Heinrich Schaumberger
Zu spät
Heinrich Schaumberger

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Wiedersehen

In der großen, hellen, freundlich ausgestatteten Eckstube, durch deren offene Fenster würziger Blumenduft aus dem Garten hereinzog, und die zwischen Baumwipfeln hindurch einen Ausblick auf den spiegelnden See gewährten, saß im bequemen Lehnstuhl Fritz und erfreute sich der milden Sonnenwärme! Die durchsichtige Blässe seines Gesichts, der müde Blick der tiefliegenden, glanzlosen Augen, die eingefallenen Wangen zeugten, daß er von einer schweren Krankheit erstanden und, wenn auch genesen, noch gar lange der Ruhe und Schonung bedürfe. Nicht weit von ihm am Fenster saß eine junge Frau, eifrig beschäftigt, allerlei lächerlich kleine Hemdchen, Jäckchen und Häubchen zu ordnen und zum Gebrauch vorzubereiten. Ein glückliches Lächeln lag auf ihrem milden, von der Mutterfreude und Mutterhoffnung verklärten Gesicht; nur wenn ihre Blicke über den stillen Mann im Lehnstuhl glitten, zeigte sich darauf ein Zug ängstlicher, liebreicher Sorge. Es war tief still im Zimmer, nur die zierliche Stutzuhr auf der Konsole tickte eilfertig, und dann und wann summte eine Fliege oder Biene durchs Zimmer.

Fritz hatte sich schon mehrmals über die Stirn gestrichen, jetzt richtete er die großen Augen auf die junge Frau und sagte leise: »Dorle!«

283 »Brauchst du was, Fritz?« rief diese und legte die kleinen Sachen beiseite.

»Bleib sitzen, – magst ein bißle mit mir plaudern?«

»Von Herzen gern! – Gott sei Dank, daß man deine Stimme wieder hört!«

»Ihr wohnt schön, – und wie ihr euch so prächtig eingerichtet habt, – ich komm' mir vor wie im Himmel!«

»Nun, so schlimm ist's schon nicht! Aber es ist wahr, wir dürfen Gott danken! Hätte nie geglaubt, daß wir's so weit bringen würden!«

»Ihr verdient euer Glück!«

»Ja, mein Bernhard ist ein rechtschaffener Mann, einen bessern gibt's auf der weiten Welt nicht!«

Nach einer Pause begann Fritz: »Ich war wohl sehr krank?«

»Du lieber Gott, das glaub' ich!« seufzte Dorle. »Du hast uns Angst eingejagt!«

»Lang?«

Dorle nickte. Fritz sah sinnend durchs Fenster; wieder strich er sich öfter über Stirn und Augen, als wolle er eine Erinnerung, ein Bild da wegwischen. Aber es mußte nicht gelingen, wie mit sich selber im Zweifel, schüttelte er den Kopf und meinte endlich: »Hör', Dorle, mich quält ein Traum aus meiner Krankheit. Darf ich ihn erzählen?«

»Ich bitt' dich darum!« sagte Dorle und legte ihre Arbeit weg.

»Es war wunderlich! An jenem Abend, da ich in eurem Haus zu Bett ging, war mir's so wohl, wie lang' nicht, ich fühlte mich so sicher und geborgen. Ich gedachte nun auch einen rechten Schlaf zu tun, aber der Schlaf blieb aus. Ich wollte ruhen, und doch kam mir eine Lust an, zu 284 fliegen; ich konnte nicht widerstehen, – und im Augenblick flog ich davon. Ach, war das herrlich! Ich schwebte so sanft dahin, es tat mir wohl durch und durch. Bald aber ward mein Flug geschwinder, und immer geschwinder, über Wald und Feld ging's dahin, über Prärien und Seen. Mir ward angst, aber ich konnte nicht anhalten, immer schneller, schneller riß es mich fort. Die Erde verschwand, ich flog durch die Wolken, ich kam hinauf zu den Sternen. Und die Sterne schossen an mir vorüber, lange Lichtschwänze hinter sich, so schnell pfiffen sie vorbei. Danach kam der Mond, – zuletzt auch die Sonne. Jetzt ward es Nacht um mich, aber ich flog immer weiter, – immer weiter, und die Finsternis ward immer dunkler und dichter. Und über meine Einsamkeit und Verlassenheit kam mich ein Jammer an, daß ich bitterlich weinen mußte.«

Dorle beugte sich tief auf ihre Arbeit; Fritz fuhr fort: »Wie aber meine Angst größer ward, wimmelten auf einmal grausige Gestalten um mich, die wollten sich auf mich werfen und mit sich hinabziehen. Und ich arbeitete, mich ihrer zu erwehren; in meiner Angst schrie ich laut, aber die Not ward immer größer. Auf einmal wußt' ich: konnte ich das Bärble erreichen, dann war ich geborgen. Nun war ich auch wieder auf der Erde, und die Gestalten erkannte ich gar gut; das waren der Wagnershannikel, der Veitenpeter, der Herr, der ihn erschoß und die Wilden heulten hinterdrein, und wie ich auch lief, sie kamen mir immer näher.«

Fritz schwieg erschöpft, Dorle aber hatte längst den Kopf auf die Hand gestützt und blickte heimlich durch die Finger auf Fritz, voll Sorge und Spannung. Seufzend begann dieser wieder: »Eben hatten mich die Wilden 285 erreicht und warfen mich zu Boden – da war ich in einem wunderschönen Garten, und – ach, Dorle, das ist's, was mich so peinigt – das Bärble stand neben mir, gab mir liebreich zu trinken und führte mich ins Haus, und alle Not hatte ein Ende. Ich erkannte jetzt auch dich und Bernhard und Rosine, den Jakob und meinen Major, – meine Mutter und Gottfried. Und sie alle winkten mir gar liebreich zu, Bärble blieb aber am Bett sitzen und hielt meine Hand. – Darauf schlief ich endlich fest – fest ein! – – Nun sag', Dorle, ist das nicht wunderlich?«

Dorle hatte das Gesicht auf die Arme gelegt und weinte. »Was ist dir, Dorle – was hast?« fragte Fritz bestürzt.

