Heinrich Schaumberger
Zu spät
Heinrich Schaumberger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Gefunden

Auf dem Deck des Dampfers, der mit voller Dampfkraft gegen die reißende Strömung des Mississippi ankämpfte, saß eine ältere Frau und blickte mit hellem Auge hinab in die gurgelnden, rauschenden Fluten des Vaters der Ströme oder hinüber nach den waldigen Ufern, deren eintöniges, düsteres Grün nur dann und wann durch eine Lichtung unterbrochen wurde. Die Frau, deren fremdländischer Anzug seltsam gegen die feinen Toiletten der Damen, die hier auf- und abpromenierten, abstach, war der Gegenstand allgemeiner Neugierde; spöttische Blicke streiften sie, manches höhnische Mundverziehen und Nasenrümpfen mußte sie sich gefallen lassen. Das mußte sie jedoch nicht im geringsten anfechten, denn ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen, und ihre klaren Augen, die nicht die mindeste Scheu verrieten, trieben mancher Dame das Blut in die Wangen, wenn sie diese auf ihrer unschicklichen Musterung ertappten. Lebhaft winkte die einsame Reisende einen stattlichen jungen Mann, der eben das Deck betrat, zu sich. Fast ist der Schustersbernhard nicht wiederzuerkennen, so sehr hat er sich, und zwar zu seinem Vorteil, verändert. Ein dunkler, wohlgepflegter Vollbart umrahmt das frische Gesicht, die treuen, ehrlichen Augen sind ihm geblieben, aber der Blick ist sicherer, selbstbewußter 256 geworden. Dieses Selbstbewußtsein spricht auch aus seiner Haltung, die, leicht und ungezwungen, nicht nur einen Mann verrät, der seinen Wert fühlt, sondern der auch weiß, was sich schickt und was er der Gesellschaft schuldig ist. Auch sein Anzug zeigt gediegenen Wohlstand, trotzdem alles Auffallende, Prunkende vermieden ist. Unbefangen schreitet er durch die Damen, zieht sich einen Stuhl neben die Wartende und sagt freundlich: »Blieb ich zu lange weg, Mutter? – Verzeiht! Unter den Feuerleuten fiel mir ein Gesicht auf, das ich kennen muß, – und doch, wie ich mich auch besinne, ich kann mich nicht erinnern, wo ich es schon gesehen habe. Ihr fühltet Euch wohl recht verlassen und einsam, nicht? Das englische Geschnatter beklemmt Euch, die neugierigen Augen sind Euch zuwider? – Laßt es Euch nur nicht kümmern, in Amerika sind alle Menschen gleich, es hat einer soviel Recht als der andere. Solche Unterschiede wie in Deutschland gibt es nicht!«

»Sei still, was kümmern mich die Putzdockeln da?« lächelte die Schustersrosine und betrachtete den Sohn wohlgefällig. »Setz' dich jetzt zu mir und erzähl' gründlich, wie dir's in Amerika gegangen ist. Also gestern sind wir bis Buffalo 'kommen, – wie ging's weiter?«

»Schlecht, Mutter, gar sehr schlecht! Arbeit gab's wohl und der Verdienst war gut, aber ich brachte nichts vorwärts, es war alles gar zu teuer. Und selbständig zu werden, gab es keine Aussicht. Ich war recht bekümmert und kleinmütig, und dabei so allein, so ganz verlassen! – Mutter, damals habe ich etwas durchgemacht, habe oft gedacht, schlimmer könne es nicht kommen, – bin aber bald eines andern belehrt worden. Nach einem halben Jahr schnür' ich mein Bündel; ich hatte Chicago so oft 257 rühmen hören, daß ich dachte: willst dort einmal dein Glück versuchen. Hätte ich dort ein kleines Kapitälchen gehabt, ich wär' ein gemachter Mann! So brachte ich's zu nichts; während alles um mich zusehends reicher wurde, kam ich völlig auf den Hund. Chicago war damals noch ein ungesunder Ort. Ihr könnt denken, daß ich nicht in der besten Lage wohnte, dazu die Angst, der Kummer, die Sorgen, – es war kein Wunder, daß ich endlich liegen blieb und in schwere Krankheit verfiel. Daß ich in jenen Tagen nicht verkam, daß ich das Fieber überstand, ist mir jetzt selber unverständlich.«

