Heinrich Schaumberger
Zu spät
Heinrich Schaumberger

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Harren in der Fremde

Wie fest kleben die Menschen an der Scholle, die sie ihre Heimat nennen, wie verwachsen sie mit dem unbelebten Erdboden, auf dem sie ihre Kinderjahre verspielten und zum Manne heranreiften, wie sind ihre Freuden und Leiden, ja ihre Hoffnungen und Befürchtungen so enge verknüpft mit der gewohnten, vertrauten Umgebung! Ach, wer da sicher wohnt im Erbe seiner Väter, der achtet nicht darauf, wen aber ein rauhes Geschick hinaustreibt in die Fremde, der empfindet es mit herben Schmerzen, wieviel tausend Herzensfäden ihn an die Heimat knüpfen. Und mögen noch so bittere Erinnerungen das Gemüt bedrücken, mögen noch so traurige Erfahrungen und Schicksale den Entschluß zur Reise gebracht haben, die Heimat zu verlassen, – kommt es zum Abschied, o, dann versinkt alles Leid, nur das Gute, das Schöne bleibt im Gedächtnis, jede Kleinigkeit, sonst kaum beachtet, gewinnt Bedeutung und bedrängt das Herz. Gegenstandslos starrt das trübe Auge in die Ferne, wie öde, wie leer ist die Welt!

Zum Glück bleibt dem Geist nicht Zeit, ganz in sich zu versinken, nie sind die Anforderungen des Lebens größer und strenger als auf der Reise, nirgends hängt mehr von Pünktlichkeit und Besonnenheit ab. Und was 218 anfangs als drückende Last empfunden wird, erweist sich gar bald als der beste Trost. Das Auge ist ja gezwungen, zu sehen, der Geist muß ja aufmerken, – und die Zeit geht dahin, ein Tag um den andern, und zuletzt ist das Ziel erreicht, und die staunende Frage quillt auf: ist es denn möglich? schon so weit von daheim?

Bernhard überwand den Trennungsschmerz zuerst. Er sah hoffend hinein in die Zukunft und genoß die Gegenwart, die ihm so viel Neues, nie Gesehenes bot. Fritz verharrte in einem stumpfen Hinbrüten, nichts vermochte ihn aufzurütteln. Gleichgültig, wie träumend rollte er durch weite, weite Länder, an großen Städten vorbei, über breite Ströme; mochten sich Gebirge an den Seiten des Eisenweges auftürmen oder unabsehbare Ebenen dehnen, – müde drückte er sich in die Ecke des Wagens. Gleichgültig betrat er das Dampfschiff, gleichgültig schweifte sein Auge über das ewige Meer. Und als auf der Weiterreise gefährliche Stürme das Schiff umbrüllten, als alle Passagiere jammerten und zagten, da saß er ebenso bleich und still in seiner Koje wie in den schönsten Tagen. Bernhard schüttelte bedenklich den Kopf, was sollte werden, wenn sich Fritz nicht aufraffte?