Dorle konnte sich lange nicht fassen, endlich begann sie leise: »Ich sollte dir's nicht sagen, – aber, Gott verzeih' mir, ich kann es nicht über das Herz bringen. Fritz – das Bärble war wirklich bei dir, das Bärble und der Jakob!«

»Gott im Himmel, Dorle, was sagst du?«

»Nimm dich zusammen, Fritz, daß du mir nicht wieder krank wirst. Guck, in deiner Krankheit tatest du gar so wild und ungebärdig, keinen Menschen ließest du an dein Bett, von niemand nahmst du was an. Manchmal schlugst du wie wild und rasend um dich, danach hast du wieder geweint, daß einem das Herz brechen wollte. Und wie du so ohne Aufhören nach dem Bärble jammertest, meinte der Doktor, dem wir deine Geschichte erzählten, wir sollten sie kommen lassen, vielleicht würdest du ruhiger – mit seiner Kunst sei es bei dir zu Ende. So ließ Bernhard an Jakob telegraphieren, und noch am gleichen Tag kam auch richtig das Bärble mit ihrem Kind, unserem Patchen, und am andern Tag auch der Jakob. Ach Gott, wie das 286 Bärble in dein Zimmer trat, wurdest du ruhig; geduldig fügtest du dich in alle Anordnungen, und von Stund' an besserte es sich mit dir. Acht Tage blieb sie bei uns und pflegte dich fast allein, erst als dich der Doktor außer aller Gefahr erklärte, reiste sie wieder ab.«

Fritz hatte die Hände gefaltet, der Kopf war ihm auf die Brust gesunken, in seinen Wimpern hing eine Träne. Ein leiser Wind wehte aus dem Garten herein, die Baumwipfel rauschten, die Blätter des wilden Weines, der in dichten Ranken die Wände überspann, flüsterten. Schmetterlinge gaukelten im Garten auf und ab, Hummeln und Bienchen summten, ferne auf dem See zogen langsam die weißen Segel dahin, dazwischen kräuselten sich auch die Rauchstreifen der Dampfschiffe, – und in der stillen Stube zitterte ein Mannesherz unter den Schlägen eines herben, selbstverschuldeten Geschickes! Noch einmal krampfte sich sein Herz zusammen, als er sich die ganze Größe seines Verlustes vorstellte, als er sich das Glück ausmalte, das er mit dieser Frau hätte finden müssen, das schon sein eigen war, hätte er es zu schätzen gewußt. Noch einmal bäumte sich seine Seele im wilden Schmerz gegen die selbstgeschaffene Armut, verlangte sein Herz nach Liebe, wollte seine Verlassenheit nicht ertragen! – – Aber die Macht des Schmerzes war doch gebrochen, er vermochte nicht mehr die ganze Seele zu erfüllen und zu verfinstern. Fritz war ja nicht mehr verlassen, nicht mehr ausgestoßen. Bernhard und Dorle hatten ihn mit brüderlicher Liebe aufgenommen und stießen sich nicht an seiner Vergangenheit; auch Bärble war zu ihm geeilt, hatte sich seiner angenommen in höchster Not, – also auch sie hatte ihn noch nicht vergessen, – mehr noch, sie vertraute ihm, war ihm eine 287 Schwester geblieben, wie sie versprochen! – Tief atmete Fritz; war das nicht mehr, als er verdiente? – Auch Jakob war noch der alte treue, hingebende Bruder, und Bärble war glücklich – glücklich! – Fritz ward es warm im Herzen! – Die wahre, lautere, selbstlose Liebe hatte in ihm gesiegt, – und schon empfand er den Lohn der Selbstüberwindung. Stille ward es in seiner Seele, die Sonne des Glückes war freilich untergegangen, aber ein heiteres Abendrot leuchtete mild herein in sein Leben, das war Bärbles schwesterliche Zuneigung! – Was er geahnt, gehofft und ersehnt, es war ja eingetroffen, Bärble hatte ihm geholfen, wenn auch anders, als er erwartet! Und nun war ja auch sein Leben nicht mehr verödet, nicht mehr nutz- und ziellos! Eine große Aufgabe lag vor ihm. Es galt jetzt, Bärble zu danken, ihr Vertrauen zu ehren durch ein rechtschaffenes, tätiges Leben! Und mit dem Gelöbnis: um ihretwillen werde ich ein rechter Mann, – war Fritz in ein neues Leben eingetreten.

Dorle beobachtete Fritz ängstlich; als er den Kopf gar nicht wieder heben wollte, trat sie zu ihm und fragte: »Fritz – es fehlt dir doch nichts?«

Fritz drückte ihre Hand. »Hat sie mir gar kein Zeichen, kein – Angedenken hinterlassen?«

»Ach Gott, Fritz, was hab' ich gemacht!« klagte Dorle. »Wenn du wieder krank würdest, – was fing' ich an?«

Fritz schüttelte den Kopf. »Nichts – keinen Gruß? – gar nichts?«

»Ach freilich, doch – aber darf ich dir's geben? – Wirst du mir nicht wieder krank?«

»Ich bin gesund, und wenn du was hast von ihr, das stellt mich vollends her!«

288 »In Gottes Namen denn! – Da ist ein Brief! – Ich meine selber, es könne dir nichts schaden, bekommst du ein Zeichen von ihr!«

Fritz drückte das Papier mit ihren Schriftzügen heftig an sein Herz, dann griff er nach seinem Stock. »Dorle, das muß ich allein lesen! – Ängstet euch nicht um mich, mir geschieht nichts, nun werde ich bald gesund! Grüß' Bernhard und die Rosine, und – laßt mich bis morgen allein!«

Dorle sah ihm lange nach; als sie zu ihrem Stuhl zurückkehrte, wischte sie sich die Augen und blickte lange hinaus über Garten und See.