»Und ich war nicht bei dir,« sagte Rosine und wischte sich die Augen, »wußte gar nichts von deiner Krankheit! Ach, Bernhard, wenn wir einmal einem armen Menschen in deiner Lage begegnen, – gelt, dann hinderst du mich nicht, ich darf mich seiner annehmen?«

»Das ist keine Frage!« entgegnete Bernhard herzlich. »Wie ich mich wieder aufraffe, rieten mir meine Hausleute, die mich so treulich verpflegten, ich solle von Chicago fort, sonst würd' ich das Fieber nicht los.«

»Du hast's doch den Leuten gedankt?«

»Ich denke wohl! Sie sind jetzt unsere Nachbarn, Ihr werdet sie kennen lernen! – Nun war aber guter Rat teuer, – wohin sollt' ich mich wenden? Da fiel mir ein, daß sich der Grundmüllersjakob in der Gegend von Madison angekauft hatte, von dem Augenblick an kam ich nicht zur Ruhe, mir war, als müßt' ich nach Madison, als müßt' ich dort mein Glück finden. – – So mache ich mich in Gottes Namen auf die Reise dahin, fand freilich weder den Jakob noch das Glück, aber doch völlige Gesundheit. In Madison konnt' ich mich nicht eingewöhnen, Ihr wißt, 258 wie's mich von Jugend auf dem Wasser nachzog, ich sehnte mich immer nach den blauen Seen zurück. In jener Zeit kam Milwaukee am Michigansee empor, – kurz entschlossen mache ich mich nochmals auf die Wanderschaft und zog nach dem jungen Städtchen. Und dasmal kam ich zur rechten Zeit. Mit den paar hundert Dollars, die ich mir in Madison ersparte, kaufte ich in Gottesnamen ein Stück Land, setz' eine Bretterhütte darauf und richte eine Werkstatt ein. Nun ging's rasch vorwärts. Noch fehlte es in allen Ecken an Handwerksleuten; da ich obendrein in deutscher Art auf tüchtige Arbeit hielt, ward mein Laden bald bekannt, Gesellen auf Gesellen mußte ich einstellen, und so kam allmählich meine Schuhfabrik von selber in Gang. Freilich, so geschwind, wie sich das erzählt, ging es nicht; es kamen noch viele schwere Stunden über mich, und wie voriges Jahr das Dorle so unerwartet in meinen Laden trat, war ich im ersten Augenblick recht erschrocken.«

»Ja,« lächelte die Schustersrosine, »wie das Mädle hörte, das Veitenbärble habe den Grundmüllersjakob gefreit, da war kein Haltens mehr!«

»Und es war auch das Rechte so! Bald nachher trat der Glücksfall ein, daß sich die Stadterweiterung hauptsächlich der Gegend, wo mein Grundstück lag, zuwendete. Der Grund und Boden stieg reißend an Wert, da mich keine Not drängte, konnte ich den rechten Zeitpunkt abwarten, teilte meinen Grund in Bauplätze und ward durch den Verkauf ein vermöglicher Mann. Und nun ist's gut, Mutter, daß Ihr so nahe seid, das Dorle wird bald Eures Beistandes bedürfen!«

»Hab' mir gleich so was gedacht, wie Ihr auf einmal 259 so arg zur Abreise drängtet!« sagte Rosine lächelnd, während ihr doch das Wasser in den Augen stand. »Ja, ja, der alte Herrgott lebt noch! Seine Wege sind oft wunderlich, aber er führet zuletzt alles herrlich hinaus. Ein Deutschland ist das Amerika ja freilich nicht, aber wir wollen Gott rühmen und preisen und uns in Dankbarkeit seiner Gnade erfreuen!«