Die Tage gingen hin, der Dampfer landete in Neuyork. Jetzt ward Fritz ein anderer, aber Bernhard schüttelte nur um so bedenklicher den Kopf. Eine fieberhafte Unruhe trieb Fritz Tag und Nacht um, kaum daß er sich Zeit zum Essen gönnte, mit Gewalt mußte ihn Bernhard oft vom Hafendamm hinwegführen; wie er ihm auch das Zwecklose seines Auf- und Abrennens vorstellte, immer wieder kehrte er zurück und starrte nach den ankommenden Schiffen. Eine »Elisabeth« entdeckte er nicht. Bernhard 219 zog an geeigneten Orten Erkundigungen ein, – was er erfuhr, lautete trostlos genug. Das Bremer Auswandererschiff »Elisabeth« ward vermißt, seit Wochen schon. Er wagte das Fritz nicht mitzuteilen, wollte erst Gewißheit haben. Bald brachten auch Zeitungen die Nachricht, das Bremer Schiff »Elisabeth« sei durch schwere Stürme weit nach Norden verschlagen worden und endlich an der Küste von Neuschottland in Britisch-Amerika gestrandet. Die Passagiere, zum großen Teil gerettet, aber fast sämtlicher Habe beraubt, harrten in Halifax auf eine Gelegenheit zur Weiterbeförderung. Wieder hatte sich Bernhard in Fritz getäuscht. Als er vom Untergang des Schiffes hörte, sprang er wohl leichenblaß auf, bald aber schüttelte er trübe lächelnd den Kopf. »Eine Zeitungslüge!« war seine kurze Antwort, sein Trost; nach wie vor setzte er seine Wanderungen am Hafen fort. Vergebens suchte ihn Bernhard zu bereden, nach Halifax zu reisen, an Ort und Stelle Erkundigungen einzuziehen, von dort aus vielleicht Bärble auf die Spur zu kommen – Fritz schüttelte den Kopf. »Soll ich von hier fort, wo ich sie treffen muß? – Laß mich, Bernhard; ich weiß gewiß, kaum habe ich dem Hafen den Rücken gewendet, so läuft die »Elisabeth« ein, und dann ist's Bärble für mich verloren!« Bernhard erbot sich, allein nach Halifax zu reifen, auch davon wollte Fritz nichts hören. »Du bleibst bei mir, Bernhard,« sagte er;»wie sollte ich ohne dich bestehen?« Und das war nur zu wahr; seit ihrer Abreise von daheim hatte sich Fritz um kein Geschäft bekümmert, alle Besorgungen überließ er Bernhard, nicht einmal die Rechnungen, die Bernhard gewissenhaft jede Woche führte, sah er an. Bernhard war ratlos; um nur etwas zu tun, erließ er in mehreren 220 großen Zeitungen Aufrufe und sicherte demjenigen Belohnung zu, der Aufschluß über die mit dem Schiff »Elisabeth« verunglückten Auswanderer Peter und Barbara Wendel geben könne. Täglich lief er nach den Zeitungsbureaus – täglich vergeblich. So vergingen abermals Wochen, Bernhard gab es endlich auf, Nachricht über die Gesuchten zu erhalten, und da es ihm durch kein Mittel gelang, Fritz aus seinem Trübsinn aufzurütteln, da er ihn trotz aller Vorstellungen nicht von der Nutzlosigkeit längeren Wartens überzeugen konnte, beschloß er, in anderer Weise eine Entscheidung herbeizuführen. »Fritz,« begann Bernhard eines Abends, als dieser wiederum erst mit einbrechender Nacht, völlig durchnäßt und durchfroren, in ihr Boardinghaus zurückkehrte: »Fritz, unser Zusammensein muß nun ein Ende haben! Ich bin nicht nach Amerika 'gangen, unserm Herrgott die Tag' abzustehlen und mich umsonst füttern zu lassen. In Neuyork habe ich mich umgetan, da ist nichts für mich. Arbeit getraute ich mir wohl zu finden, aber das Leben und Treiben gefällt mir nicht, zum andern hält's auch schwer, auf die eigenen Füße zu kommen, und darauf hab' ich es doch abgesehen. Da, – hier sind die letzten Rechnungen, nimm dich vor dem Wirt in acht, das ist ein schlitzöhriger Spitzbube, ich habe ihn weg, und laß um Gottes willen nicht merken, daß du noch viel Geld hast. – Morgen reise ich nach Albany, und ist's da nichts, nach Rochester und Buffalo an den See – dort find' ich Bekannte, soll auch was zu machen sein dort.«

»Bernhard, – ist's dein Ernst?« rief Fritz.

»Mein völliger. Ich geh' auch deinetwillen. Bist du allein, mußt du wohl die Augen auftun, vielleicht merkst du, auf welch verkehrten Wegen du gehst.«

221 »Was kann ich machen? – Ich muß eben abwarten, bis die ›Elisabeth‹ endlich ankommt!«

»Ich sag's zum letztenmal: die ›Elisabeth‹ kommt niemals, die ist lang schon zu Grund 'gangen, weit droben im Norden. Jetzt fragt sich nur noch, ob das Bärble davon 'kommen ist oder nicht, – und das erfährst du hier auch nicht. Wach' auf, Fritz! Entweder geh' nach Deutschland zurück, oder unternimm die Fahrt nach Halifax, – 's mag wohl jetzt im Winter seine Mucken haben, da hinauf, – 's ist aber der einzige Ort, wo du was Sicheres über das Bärble erfahren kannst; oder reise mit mir ins Land hinein und such' dir eine Unterkunft. – Es muß doch zu irgendeinem Loch 'naus mit dir!«