In seinem Kämmerlein saß indes Fritz am Fenster und blickte auch hinweg über den spiegelnden See in das glühende Abendrot. In der Hand hielt er einen offenen Brief; die Schriftzüge waren oft verwischt, neben den Spuren vertrockneter glänzten frische Tränen. Fritz hob oft den Brief und las ihn immer wieder durch. Bärble schrieb:

»Lieber Bruder Fritz!

Ich schreib' Dir mit Vorwissen meines Jakob, und ob er es gleich nicht tun will, muß er den Brief auch lesen. Ich bin eine Frau, – Du weißt schon, wie ich das meine.

So sei denn viel tausendmal gegrüßt, viellieber Bruder! Und jetzt, da ich schreibe, vergehen mir beinah' die Gedanken, und hätt' Dir doch alsoviel zu sagen!

»Ja, ich bin des Jakobs Frau! Mußt Dich darüber nicht kümmern und grämen. Und gelt, mir bist Du auch nicht bös deswegen? Und weil ich denk', daß Dich das freuen wird, schreib' ich das auch her, ich bin eine 289 glückliche Frau und hab' einen rechten (das Wort war unterstrichen), gar guten Mann. Du kennst ja den Jakob auch.

Guck, Fritz, Du mußt halt denken, es hat nicht sein sollen mit uns. Mir ist's auch nicht leicht 'worden, bis ich mich dreingefunden hab'. Aber nimm Dir's nur rechtschaffen vor, nachher kommst du schon drüber weg. Mußt immer dran denken, die Lieb' ist nicht das einzige in der Welt, es gibt mehr, und größeres und besseres. Da ist vor allem die Bravheit und Rechtschaffenheit, die geht über alles, und ein gutes Gewissen, das weißt Du ja auch.

Hat mich recht gejammert, daß Du immer meinst, Du wärst kein rechter Mann, und wenn Du mich nicht zur Frau kriegst, würdest Du auch keiner. Du guter, lieber Mensch, Du! Aber das ist zweifach falsch, und den Gedanken mußt Du aufgeben, ich bitt' Dich recht ernstlich darum.

Wer solche Schicksale durchmacht wie Du, der ist ein rechter Mann, das ist mein Ernst. Danach ist's die Frag', ob wir wirklich so gut zusammen gepaßt hätten, und ob ich Dir hätt' helfen können. Also denk' nimmer so und mach' Dich nicht selber traurig.

Ich muß Dir auch sagen, ich und mein Jakob sind zufrieden miteinander, und wie mein Dorle (der Bernhard und seine Frau sind unsere Gevattersleut'!) auf die Welt kam, waren wir recht glücklich. Es hat uns nur eines gefehlt, daß wir nichts von Dir hörten. Ist kein Tag vergangen, wo wir nicht von Dir redeten, und wünschten Dir von Herzen alles Glück und Gottes Segen.

Lieber Bruder Fritz, es hat mir schwer auf dem Herzen gelegen, daß ich Dich damals so hart angelassen hab', – Du weißt schon, was ich meine. Aber Du lieber Gott im 290 Himmel droben, ich war in der Angst und wußt' nimmer, wo aus noch ein. Bös hab ich's ja gewiß nicht gemeint, – gelt, das glaubst Du? – So, nun wär' das auch vom Herzen 'runter!

Und nun bitt' ich Dich aufrichtig als Deine Schwester, laß dem Jammer und den bösen Gedanken nicht soviel Gewalt über Dich. Werd' wieder frisch und fröhlich, tu's meinet- und auch Deiner Eltern willen, deren einziger Trost du jetzt bist. Guck, wenn ich Dich erst so recht von Herzen zufrieden und fröhlich wüßt', danach wär' ich ganz glücklich und wollt' mir auf der Welt nichts mehr wünschen.

Also grüß' ich Dich vielmals, lieber Bruder, und der Jakob auch und wünsch' Dir baldige Besserung und gänzliche Gesundheit.

Und es grüßt Dich vielmals

Deine

treue Schwester
Barbara Roschlauin.
       

Und sei ja nicht mehr traurig, lieber Bruder. Vergiß nicht, die Lieb' tut's nicht allein in der Welt. Und Du wirst bald eine viel bessere finden als mich, und ein ordentliches Hochzeitsgeschenk soll von uns nicht ausbleiben.

Ja, – ich komm' noch einmal. Ich hab' Dir ja noch gar nichts von meinem Dorle geschrieben. Das ist Dir ein prächtig's Mädle, Du hättest gewiß auch Deine Freude an ihr. Der Jakob behauptet, sie sei mir wie aus den Augen geschnitten, aber ich find', daß sie in allen Stücken ihrem Vater gleicht. – Und vergiß ja nicht, was ich Dir 291 gesagt hab'. Jetzt leb' wohl, und wenn Du kannst, gib bald eine Nachricht, wie's mit Dir steht.«

Das Abendrot verglühte, die goldenen Sterne blitzten einer nach dem andern auf am tiefdunkeln Himmel, – und Fritz saß noch immer mit dem Brief in der Hand am Fenster und schaute hinauf in die unendliche Ferne. Ein stiller, heiterer Friede erfüllte seine Brust, die dunkeln Schatten waren verschwunden, die Vergangenheit überwunden, – begraben in die tiefsten Tiefen seines Herzens. Da sollte das Bild Bärbles und seine Liebe im stillen fortglühen und fortleben; als sein Heiligtum, als das höchste Gut seines Lebens wollte er es hüten und pflegen. Vor der Welt aber mußte er jetzt der ernste starke Mann sein, mußte zeigen, daß die Zeit und ihre Prüfungen nicht vergebens an ihm gearbeitet, durch Taten mußte er die Versäumnisse der Jugend ausgleichen, sühnen. Er faltete die Hände; in der Stille der Nacht stieg manches ernste Gelübde zum Himmel empor. Das Bild seines zukünftigen Lebens stand klar und bestimmt vor ihm; Glück verhieß es ihm nicht, aber Ruhe, ein heiteres Gemüt und wenn auch ein einsames, so doch befriedetes Alter. Nicht sich, – allein seinen Nebenmenschen wollte er hinfort leben.