»Ja, gewiß, Mutter, so soll's bleiben. Ach, nun Ihr noch bei uns seid, ist das Glück voll; Ihr wißt gar nicht, wie Ihr uns überall fehltet, wie wir uns über nichts so recht freuen konnten, da Ihr nicht Teil daran hattet. Und seid nur getrost! Ist auch Milwaukee, was seine Lage betrifft, kein Bergheim, so ist es dort gar wohl auszuhalten, – und der See, Mutter, der See wird Euch gewiß auch erfreuen.«

»Ich glaub's, ja!« lächelte Rosine und strich leise über die Hand des Sohnes. »Und wenn es in die Wildnis ginge, ich folgte dir mit Freuden; bei ihren Kindern, da ist die Heimat der Mutter!«

»Und ich bin froh, daß ich Euch sagen kann: das Dorle hängt an Euch mit wahrhaftiger Liebe. Ist überhaupt gar eine überaus brave, rechtschaffene Frau, so lind und liebreich, ich hätt' das hinter dem herzhaften Mädle gar nicht gesucht. Manchmal ist sie mir fast ein wenig gar zu demütig und unterwürfig.«

Rosine nickte sinnend. »Weißt', wem du das zu danken hast?«

»Jawohl, Mutter, und ich bleib' dem Veitenbärble dankbar mein Leben lang.«

»Ja, und wie geht's dem Bärble?« nahm die Mutter das Gespräch wieder auf.

260 »Gut, Mutter, recht gut! Der Jakob hat eine schöne Mühle, sie kommen vorwärts, sind gesund, – was wollen sie mehr?«

»Kommt ihr zusammen? Haltet ihr auch Freundschaft?«

»Das will ich meinen. Jakob kommt fast alle Wochen nach Milwaukee auf den Getreidemarkt und geht nie an unserem Haus vorüber, wir sind ja jetzt auch Gevatterleut'. Ja, wenn ihnen noch was an ihrem Glück fehlt, so ist's, daß der Türkenfritz so gänzlich verschollen ist. – 's ist ein rechter Jammer um den Menschen! Seit dem Weihnachtsabend, da er mit dem Bärble zusammentraf, hat sich weder von ihm, noch vom Veitenpeter eine Spur auffinden lassen. – Mutter, der Fritz war eigentlich nichts wert, aber mir hat er nur Gutes getan, 's weiß der liebe Gott, wie gern ich es ihm vergelten möchte.«

»Ja, den Türkenleuten haben wir viel zu danken, sehr viel. In den vier Jahren, die ich bei ihnen war, haben mich die Bäurin und der Gottfried wahrhaft auf den Händen getragen, und ungern genug ließen sie mich fort, – Gott vergelt's ihnen! Der Henner kann wohl noch immer seine alten Tücken nicht lassen, aber das Schicksal mit dem Fritz hat ihn doch auch arg mitgenommen. Und nun gar erst die Bäurin und der Gottfried! Bernhard, du glaubst nicht, was dir das für gute, ehrenbrave Leute sind! – Sie stehen aber auch in einem Ansehen weit und breit, 's ist nicht auszusagen. Du lieber Gott, die arme, arme Bäurin! Was die Frau auch hat durchmachen müssen, man versteht nicht, wie das ein Mensch erträgt. Und ihr Elend nimmt immer zu, statt ab. ›Rosine, ich muß mit Jammer in die Grube fahren!‹ – das waren ihre letzten Worte beim Abschied, – ich konnt' sie nicht einmal 261 trösten. Ein Kind liegt ihr schon lang, lang unter der Erden, ein Sohn ist seit länger denn vier Jahren verschollen, – wer weiß wo im Elend verkommen, – und ihr letzter Trost, der Gottfried, wird auch den Winter nicht überleben, die Doktoren haben ihn schon lang aufgegeben und er sich selber. Ach, ist das ein Jammer, den herzensguten, braven, tüchtigen Menschen so hinschwinden zu sehen; könnt' alles haben, was er nur wünschen möchte, und doch ist keine Hilfe! – Bernhard,« fuhr Rosine schluchzend fort, »dem Gottfried hat ein heimlicher Kummer am Herzen genagt und seine Krankheit verschlimmert. Du weißt, ich sag' nichts ohne gewissen Grund: glaub' mir, der Gottfried hat das Veitenbärble vielleicht noch lieber gehabt als sein Fritz, und ist doch freiwillig zurückgetreten. O, lieber Gott, was mag der arme Bursch' in der Still' getragen haben!«

»Wär's denn möglich?« rief Bernhard.