»Das Bärble lebt, – sell weiß ich gewiß. Meinst, ich wär' sonst so geduldig 'blieben? – Und dann – lach' mich aus, meinetwegen! – Ich kann nicht von hier fort; ich mein', da muß ich das Bärble finden oder nirgends!«

»Bist ein wunderlicher Kauz, ich werd' einmal nicht klug aus dir! – Meinetwegen auch! Aber tu' nur die Augen auf, daß du auch merkst, was um dich her vorgeht; – ich glaub' gewiß, daß du von Neuyork noch nichts gesehen, als das Stückle Hafen, wo die Auswandererschiffe anlegen, und die Straße bis an dies Haus, – ist das nicht 'ne Schande? Und sieh' nach deinen Sachen und besonders nach deinem Geld, – die amerikanischen Spitzbuben sind geriebene Kerle. – Du tust mir aufrichtig leid, Fritz, aber ich kann dir auch nicht helfen, – morgen reise ich!«

»Bernhard, – du bist mein einziger Freund, – verlaß mich nicht! – Guck', – ich will dir ja gern die Versäumnis vergüten!«

222 »Das hätte nun grad' noch gefehlt; fürs Faulenzen auch noch Bezahlung nehmen! Das solltest du mir gar nicht ansinnen!«

»Ich mein's nicht bös! Ach, Bernhard, hab' Geduld; ich bin so elend, so zerbrochen, ich kann's nicht sagen. Meine einzige Hoffnung ist das Bärble, und doch weiß ich, es ist nichts, sie nimmt mich nicht wieder an. Was ich auch tu', – es ist zu spät! Mir blüht kein Glück mehr! – Ach, wenn mir manchmal mein Elend zu Kopf steigt, wenn ich überleg', wie ich so gar nichts bin noch bedeute, so ganz vergeblich auf der Welt herumlaufe, nichts anrichte wie Verwirrung und Unheil – da, ja, da werd' ich oft des Lebens gänzlich überdrüssig.«

»Ist mir eine feine Art, das! – Und du schämst dich nicht? magst mir das noch sagen? – Potz Himmelheiden! – Das Fluchen ist nicht meine Sach', aber da kann ich auch nicht anders, so was muß 'runter von der Seel'! – Ist man denn bloß und blank des Glückes wegen auf der Welt? Gibt's sonst nichts, was einen trösten und aufrichten kann, geht's auf der einen Seite schief? Muß dir grad' und apart das Süpple angerichtet werden, das du am liebsten ißt?«

»Das ist's nicht! Aber ich hatte ja das Glück in Händen, es mußt' alles zusammenhelfen, daß mir's so recht nach Wunsch ging, – und doch ruh' ich nicht und raste nicht, bis ich's gründlich zernichtet hab'. Das ist's, Bernhard, daß ich mich selber in die Nesseln setzte, darüber komme ich nicht weg.«

»Grad', mein' ich, das wäre ein Glück, siehst du das endlich ein. Mach' dir das zunutz, was du jetzt weißt, und sei künftig gescheiter!«

223 »Künftig! was nützt mir die Zukunft? – Ja, wenn das Bärble einwilligte, dann könnt's gehen; ohne das bin ich ein verlorener Mensch. Mit den Gedanken: du warst selber dein ärgster Feind, und was dir hätte zurechthelfen sollen, hat dich nur noch schlechter und verderbter gemacht, – mit den Gedanken fängt sich ein neues Leben schlecht an. An mir ist Hopfen und Malz verloren! Wer so sein Glück mit Füßen tritt wie ich, der ist Glückes nimmer wert, wer alle Menschen, die es wahrhaft gut mit ihm meinen, so kränkt, ihnen so viel Leid antut, wie ich's fertig gebracht hab', den sollt die Sonne nimmer anscheinen!«

»Hm, hm! – Nu, nimm mir's nicht übel, früher hab' ich oft die nämlichen Gedanken gehabt. 's ist schad', bei dir kommen sie ein bißle spät! – Aber damit ist dir jetzt nichts mehr geholfen. Siehst du dein altes Unrecht ein, ei, so fang' an und mach's gut, soweit du kannst. Aber dein Sinnieren und Herumschleichen, – wozu soll das helfen?«