Es war schon spät, als er sich endlich erhob. »So!« sagte er leise, »und nun fort mit allen Gedanken, – ich will schlafen!«

»Nun Gott sei Dank, du schläfst ja wie ein Daus!« rief Bernhard fröhlich, als Fritz am Morgen die Augen aufschlug. »Wir waren doch recht in Angst, die Nachrichten und der Brief könnten dich wieder aufregen. Nun ist ja alles gut! Komm' jetzt herunter, damit sich das Dorle mit eigenen Augen überzeugt, daß dir nichts geschehen ist. Und 292 willst du noch einen Stein im Brett bei ihr gewinnen, so sag', der Junge sei mir wie aus den Augen geschnitten.«

»Bernhard, – ist's möglich?«

»Ja, es ist alles glücklich vorübergegangen!« sagte Bernhard, dem Freudentränen über die Wangen rollten. »Komm' nur jetzt herunter!«

Ein leichtes Rot der Freude flog über die blassen Wangen der jungen Mutter, als nun Fritz eintrat. Rosine mußte ihm den jungen Erdenbürger entgegenbringen, und Dorle rief: »Nun sag' selber: gleicht er nicht seinem Vater aufs Haar? – Ja betracht' nur den Buben recht, er geht dich auch was an. – Du wirst doch sein Pate, nicht?«

»Wär's euer Ernst?« rief Fritz, und das Rot der Freude kam über ihn.

»Haben's schon lang' unter uns ausgemacht so!« sagte Bernhard.

Fritz hielt die Hände des glücklichen Ehepaars lange fest, dann sagte er bewegt: »Ich dank' euch so recht von Herzensgrund, und will's Gott, soll sich der Bube dereinst seines Paten nicht zu schämen brauchen. – Aber ich hätte nun auch eine rechte Bitt': nehmt den Jakob noch zum Paten!«

Dorle, Rosine und Bernhard tauschten Blicke herzlicher Freude; da eben der kleine Namenlos erwachte und sogleich herzhaft schrie, sagte Bernhard: »Es bleibt dabei! Ich versteh' dich, Fritz, und wenn mir heute noch was eine Freude machen konnte, so ist es das. Nun wollen wir aber fort, wir sind, wie ich merke, gänzlich überflüssig!«

Nachmittags saß Fritz auf seiner Stube, Tinte und Papier vor sich, die Feder in der Hand. Aber das Schreiben wollte keinen rechten Fortgang nehmen, oft starrte er 293 träumend durchs Fenster, oft stützte er das Gesicht in beide Hände. Ja der Brief an die Eltern – in Gedanken schrieb Fritz nur an Mutter und Bruder – ward ihm nicht leicht. Aber er bezwang sich, hielt den Erinnerungen Stand und kämpfte mannhaft gegen den neuerwachenden Schmerz. Er bestand die Probe, die er sich selber auferlegt. Einfach, aber wahrhaftig und treu schilderte er seine Erlebnisse – was hatte er alles zu berichten! Zuletzt bat er Mutter und Bruder um Verzeihung, versprach gut zu machen, ihre Liebe und Treue zu vergelten, soviel in seinen Kräften stehe. Fritz atmete tief auf, als er endlich die Feder aus der Hand legte. Der Brief war ja freilich nicht nach Wunsch ausgefallen, was ihm so warm und lebendig im Herzen aufquoll, wie kalt und trocken nahm es sich auf dem Papier aus! Aber er ließ die Feder ruhen; sein Herz selber konnte er doch nicht ab- und ausschreiben, und in der Hauptsache enthielt der Brief alles, was zu sagen nötig war. Träumend lehnte er sich in den Lehnstuhl zurück, in Gedanken verfolgte er den vor ihm liegenden Brief auf seiner weiten, gefahrvollen Reise. – Wird er auch sein Ziel erreichen? – Und wenn, – wie wird es bei seiner Ankunft in der Heimat stehen? – Jetzt fiel ihm die Kränklichkeit Gottfrieds, von der ihm Rosine freilich nur andeutungsweise berichtet, schwer aufs Herz. War er schon tot? – Kam vielleicht sein Brief auch für die Mutter zu spät? – Zu spät! – Da waren sie wieder, die alten Zweifel und Nöten! – Aber sie fanden nicht den alten Menschen! Wenn der Brief wirklich Mutter und Bruder nicht mehr am Leben traf, so war es freilich eine harte Strafe mehr für ihn, aber zu spät kam er deswegen doch nicht. Was lag zuletzt auch an dem Brief? Nicht die 294 Nachrichten, die er enthielt, machten ihn so wichtig, sondern die innere Umkehr, von der er ein lebendig Zeugnis war. Und diese geschah im Geist der Mutter und des Bruders; was er jetzt zu werden sich fest vorgenommen, das war auch ihre Sehnsucht, ihre Hoffnung gewesen. Mochten auch Länder und Meere sie scheiden, mochten die Lieben daheim vielleicht schon Ruhe gefunden haben auf dem stillen Gottesacker neben der Kirche, sie waren nicht mehr von ihm getrennt, im Geist hatten sie sich gefunden und vereinigt für immer. »Zu spät!« sagte Fritz mit leisem Lächeln. »Ja freilich, wollte ich noch nach Glück und Herrlichkeit trachten wie sonst – dazu ists zu spät; sonst aber hat das Wort keine Bedeutung mehr für mich!«

Der Brief ging ab. In den ersten Tagen kam ihm die Botschaft, die von ihm unterwegs war, nicht aus den Gedanken, es war ihm so wunderlich, fast als ob ein Stück von ihm selber, ein Teil seines Lebens und Wesens nun durch die Welt laufe, einem ungewissen Geschick entgegen. Und die Möglichkeiten alle, die den Brief von seinem Ziel ablenken, vernichten konnten, machten ihn oft ernstlich unruhig, zuletzt zwang er sich, gar nicht mehr an den Brief zu denken.