»Ja, ja, es ist schon so! Du weißt gar nicht, mit welcher Ungeduld er auf Briefe von Amerika wartete. Wie danach vom Jakob die Nachricht kam, das Bärble habe den Fritz für immer abgewiesen, hat er sich zwei Tage in seine Kammer eingeschlossen, und wie er herunterkam, war er fast nicht wieder zu erkennen. Seitdem hat er sich nicht wieder erholt; wenn die Bäurin um ihn jammerte, war das seine immer gleiche Antwort: ›Mutter, laßt mich; ich bin übrig auf der Welt und sterb' gern, im Grab ist Ruh' und Vergessen!‹ Wie ich ihm deinen Brief, worin du Bärbles Hochzeit gemeldet, übergab, sind ihm beim Lesen zwei dicke, große Tropfen über die Backen gelaufen, er hat tief aufgeseufzt, die Hände zusammengelegt und gemurmelt: ›So! – Nun kann ich ganz getrost 262 sterben!‹ Er hat wohl nicht gedacht, daß ich das mit anhöre!«

»Mutter, Mutter! – ist das eine Welt!« rief Bernhard, dem auch die Augen überquollen.

»Ja, – und es ist ein eigenes Schicksal, das über den Türkenleuten waltet. – Bernhard, ihr, du und der Jakob, habt doch euer möglichstes getan, den Fritz aufzufinden?«

»Darüber seid ruhig. In allen großen Zeitungen standen Aufrufe; Belohnungen wurden ausgeschrieben für gewisse Nachrichten, Advokaten beauftragt und ausgeschickt, bei den Regierungen haben wir angefragt, – alles vergeblich!«

»Und glaubst du wirklich, daß er tot ist?«

»Was kann ich sagen? Sein letztes Wort war: ›ich bin ein verlorener Mensch!‹ – Vielleicht ist er was, das schlimmer ist, als wär' er gestorben!«

»Gott erbarme sich der armen Bäurin! Nein, gesteh's nur, du glaubst das selber nicht, das ist ja gar nicht möglich.«

»In Amerika ist alles möglich, und war er nicht in Peters Gesellschaft? – Aber seid nur ruhig, es ist das ja nur eine Vermutung! – – Weiß der Kuckuck, mir kommt das Gesicht des Feuermanns nicht aus den Gedanken! – Hört, es läutet zum Anlegen, – richtig, dort drüben ist die Hütte eines Holzschlägers, es wird angehalten zum Holzeinnehmen! – Geht jetzt hinab in die Kajüte, der Abend kommt und die Moskitos machen sich bemerklich! Ist eine feine Sorte Mücken das, nicht wahr? – Seid nur zufrieden, in Milwaukee gibt's keine solche verteufelten Racker! Also geht hinab, ich will mir eine 263 Zigarre anstecken und den Feuermann noch einmal gründlich betrachten!«

Eben hatte das Schiff die Landungsstelle erreicht, die Brücke ward ausgestoßen, die Feuerleute liefen an das Ufer, beluden sich mit den dort aufgeklafterten schweren Holzscheiten und keuchten damit an Bord zurück. Bernhard brannte sich eine Zigarre an und stieg zu dem Maschinenraum hinab; es dämmerte bereits, war aber noch hell genug, die Gesichter der an ihm vorbeieilenden Feuerleute zu erkennen. Jetzt kam der Gesuchte keuchend heran, Bernhard musterte ihn scharf und strich sich kopfschüttelnd über die Augen. – Dort schritt er schon wieder über die Laufbrücke, – die hohe Gestalt war zwar etwas gebeugt, aber er kannte sie doch. – – Bernhard blickte mit weit offenen Augen nach dem Ufer, – sollte es möglich sein? – Da kam er wieder, – der Ruß im Gesicht verbarg die Züge, aber die Augen, – die Augen, – kein Zweifel, es waren seine Augen! – Auch der Feuermann ward aufmerksam, im Vorbeigehen musterte er scharf den Beobachter, – dann wich er ihm sichtlich aus. Bernhards Pulse klopften, die Zigarre war längst erloschen, mit Ungeduld erwartete er die Fortsetzung der Reise. Endlich sprang der letzte Holzträger an Bord, die Brücke ward eingezogen, ein schriller Pfiff, – die Räder begannen rauschend zu arbeiten, das Schiff war in Bewegung. Die Feuerleute, welche nicht Dienst vor den Kesseln hatten, verschwanden in den Maschinenräumen, um zu ruhen. Bernhard hatte seinen Mann nicht aus den Augen gelassen; als derselbe sich müde auf einen Haufen Holz warf und die Augen schloß, trat Bernhard leise zu ihm, legte die Hand auf seine Schulter und sagte: »Fritz, hast du die 264 Bergheimer ganz vergessen? – Kennst du deine Freunde nicht mehr?«

