm auftaten. Er war gewohnt, von Jugend auf zu stehen, zu tragen, zu handeln, – dem Schicksal zu trotzen, wenn es nicht anders anging. Daraus war ihm die Fähigkeit erwachsen, die Dinge nicht schwärzer zu nehmen, als sie sich darstellen, den Kopf oben zu halten, den Sturm austoben zu lassen. Der unwandelbare Glaube seiner Mutter an eine höhere, weise, liebevolle Leitung aller Dinge hatte auch in seiner Brust tiefe Wurzel geschlagen und hob ihn hinweg über kleinliches Sorgen und Zagen. Seine Erfahrungen waren beschränkt, er kannte wenig vom Leben, aber das hatte er oft erlebt und gefunden: Keine Not ist so groß, daß sie nicht zu tragen, nicht zu überwinden wäre; zeigt sich im Augenblick keine Rettung, kein Ausweg, – nur Geduld! Die Hilfe ist da, ehe man sich's versieht; ein Ausgang gefunden, wo man ihn am wenigsten erwartet. Freundlich nahm er Bärbles Hand und sagte: »Wein' dich aus, von Grund aus! – Dann aber, Bärble raff' dich zusammen! Nur wer sich nicht helfen will, bleibt liegen, und du warst ja immer ein starkes, mannhaftes Mädle. Denk' an, wie's 118 meiner Mutter 'gangen ist. – Ihr Schicksal war gewiß nicht leichter als deines, und sie hat's auch überwunden. Merk' dir ihren Spruch: ›Durch Gebet und Arbeit ist alles zu zwingen, davor hält nichts Stand!‹ – Komm' jetzt, das Wetter ist vorüber, aber es gibt noch mehr Regen heut', wir wollen machen, daß wir Bergheim erreichen. – Und jetzt erzähl', was ist dir begegnet?«

Bärble raffte sich auf; mit großen Augen schaute sie im Freien um sich, – wie war die Welt so verwandelt, so groß, so weit, so einsam und öde! Mit Gewalt drängte sie die Tränen, die schon wieder kommen wollten, zurück, – sie gedachte der Reden Rosinens. – Noch war sie schwach, sie konnte nicht mehr an das Leben glauben, – aber liegen bleiben? – Nein! wenigstens vor den Leuten nicht, – sie wollte kein Mitleid!

Zwischen duftenden Getreidefeldern, die ihre Ähren wie in demütiger Dankbarkeit beugten, unter tröpfelnden Obstbäumen schritten sie dahin; mit wehmütigem Lächeln sprach Bärble in sich hinein:

»Es hat einmal geregnet g'ha't,
Die Läubli tröpflen noch;
Ich hab' einmal ein Schätzli g'ha't,
Ich wollt', ich hätt' es noch!«

Leise berichtete sie das Gespräch, das sie vernommen; Dorle ballte die Fäuste und verwünschte Fritz, Bernhard dagegen meinte: »Sei still, Dorle; der Fritz ist nicht wert, daß wir einen Atem an ihn verschwenden. Einen Trost für dich weiß ich nicht, Bärble! – Ach, guter Gott! Ich hab' solches End' ja lang vorausgesehen, und nun ist mir's doch selber, als könnt's nicht möglich sein. – Tröst' dich 119 der liebe Gott! – Vergiß nicht Gebet und Arbeit! – Besuch' meine Mutter, die kann dir mehr sagen!«

Damit schieden Bernhard und Dorle von Bärble, die mit gesenktem Köpfchen auf dem Sulzdorfer Kirchsteig zwischen hochholmigen Getreidefeldern hinschritt. Und die Halme neigten ihre Häupter wie sie, aus den Spelzen der Ähren sanken Tropfen zur Erde, wie aus ihren Augen. Im Abendwind wogten die Halme, beugten sich zu ihr herüber und berührten mit ihren feuchten Spitzen ihre gefalteten Hände, als wollten sie sie trösten. Vor den Hecken der Dorfgärten kam ihr die Türkenbäurin mit dem Strickzeug entgegen. »Um Gottes willen, Bärble, wie siehst du aus, was ist dir begegnet?« rief die erschrockene Frau. »Und wo ist Fritz? – Was soll das bedeuten?« – Sie bekam keine Antwort, Bärble war in den Hecken verschwunden. 120

 


 << zurück weiter >>