Und nun folgten stille, gar wundersame Tage. Die junge, bleiche Mutter, der ernste, bleiche junge Mann, beide vom Krankenbett erstanden, der Ruhe und Stärkung noch sehr bedürftig, aber doch schon von der wiederkehrenden Gesundheit mit einem leisen Hauch von Lebensmut und Hoffnungsfreude angeweht, sie saßen meistens zusammen in der freundlichen Eckstube, oder im sonnigen, blühenden und duftenden Garten. Mit besonderem Eifer nahm sich Fritz des Buben an; es ward ihm so wunderlich, wenn er 295 das kleine Wesen auf den Knien wiegte. Eine Ahnung von dem höchsten und reinsten Glück dieser Welt ging ihm wie fernes, verhallendes Klingen durch die Seele, mit stiller Wehmut empfand er die Armut seines Lebens, dem die Vaterfreude versagt blieb. Aber nur wehmütig machte ihn dies Gedenken, nicht traurig. Mit Wonne belauschte er die Lebensregungen der knospenden, keimenden Menschenpflanze, sinnend blickte er hinein in die hellen Kinderaugen, als wolle er das Geheimnis des Lebens, welches ihm so wundersam daraus entgegenleuchtete, ergründen, und mit seliger Lust drückte er das unschuldige Kind an sich, dem er nicht mehr fremd war, das er lieben durfte, das ihn wieder lieben sollte. »Fritz, Fritz«, scherzte oft die glückliche Großmutter, die sich bei ihren Kindern völlig verjüngte, »du machst mich noch ganz eifersüchtig! Meinst du denn, der Bub' ist nur allein für dich da?«

So gingen die Tage hin, der Bube gedieh fröhlich, die Wangen der Mutter röteten sich und Fritz erfreute sich der Rückkehr seiner Kräfte. Dann erhob sich eines Tages großes Getöse in dem bisher so stillen Hause, Fritz ward mit dem Buben in den Garten geschickt, und Bernhard erklärte, es müsse eine wahre Scheuerwut über die Weiber gekommen sein, man sei seines Lebens nicht mehr sicher. Doch fehlte es auch nicht an Trost in dieser Männertrübsal; gegen Abend verbreiteten sich aus der Küche verheißungsvolle Düfte durchs Haus, und eine festlich erwartungsvolle Stimmung wehte treppauf treppab, durch Gang und Zimmer.

Wieder einmal saß Fritz am Fenster, blickte über den See hinweg in das erlöschende Abendrot, blickte auf zu den funkelnden Sternen, aber die ewige Ruhe und Heiterkeit, 296 die aus der Unendlichkeit herabwehte, stillte das bange Klopfen seines Herzens nicht. Er sollte sie wiedersehen, – sehen und sprechen, morgen schon! Oft überlief ihn ein Frostschauer, dann glühte er wieder. Manchmal kam es über ihn, als müsse er fort, auf und davon, je weiter, desto besser; dann hießen ihn wieder Gedanken bleiben, die er begraben gemeint hatte, die er nicht hören wollte, nicht durfte. Plötzlich richtete er sich stramm auf, strich die verwirrten Haare zurecht und sagte: »Wozu die Plage? Bin ich die Torheit noch immer nicht los? Was will ich? Bärble ist meine Schwester, – sonst nichts! Als Geschwister sehen wir uns, – ist damit nicht alles gesagt und gegeben? Soll ich ihr Bitten abermals überhören, ihr Vertrauen zu Schanden machen? – Fritz, Fritz! Schrieb sie nicht: ›Laß den bösen Gedanken keine Gewalt über dich, tu's meinet- und deiner Eltern willen, deren einziger Trost du jetzt bist. Wenn ich dich so recht von Herzen fröhlich und zufrieden wüßt', danach wär' ich ganz glücklich, und wollt' mir auf der Welt nichts mehr wünschen!‹ – Soll sie das abermals in den Wind geredet haben? – Nein, ich muß es zwingen, dabei bleibt's! – Und jetzt will ich schlafen, – schlafen!«

Es gelang, er schlief ein, und keine bösen Träume störten seine Ruhe. Mit hellen Augen blickte er hinein in das Morgenrot, die Gedanken in seiner Seele waren mehr ein Gebet für sein Patchen, dem er heute seinen Namen schenken wollte, als eine Bitte um Kraft und Stärke für die schwere Stunde.