Blitzschnell fuhr der Angeredete empor und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf Bernhard, dessen Gestalt, da eben die Tür zum Heizraum aufgerissen ward, hell – von roten Lichtern bestrahlt vor ihm stand. Verdrießlich den Kopf schüttelnd, warf er sich auf das Holz zurück und brummte: »Verdammt auch! – Kenne Euch nicht, Mann; geht weiter, bin müde!«

»Aber ich kenne dich!« rief Bernhard, dem das Wasser in den Augen stand. »Verstell' dich nicht, du bist der Türkenfritz von Bergheim! – O Gott im Himmel! Muß ich dich so wiederfinden? – Aber komm' jetzt, das Feuern hat natürlich ein Ende; – komm' zu meiner Mutter, ich hab' sie eben von Neuorleans abgeholt! – Mein Gott, ich weiß mich nicht zu fassen! – wird meine Mutter sich freuen!«

»Bernhard, – ist's möglich?« sagte jetzt Fritz leise und drängte unwillkürlich tiefer in den Schatten zurück. »Und du denkst noch an mich? – hast mich noch nicht vergessen? – Ach, das tut gut, Bernhard!«

»Was drängst du von mir weg? – Komm' mit; in dem Loch da erstickt man ja, – komm' zu meiner Mutter!«

»Hör' mich, Bernhard!« begann Fritz, da einige Feuerleute in der Nähe aufmerksam wurden. »Ich bin ein elender, erbärmlicher Mensch, ich tauge nicht mehr unter die Leute! Laß mich, es kennt mich kein Mensch, ich hab' einen andern Namen angenommen, um meine Schande zu verbergen. Denk', ich wär' tot, – gestorben, – es wird ja auch bald werden, ich fühl's! – Ist mir ein rechter Trost, daß du mich aufgesucht hast, mich nicht verachtest. 265 Damit ist's genug. Red' keinem Menschen von mir, laß mich in der Stille sterben.«

»Dummes Zeug!« polterte Bernhard, um seine Bewegung zu verbergen. »Gott sei tausend, tausendmal Dank, daß ich dich wieder hab'! Denkst, ich lass' dich? – O, da kennst du den Schustersbernhard schlecht! Wie so manche Nacht habe ich deinetwegen nicht schlafen können, – und nun soll ich dich im Jammer und Elend verkommen lassen? – Nichts da! – Kein Wort! Du gehörst jetzt mein und hast gar nichts zu reden!«

»Aber ich kann doch nicht in dem Zustand durchs Schiff?« wehrte Fritz ängstlich ab. »Geh' einstweilen voraus, ich will mich reinigen, besser anziehen, danach such' ich dich in deiner Kabine auf.«

»Nichts da, – ich laß dich nimmer von meiner Seite, bis du erst einem Menschen gleich siehst. Komm' du nur mit! Mögen die Passagiere gucken, bist du erst in ordentlichen Kleidern, kennt dich kein Mensch wieder. Also vorwärts jetzt, nicht geziert, es hilft dir doch nichts!«