»Gut machen, – ja, wenn ich das könnt'! Das ist's ja eben, worüber ich oft den Kopf an die Wand rennen möchte. – Alles ist umsonst, was ich auch tun wollte, es ist doch zu spät!«

»Ist ein dummes Wort das. Nichts ist zu spät, am allerwenigsten eine Umkehr zur Ordnung! Fritz, ich will dir sagen, wo dir's fehlt. Du hängst an dem Vergangenen und meinst, wenn es nicht doch so wird, wie es hätte werden können, so ist's nichts. Guck' mich an! Bin ich nicht auch in deiner Lage? Ei, Sapperment, wer immer hinter sich gucken wollte, der sollte Einsiedler werden! Weil es in Bergheim nichts mit meinen Entwürfen war, ei, so fang' ich's hier anders an! Dich quält deine Torheit! Ist ganz 224 in der Ordnung, Strafe muß sein in der Welt; – aber bedenk' wohl, deckst du mit einer neuen Dummheit die alten zu?«

»Es ist immer leichter trösten, als tragen. Du sollst recht haben, allein ich weiß auch: mir kann allein das Bärble helfen, – und sie wird nicht wollen, drum ist alles zu spät!«

»So bleib' dabei, ich kann dir auch nicht helfen!« rief Bernhard, als auch diesmal wieder das Gespräch auf den alten Punkt ankam. »Richt' dich danach, morgen geh' ich ab, meine Sachen sind gepackt!«

Darein wollte aber Fritz unter keiner Bedingung willigen; als Bernhard durchaus nicht zu bewegen war, seinen Plan aufzugeben, bestürmte er ihn so lange mit Bitten und Vorstellungen, bis dieser endlich einwilligte, noch acht Tage bei ihm in Neuyork auszuharren. Dafür versprach Fritz, wenn sich auch bis dahin keine Spur der Gesuchten zeige, sein Warten aufzugeben.

Bernhard benützte die Zeit, die er noch mit Fritz zusammenzuleben hatte, redlich. Keinen Augenblick ließ er den Freund allein; um ihn von den zwecklosen Gängen am Hafen abzubringen, beredete er ihn zu größeren Ausflügen durch die Weltstadt, machte ihn auf Sehenswürdigkeiten aufmerksam, suchte ihm einen Einblick in das unbeschreiblich wechselvolle, vielgestaltige Leben und Treiben in den Straßen zu verschaffen, führte ihn in Theater und Konzertsäle, zuletzt auch in deutsche Bierhäuser, – alles vergeblich. Fritz ging herum wie im Traum; mit einem traurigen Lächeln fügte er sich in Bernhards Anordnungen, gleichgültig glitten seine Blicke hinweg über all die Sehenswürdigkeiten und Herrlichkeiten, die sich seinen Augen 225 darstellten, gleich ausdruckslos rauschten die vollen Klänge der Musikchöre in Theater und Konzerten wie das betäubende Getöse des Straßenlärms an seinem Ohr vorüber. Sein Geist war weit weg; mit einer grausamen Lust wühlte er seine Vergangenheit auf, immer neue Verschuldung entdeckte er, es bereitete ihm ein schmerzliches Vergnügen, sich vor sich selbst mehr und mehr zu entwerten, sich sein Unglück als gerechte, nur noch viel zu geringe Strafe vorzustellen. Je tiefer er sich herabwürdigte, desto mehr schwand die Hoffnung auf eine glückliche Lösung seines Geschickes; der Gedankenkreis fixierte sich in seiner Seele: da er einmal durch Leichtsinn und Gedankenlosigkeit eigenes und fremdes Glück zerstört, sei für ihn jede Freude des Lebens verloren; zur Strafe für seine Verkehrtheiten müsse ihm fortan alles, was er unternehme, zum Unheil ausschlagen; jeder Versuch, ordentlich zu werden, in der Welt doch noch vorwärts zu kommen, könne ihn nur tiefer in Unheil und Verderben stürzen. Zu spät! – das war der Grundton aller seiner Gedanken und Empfindungen, der Tag und Nacht in ihm fortklang, jede auftauchende Hoffnung zerstückte, jede aufquellende frische Willensregung erdrückte, überwucherte, ertötete. Zu spät! – das war der unselige Dämon in ihm, der seinen Geist niederdrückte bis an jene schauerliche Grenze, da Licht und Finsternis miteinander streiten. Bernhard erkannte mit Entsetzen, an welchem Abgrund Fritz hintaumelte; aber er fand den Anruf nicht, der dem Unseligen die Augen geöffnet hätte; auch ihm, seiner Liebe, seiner Angst, seinen ernstlichen Mahnungen stellte sich das »Zu spät!« in den Weg und vernichtete jede Wirkung. Nur noch ein Gedanke hielt dem »Zu spät!« bis jetzt in Fritz das Gleichgewicht: das Bewußtsein, die 226 innere Gewißheit, Bärble könnte ihn retten, aber auch nur sie! Als jedoch Tag um Tag verging, ohne daß eine Spur von ihr sich zeigte, da ward dieser Trost immer schwächer. »Zu spät!« klang es in seiner Brust, »für mich gibt es eben keine Hilfe mehr.«