Und doch ward es ihm heiß in der Brust, als er Bernhard aus dem Hause kommen sah. Da geht er hin zum Bahnhof, – jetzt pfeift auch schon die Lokomotive, – 297 jetzt steigt sie aus, kommt näher und näher. Wie wird sie kommen? Bleich oder rot, sehnsüchtig oder gleichgültig? »Narr ich!« schalt sich Fritz. »Weiß ich nicht aus ihrem Brief, daß sie als glückliche Frau, als brave, rechtschaffene Ehefrau kommen wird? – Ausgehalten, heißt es jetzt, es werden noch mehr Prüfungen über mich kommen!«

»Sie sind da!« flüsterte Rosine in der Tür. »Sie sind da und warten auf dich! – Fritz, – es wird dich doch nicht zu sehr angreifen? – Es ist dir doch ganz wohl?«

»Ich danke Euch, Rosine! Wie seid Ihr doch so gut!« entgegnete Fritz herzlich. »Laßt mich nur und seid ganz außer Sorgen, ich werde auch gleich kommen!«

Die Tür schloß sich und Fritz ging langsam auf und ab. Er konnte es nicht hindern, das Wasser trat ihm doch in die Augen und sein Herz klopfte rasch und heftig. Wie ein Blitz huschte seine Vergangenheit an ihm vorüber, und er preßte die gefalteten Hände vor die Augen. Aber nur eine Sekunde. »Vorbei!« seufzte Fritz und wusch sich die Augen hell. »Das muß die letzte Schwachheit gewesen sein. Es ist ja nur der erste Augenblick, den ich so arg fürchte. Ausgehalten!« flüsterte er, als er festen Schrittes die Treppe hinabschritt; »Ausgehalten! Ich bin der Mann, – das Bärble soll sich meiner nicht zu schämen brauchen!«

In der Stube hörte er nur leise flüstern, gewiß waren die Freunde nicht weniger befangen als er. Jetzt öffnete sich die Tür, ein Nebel legte sich über seine Augen, er sah nur Bernhard und Jakob. Aber vor dem hellen, treuen aufrichtigen Blick Jakobs verschwand aller Dunst, alle Befangenheit; im Herzen ward es ihm leicht und warm, am Hals des alten, treuen Freundes ward auch die letzte Not 298 rasch überwunden. Und nun kam alles wie von selbst. Jakob führte Fritz zu Bärble, die blühte und glühte wie eine Rose; er fühlte ihre Hand in der seinen, sah ihre tiefen Augen auf sich ruhen, – und nichts von allem, was er befürchtete, traf ein, es war eben die Schwester, die er wiederfand, die er mit aufrichtiger Herzlichkeit begrüßte. Mit Jubel drückte er dann das kleine Wesen an sich, das ihm so verwundert von Bärbles Schoß entgegenblickte, – das waren ja ganz die Augen ihrer Mutter. Und nun war der Bann gebrochen, alle Anwesenden atmeten auf, die Herzen schlugen freier, nun erst erfreute man sich der Gegenwart. Nur als Fritz das kleine Dorle gar nicht von sich lassen wollte, neckte Rosine: »Ei, ei, Fritz! hast du dein Patle schon vergessen?«

Mit tiefer Rührung wohnte er dem Taufakt bei, und es ward Fritz gar wunderlich, als danach der kleine Bursche mit seinem Namen gerufen wurde. Das war ein neues Band, das ihn mit der Welt verknüpfte, und es tat ihm nur leid, daß nicht auch das kleine Dorle sein Patchen sein konnte. Jakob mußte fast seine Gedanken erraten, denn als nachher beim fröhlichen Mahl die Gläser klangen, stieß Jakob besonders mit ihm an und sagte: »Und wenn ich einmal wieder einen Gevatter brauche, darf ich zu dir kommen?« Darauf konnte Fritz nur mit herzlichem Händedruck antworten.

In trautem Verein saßen die Freunde zusammen. Von der Vergangenheit ward nicht geredet, auch nicht über Fritzens Zukunft. Es hatte tiefe Bewegung hervorgerufen, als Fritz auf eine Neckerei Dorles ernst entgegnete:

»Ich bleibe ledig, – das steht fest. Tut mir den einzigen Gefallen und glaubt mir diesmal. Ich weiß, was ich 299 will! Ich kann nicht freien, ich kann nicht und darf auch nicht! – Laßt's genug sein damit!«

Die Frauen verließen das Zimmer. Jakob drückte Fritz die Hand und sagte: »Ich kann dir zwar nicht eigentlich recht geben, doch versteh' ich dich und achte dich darum um so mehr. – Übrigens soll dir dein Wort hier kein Hindernis sein, würdest du doch einmal andern Sinnes!«

Damit war das abgetan und fand keine weitere Erwähnung. Und die anfängliche Wehmut wich allgemach einer herzlichen Fröhlichkeit, tief im fernen Westen Amerikas erklangen deutsche Lieder und deutsche Trinksprüche. »Wir feiern die Taufe meines Ersten,« sagte Bernhard nicht ohne Stolz, »und zugleich den Abschied meines lieben Gevatters, – doppelte Ursache, die Gegenwart zu genießen. Auf, laßt die Gläser klingen! Auf wahrhaftige Freundschaft für alle Zeit!«

Jakob und Bärble wollten allerdings mit dem Abendzug wieder fort, darüber lachte aber Bernhard und Dorle, – danach gestanden sie selber, daß es ihnen mit dem Aufbruch gar nicht so rechter Ernst gewesen sei.

Die Fröhlichkeit unterbrach am nächsten Tag ein an Fritz gerichteter, schwarz gesiegelter Brief. Seine Hand zitterte merklich, als er das Siegel löste; kaum hatte er die ersten Zeilen überflogen, als er das Schreiben sinken ließ. »Meine Mutter und mein Bruder sind tot!« sagte er leise zu den ängstlich Harrenden. »Ich will auf mein Zimmer, den Brief muß ich allein lesen. Bleibt zusammen und erwartet mich, ich bin bald wieder bei euch!«

Auf seinem Zimmer überflog er das längere Schreiben. Im Auftrage des Vaters teilte ihm der Bergheimer Pfarrer nach kurzer Einleitung mit: 300

»Ihre Frau Mutter war sehr schwach, der Tod Gottfrieds verzehrte ihre letzte Kraft, niemand glaubte, daß sie das Leichenbegängnis überleben würde. Während des Trauergottesdienstes kam Ihr Brief an – welchen Eindruck sein Inhalt auf Ihre Eltern, auf die Leidtragenden, auf uns alle machte, mögen Sie sich vorstellen. Allen Anwesenden kam das Wasser in die Augen über die wahrhaft wunderbare Verklärung, die uns vom Angesicht Ihrer Frau Mutter entgegenschimmerte, die Frau war fast nicht mehr zu erkennen. Kein Wort kam über ihre Lippen, Ihren Brief drückte sie fest – fest auf ihre Brust und mit schimmerndem Auge blickte sie nach oben. Was mögen in ihrem Herzen für Gebete lebendig geworden sein!

Die Verwandten und Nachbarn, auch Ihr Vater, hofften, die Freude würde die Bäurin kräftig und neu beleben, – ich aber sah bald, daß es dem nicht so war. Solcher Glanz liegt nur auf einem Gesicht, dessen Augen schon den Himmel offen sehen! Ich blieb die Nacht bei Ihrer Frau Mutter, o, diese Stunden werden mir ewig unvergeßlich sein. Was habe ich von dieser einfachen, schlichten Frau gelernt! – Weinen Sie, Ihre Mutter ist Ihrer Tränen wert! – – Von Ihnen ward viel geredet, noch oft mußte ich Ihren Brief vorlesen, besonders die Stellen, wo Sie von Ihrer Liebe reden und gründliche Umkehr geloben. Erst gegen Morgen schlief sie ein, erwachte nach kurzer Zeit, ergriff meine Hand, zog mich nahe an sich und flüsterte: ›Schreiben Sie meinem Fritz, sein Brief hat alle Leiden meines Lebens reichlich aufgewogen. Ich hinterlasse ihm meinen besten Segen und der Herrgott wird ihn auch segnen. Sagen Sie ihm, er soll das Bärble und den Jakob, die Rosine, den Bernhard und sein 301 Dorle grüßen von mir und meinem Gottfried, und ich wolle Gott bitten, daß er ihnen vergelte, was sie an meinem Sohn getan haben, – Fritz soll brav bleiben und gut, soll die Armen nicht vergessen und den letzten Willen seines Bruders in Ehren halten. – Ich hab' meinen Fritz immer geliebt und ihm vertraut, das schreiben Sie ihm auch, und er soll manchmal an mich und seinen Bruder denken und unsere Gräber besuchen!‹ – Nach einer kleinen Weile begann sie: ›Gott im Himmel droben, wie dank' ich Dir, daß Du mich das noch hast erleben lassen! – Ich sterbe in Frieden, Herr Pfarrer schreiben Sie das meinem Fritz, es ist ja jetzt alles, alles gut! – Ja, und auch das noch: er soll seinem Vater ein treuer Sohn sein allezeit und nicht vergessen, es ist eben doch sein Vater, was auch vorgekommen sein mag. – So!‹ dabei strich sie die Bettdecke glatt. ›So, nun ist alles in Ordnung, ade Welt, – Herr, in Deine Hände befehle ich meinen Geist!‹ – Noch ein Seufzer, – Ihre Frau Mutter war nicht mehr.

Ich habe mit Absicht die letzten Augenblicke der Seligen ausführlich berichtet, einmal war es mir selbst Bedürfnis, sodann glaube ich, daß Ihnen das ein Trost, eine Beruhigung sein wird. Mit meinem Trost will ich Sie verschonen. – Was sie mit dem letzten Willen Ihres Bruders meinte, habe ich nicht erkunden können, auf meine betreffende Frage ward ich von Ihrem Vater ziemlich barsch abgewiesen. Doch meint Base Lene, die seit dem Wegzug unserer lieben Rosine, welche ich von mir herzlich zu grüßen bitte, dem Hauswesen Ihrer Eltern vorstand und auch in Zukunft vorstehen wird, es könne sich das nur auf die Frau Barbara Roschlau beziehen, da aus Gottfrieds letzten Reden unzweifelhaft hervorgehe, daß er 302 gleich Ihnen das Veitenbärble geliebt haben müsse, daß vielleicht der Kummer, den er so lange heimlich trug, sein Ende beschleunigte. Doch sind das Berichte, für deren Wahrheit ich begreiflich nicht einstehen kann.

Im Auftrage Ihres Herrn Vaters teile ich Ihnen ferner mit, daß er Ihre baldige Rückkehr wünscht und erwartet; als Reisegeld händigte er mir hundertfünfundsiebzig Gulden ein, die ich in einer Einhunderttalernote beischließe. Der Herr Brehm befindet sich wohl, er ist fast rüstiger als früher, steht seiner großen Wirtschaft wacker vor und hat nur noch einen Wunsch, Sie recht bald gesund und frisch wiederzusehen.«

Mit herzlichen Versicherungen persönlicher Teilnahme hatte der Bergheimer Pfarrer den Brief geschlossen.

Fritz ließ seinen Tränen freien Lauf, warum sollte er auch nicht? Ach, ein Mutterherz ist wohl der Tränen wert und nun gar ein solches! Fast wollte sich etwas wie Bitterkeit gegen sein Schicksal in ihm regen, warum konnte er die Mutter nicht wenigstens wiedersehen, an ihrem Sterbebette stehen und ihr die Augen zudrücken? – Aber der Brief selbst ließ solche Gedanken nicht aufkommen. Er hatte den Segen der Mutter, sie war in Frieden gestorben, hatte ihm ihre Liebe, ja ihr Vertrauen versichern lassen, – durfte er noch klagen? Und noch mehr, sie hinterließ ihm eine Aufgabe. »Vergiß die Armen nicht!« O, er wußte, was das in ihrem Munde besagte. Der Vorsatz, ihr auch hierin gleich zu werden, nahm den letzten Stachel aus seiner Seele, es war nur noch wehmütige Trauer, was seine Augen überfließen ließ.