Schon nahte der bestimmte letzte Tag ihres Zusammenseins, und Bernhard ward trostlos, denn weder konnte er Fritz dahin bringen, einen entscheidenden Entschluß zu fassen, noch vermochte er ihm seine finsteren Gedanken auszureden. Was sollte er tun: gehen oder bleiben? – Bekümmert schritt er neben Fritz durch die volksbelebten Gassen; tausend und abertausend Menschen drängten und eilten durcheinander, aber kein Freund war darunter, kein Vertrauter, dem er seine Not hätte klagen, den er um Beistand hätte bitten können. Der sonst so tapfere Bursche kam sich so verlassen und hilflos vor, wie noch nie, zum erstenmal verwünschte er seinen Entschluß, Fritz zu begleiten.

Plötzlich drückte Fritz seinen Arm, daß er hätte aufschreien mögen, und zeigte mit glühendem Gesicht in das Gewühl. Bernhards Blicke überflogen den Menschenhaufen, auch er zuckte zusammen, – dort kam ihnen der liederliche Bäcker entgegen! Schon hatte ihn Fritz verlassen, achtlos arbeitete er sich durch das dichteste Gedränge, wohl oder übel mußte auch Bernhard ihm folgen. – Kein Zweifel, Fritz hielt Bärbles Bruder an der Hand, es war der verlotterte Peter Wendel, der vor ihnen stand. – War das ein Staunen und Verwundern! Zwar sah der Veitenpeter sehr verlumpt und verkommen aus, aber das bemerkte Fritz nicht, alle Augenblicke umarmte er den Gefundenen, und Peter mußte nur immer bestätigen, 227 daß auch Bärble noch lebe und wohlauf sei. Schon sammelten sich Neugierige um die beiden, und da alle Reden vergeblich blieben, ergriff Bernhard den Beck unterm Arm, zog ihn in eine bekannte deutsche Bierstube, pflanzte ihn in eine einsame Ecke und sagte aufatmend: »So, nun sprich! – aber laß ihm erst was zu essen und zu trinken geben, Fritz, er sieht nicht aus, als hätte er alle Tage herrlich und in Freuden gelebt! – O Gott im Himmel, solch Zusammentreffen! – Mach' voran, daß du satt wirst, du siehst, der Fritz kann kaum die Zeit erwarten, und ich sitz' auch wie auf Nadeln!«

Aber das ging doch nicht so schnell, wie Fritz und Bernhard wünschten. Peter mußte gründlich gefastet haben, er war fast nicht zu ersättigen, würgend und schlingend nickte und blinzelte er bald Fritz, bald Bernhard zu, und wenn er ja einmal den Mund frei hatte, da er gerade den Bierkrug absetzte, fluchte er: »Gott verdamm' mich, wenn das nicht das erste vernünftige Fressen ist, das ich in dem verfluchten Amerika über die Zunge bringe! Beim Teufel auch, ihr kamt zu rechter Zeit; morgen war's aus mit mir! Entweder ich war verhungert oder ich macht' einen dummen Streich, und in Amerika machen sie verdammt wenig Umstände!« Er begleitete diese Rede mit der Gebärde des Hängens.