Auch Gottfried vergaß er nicht; die Bestätigung seiner früheren Ahnung, auf die er freilich in seiner leichtfertigen 303 Weise nicht besonders geachtet hatte, – jetzt erschütterte sie ihn. Welch heldenmütige, große Seele hatte in dem schwächlichen Körper gewohnt! So zu überwinden, so zu entsagen, freiwillig, ohne Murren und Klagen sein eigenes Glück zum Opfer zu bringen, – was das bedeutete, Fritz verstand es. Mit demütiger Verwunderung blickte er zu dem Heimgegangenen auf; was der Geschiedene im Leben nicht hatte erreichen können, das gelang ihm im Tode: Fritz erkannte, verstand ihn, ja, er dankte ihm; nicht allein für das, was er an ihm getan und hatte tun wollen, nein, auch für den Wink, den er ihm noch vom Sterbebett gegeben. Er wußte, was Gottfrieds letzter Wille allein konnte gewesen sein, und wie eine Befreiung aus letzter Not erschien ihm das Gelöbnis: in allen Stücken des Bruders Vermächtnis heilig zu halten und zu erfüllen.

Gefaßt schritt er hinab zu den harrenden Freunden, Bernhard mußte den ganzen Brief vorlesen. Die Nachricht über die letzten Augenblicke der Bäurin rührten tief, fast noch größere Erregung rief jedoch die Kunde von Gottfrieds heimlicher Liebe hervor. Rosine nickte weinend und sagte: »Ich hab' das lang' gewußt!« Als Fritz danach erzählte, wie Gottfried schon früher um sein und Bärbles Wohl besorgt war, welche Vorschläge er ihm gemacht, für den Fall, daß Bärble in Amerika einwillige, seine Frau zu werden, – da weinte Bärble laut, selbst Jakob wischte sich die Augen und sagte: »Ein braver Mensch, bei Gott! Das hätte ich nicht hinter dem stillen, einfachen Menschen gesucht! Sein Tod ist auch mir eine Mahnung! Bärble, es ist mir ein rechter Trost, daß wir auf geradem Weg' zusammengekommen sind, und daß ich für dich getan, was ich gekonnt! Müßt' ich vor dem Toten die Augen 304 niederschlagen, keine ruhige Stunde hätt' ich mehr! – – Fritz, gib mir die Hand und dem Bärble auch, wir sind jetzt in Wahrheit echte, rechte Geschwister, dein Bruder, der Gottfried, hat uns für alle Zeiten fest verbunden. Wir können sein Andenken nicht anders ehren, als daß wir zusammenstehen in herzlicher Eintracht und Liebe alle Zeit!«


Die Freude des Tauffestes war durch die Trauernachricht freilich gestört, Jakob und Bärble rüsteten sich bald zum Aufbruch und Fritz sah ernst und wehmütig drein. Die Tröstungen der Freunde hatte er abgewiesen, er bedurfte des Trostes nicht, selbst Rosine bewunderte seine stille Ergebung, sein gefaßtes Wesen. Als ihn beim Abschied Jakob dringend zu einem Besuch auf seiner Mühle einlud, sagte er: »Ich komme gewiß, aber heute und morgen nicht, – vielleicht erst, wenn du mich als Gevatter zu dir rufst!« Als ihn alle verwundert ansahen, fuhr er fort: »Ich denke nicht daran, jetzt schon heimzukehren. Der Vater ist rüstig und durch die Base Lene versorgt; ich werd' ihm schreiben: wird ihm die Last mit den Gütern zu groß, mag er sie verpachten und sich zur Ruhe setzen. Ich will jetzt in Amerika das Versäumte nachholen, sehen und lernen; will nicht als ein Lump heimkehren, dem man von daheim das Reisegeld schicken muß. Der Hunderttalerschein gehört meinem Patle, ist mein Patengeschenk! – Nur keine Einrede, ich bin nimmer der alte Türkenfritz! Ja, ich will jetzt lernen, aber auch arbeiten und schaffen, ich gehe nicht eher nach Deutschland zurück, – es müßte denn eine Krankheit meines Vaters dreinkommen, – bis ich wenigstens einen Teil des 305 verspielten Geldes erarbeitet habe. – Ja, das ist mein Entschluß, und dabei bleibt's!«

»Dagegen ist nichts zu sagen!« rief Jakob fröhlich, während die Freude von allen Gesichtern leuchtete. »Bleib' dabei, du wirst's nicht bereuen. Nur vergiß deine Geschwister in Madison nicht, bis zur Taufe meines Buben – brauchst nicht rot zu werden, Bärble – bis zur Taufe meines Buben, das ist viel zu lang, bis dahin hab' ich nicht Geduld, du mußt eher kommen, und auf vier Wochen richte dich nur gleich ein, früher kommst du nicht wieder aus meinem Haus!«

»Nu, nu, vorläufig haben wir noch unsern lieben Gevatter und halten ihn fest; nicht, Dorle und Mutter?« scherzte Bernhard. »So geschwind lassen wir ihn uns auch nicht nehmen. Vorläufig bleibt Fritz bei uns, er ist noch zu schwach, als daß wir ihn unter fremde Leute lassen könnten, und zu sehen, zu lernen, zu arbeiten und zu schaffen gibt es in Milwaukee so viel Gelegenheit, als anderwärts. Ich habe schon eine Stelle für ihn in Aussicht, und wenn es irgend angeht, soll er überhaupt Milwaukee und uns nicht verlassen. Aber das wollen wir gleich ausmachen: alle halben Jahre kommen wir zusammen, einmal bei dir, Jakob, einmal bei mir; ist's recht?«

»Es gilt!« sagte Jakob, und auch Fritz schlug herzhaft ein in die dargereichten Hände. Wenige Minuten noch, und Jakob und Bärble, selbst das kleine Dorle winkten aus den Wagenfenstern nach ihren Freunden am Bahnhof zurück. 306

 


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