Bernhard wandte sich voll Ekel und Verachtung ab, Fritz hatte jedoch für nichts mehr Sinn, ihm war es genug, neben Bärbles Bruder zu sitzen, sie noch am Leben zu wissen. Endlich war doch auch Peters Heißhunger gestillt, und nachdem er sich noch eine Zigarre angebrannt, ließ er sich herbei, die gewünschte Aufklärung über sein und seiner Schwester Geschick zu geben. Es war eine wilde 228 Erzählung, und die unmäßigen Flüche, die Peter einstreute, machten sie noch grausiger. Nach schweren Stürmen und Gefahren aller Art war die »Elisabeth« zuletzt in einer stürmischen Nacht auf den Strand aufgelaufen. Trotz der Verwirrung und des Schreckens gelang es dem umsichtigen Kapitän, Passagiere und Mannschaft zu retten, aber die ganze Ladung, sämtliches Gepäck der Reisenden ward eine Beute der Wellen. Als der Morgen heraufdämmerte, standen auch Peter und Bärble mit hundert Schicksalsgenossen, blutarm, des Nötigsten beraubt, vor Kälte und Nässe zitternd, vom Hunger gepeinigt, auf einer öden, menschenleeren Küste, Fischerboote bemerkten die Gestrandeten und sendeten Hilfe aus der nächsten Hafenstadt Halifax in Neuschottland; die Bewohner nahmen sich freundlich der Verunglückten an, versorgten sie mit Kleidern und Wäsche, halfen ihnen auch, soviel sie konnten, zu ihrem weiteren Fortkommen. Bärble war trostlos, sie wollte nichts davon hören, Unterstützungen anzunehmen, und doch wollte und konnte sie auch, bei ihrer gänzlichen Unkenntnis der englischen Sprache, nicht in Halifax bleiben. Amhofs drängten sie um Entscheidung, da war plötzlich der Grundmüllersjakob erschienen, und nach einer längeren, geheimen Unterredung mit ihm erklärte Bärble, sie nähme das nötige Reisegeld für sich und den Bruder als ein Darlehen vom Jakob an und begleite ihn und Amhofs nach Iowa oder Wisconsin.

»Und wie kam der Grundmüllersjakob nach Halifax?« fragte Bernhard auf das höchste erstaunt. »Hat er sich nicht in Wisconsin angekauft?«

»Freilich, eine Mühle oder so was in der Gegend von Madison; soll sich gut stehen, was auch nicht zu 229 verwundern ist, der Jakob war ja von jeher ein Hauptbüffler!« entgegnete Peter. Mit einem eigentümlichen Blick auf Fritz fuhr er fort: »Was ihn nach Halifax getrieben, hab' ich nicht 'rauskriegen können, der Jakob ist ein Schuft so gut wie einer, wenn's drauf ankommt. Hab' übrigens doch meine Augen nicht vergebens im Kopf, ha, ha!«

»Sag's nur 'raus,« brach Fritz los, der, als die Rede auf Jakob kam, den Kopf in beide Hände gelegt hatte. »Sag's nur 'raus, das Bärble hat an den Jakob geschrieben, ihn zu sich bestellt, – o, mir geht ein großmächtiges Licht auf!«

»Nein, so rennt der Fuchs nicht!« lachte Peter. »Ich will verdammt sein, wenn das Bärble mit einem Odem an den Jakob gedacht hat, viel weniger geschrieben, – sie ist gar zu lästerlich erschrocken, wie er so auf einmal in unserem Quartier in der Tür steht. Nein, Fritz, da kennst du's Bärble schlecht, wenn du ihr im Ernst das zutraust. Aber bei ihm, bei dem Jakob ist's nicht ohne, darauf laß ich mich hängen! Irgendwie hat's die Spürnase ausgewittert, wann und wo und auf welchem Schiff das Bärble ankommen sollt', hat in Neuyork auf sie gewartet, in den Zeitungen unsern Schiffbruch gelesen, und ist ihr auch noch nach Halifax nachgegangen. – Ha, ha, dumm ist der Jakob nicht, der weiß es anzufangen, sich bei den Mädchen Steine ins Brett zu setzen, – Gott verdamm' ihn!«

»Ohne dein lästerliches Fluchen verständen wir dich grad' so gut!« sagte Bernhard unmutig. Er erinnerte sich des Gespräches im Veitenhaus an der Nachkirchweih, jetzt wußte er, warum damals Jakobs Bruder das Bärble so genau über ihren Reiseplan auskundschaftete. Doch schwieg er darüber, um Fritz nicht noch mehr aufzuregen, der arme 230 Mensch war ohnedies in der übelsten Verfassung. Häufig wechselte er die Farbe, seine Augen glühten, dazu trank er auch mehr, als ihm gut war. Um das Gelage abzukürzen, sagte Bernhard dringend: »Das sind Einfälle, wer weiß, was den Jakob nach dem Norden hinauftrieb. Übrigens kümmert uns das auch wenig, – erzähle lieber zu Ende, mir wird's heiß in der engen Stube.«

»Kümmert uns wenig! – Bist ein verdammter Fuchs, aber ich bin auch kein heuriger Has'!« lachte Peter rauh und goß ein Glas Bier hinab. »Wie's weiter ging? – elend und erbärmlich! Da grad' keine Gelegenheit nach Neuyork zu finden war, nahmen wir auf einer Segelbarke Passage nach Boston. Mir gefällt's da, und um dem Predigen des Jakob – die Pest in seinen Hals – zu entgehen, sag' ich, ich wollt' mein Glück da versuchen. Darüber belobt mich der Schleicher; wie ich aber das weitere Reisegeld für den Notfall von ihm verlang', lacht mir der Heuchler ins Gesicht: ich solle jetzt zusehen, wie ich durchkomme; in Amerika, und besonders in einer Stadt wie Boston, verhungere niemand, der die Arbeit nicht scheue! All mein Bitten war vergebens, 's Bärble, der Jakob, die Amhofs fahren mit der Eisenbahn nach Neuyork, – ich – Teufel auch! – sitze gut unter wildfremden Menschen, kaum so viel Geld im Sack, ein Nachtlager zu bezahlen! – Verdammt will ich sein, wenn ich das dem Spitzbuben nicht gedenke!«

»Hast du keine Arbeit in Boston gefunden?« fragte Bernhard.

»Arbeit! – Du Narr, bin ich deswegen nach Amerika? – Ha, ha – da hätt' ich's in Deutschland bequemer haben können. Nein, Bursch, so ist's nicht gemeint! Ich 231 will verdammt sein, wenn ich in Amerika 'nen Finger krumm mache!«

»Überm Wasser sollen schon mehr zahm geworden sein!« brummte Bernhard.

»Ist halt die Frag', ob's auf mich paßt! – Ja, ja, Fritz! Also in Boston wollt' ich dem Glück auf meine Art ein bißle nachhelfen, – aber da war's nichts. In Amerika kenn' ich mich noch nicht aus, da muß ich erst wieder lernen, – ha, ha! – In dem verdammten Nest waren sie mir scharf auf den Hacken, Pestilenz auch, so bin ich mein Lebtag nicht gelaufen wie damals!«

»Und dein Bärble? – wo ist sie?« fragte Fritz ungeduldig.

»Ach so, – hätt' mir's denken können, daß du da hinaus willst. Wo wird sie sein? D'rin, irgendwo in Iowa oder Wisconsin, was weiß ich? – Aber jetzt redet! – Was führt euch, – dich, Fritz, nach Amerika, und was treibt ihr in Neuyork?«

Peter brach in ein schallendes Gelächter aus, als er erfuhr, daß Fritz seiner Schwester zu Gefallen die Reise unternommen habe. Fritzens drohende Blicke brachten ihn jedoch rasch zur Besinnung, anscheinend teilnehmend fragte er: »Und was hast' nun vor?«

»Heiraten will ich, heiraten dein Bärble, und dann zurück nach Deutschland!« rief Fritz glühend. »Willst du mir deine Schwester suchen helfen? Getraust du dich, das Mädle zu finden?«

»Warum denn nicht?« schmunzelte Peter, dem sich eine angenehme Aussicht eröffnete. »Dem Grundmüllersjakob seine Adresse hab' ich, weit davon wird sie nicht sein! – Holla, lustig, Fritz, laß den Kopf nicht hängen, ich will 232 verdammt sein, wenn du den Jakob nicht ausstichst. Tausend Donnerwetter! Das Mädle muß dich nehmen, oder ich will am ersten besten Baum hängen! Sie muß dich nehmen, sag' ich, und wär's auch nur, um dem verdammten Heimtücker, dem Müller, einen Strich durch die Rechnung zu machen!«

Bernhard biß die Lippen zusammen, Fritz bezahlte die Zeche und rief: »Schon gut! – Kommt jetzt, wir müssen packen, morgen reisen wir ab!« 233

 


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