Fritz sträubte sich, zuletzt mußte er doch nachgeben. Tränen kamen ihm in die Augen bei der herzlichen Art, mit der sich Bernhard seiner annahm, wirklich konnte auch eine Mutter nicht sorglicher mit ihrem Kinde umgehen, als Bernhard mit dem Freunde. Als nun der Gefundene nach gründlicher Reinigung in anständigen Kleidern vor ihm stand, fielen Bernhard erst seine erschreckliche Blässe und Magerkeit, die trüben, tiefliegenden Augen auf. Seinen Schrecken verbarg er unter herzlichen Umarmungen, dann rief er: »Nun zu meiner Mutter, – wird die Augen machen! – Und dann zu Tisch, du kannst eine Stärkung brauchen!«

266 Das war eine Überraschung, für Fritz nicht minder als für Rosine, als sie so plötzlich, so unerwartet zusammentrafen. Wie immer, fand auch diesmal Rosine zuerst ihre Fassung wieder; mit glänzenden Augen und fast mütterlicher Lust betrachtete sie den Wiedergefundenen, ihre warmen Hände hielten seine kalten fest umschlossen, und Fritz war es, als ströme warmes Leben in ihn über. Seine scheue Zurückhaltung wich bald einem herzlichen Vertrauen, mit feuchten Augen lauschte er Rosinens Berichten von daheim, die schonend jede voreilige Frage vermied, vorsichtig nur Erfreuliches von daheim berichtete. Fritz dankte mit heftigen Händedrücken, reden konnte er lange nicht, endlich flüsterte er leise: »Habt Dank! – Ich kann nicht sagen, wie mir zu Mut ist, seit Jahren hab' ich kein freundliches Gesicht gesehen, kein aufrichtig teilnehmendes Wort gehört! – Laßt mich jetzt, fragt mich nichts, – Ihr sollt meinen Lebensgang erfahren, – nur laßt mir Zeit, gönnt mir Ruhe!«

»Du bist dein eigener Herr, Fritz, um alles in der Welt wollen wir dich nicht plagen!« lächelte Bernhard. »Komm' jetzt zum Essen, das wird das Nötigste sein, danach gönn' dir Ruhe. Das Feuern hat dich mitgenommen, du bedarfst der Erholung. Iß jetzt und trink' und denk' an gar nichts, – frag' mich auch nichts, – seiner Zeit wirst du alles erfahren. Morgen gleich schreib' ich an deine Eltern; o Herrgott, wird das einen Jubel in Bergheim geben, kommt die Nachricht: der Fritz ist gefunden!«

»Bernhard, nach Bergheim schreibe nicht!« sagte Fritz und hielt Bernhard mit zitternder Hand zurück.

»Nicht? – Und warum nicht?«

»Ich bin für Bergheim, überhaupt für die Welt 267 gestorben. Nur du und deine Leute sollen mich kennen, – ich behalte meinen angenommenen Namen, will unerkannt sterben!«

»Fritz,« sagte Bernhard langsam und bemühte sich, einen Blick in sein gesenktes Gesicht zu gewinnen, »so hat mich seit Jahren nichts erschreckt! Darfst du deinen ehrlichen Namen nicht mehr führen, muß sich der Türkenfritz vor dem Tag scheuen?«

»Nein, Gott sei Dank, nein!« sagte Fritz aufatmend. »Unrecht und Sünde liegen nicht auf mir, mit Wissen habe ich keinem Menschen ein Leid zugefügt. Aber dennoch schäme ich mich, Leuten, die mich kennen, unter die Augen zu treten! Denke selber: was könnte ich sein, und was bin ich!«

»Nun werd' ich deiner erst froh, Fritz! Die Gedanken gib nur auf, damit ist's nichts! Was du nicht bist, das wirst du, punktum!«

»Nein, Bernhard, damit ist's zu spät!«

»Hätte bald was gesagt! – Höre ein- für allemal: mit den alten Flausen bleibe mir vom Hals! – Zu spät! – Dummheit! Zu einem rechtschaffenen Anfang ist es nie zu spät! Sei nur ganz ruhig; du bist jetzt wieder und bleibst der Fritz Brehm von Bergheim, und morgen geht ein Brief an deine Eltern ab. – So, jetzt iß, trink' und schlaf', weiter hast du nichts zu tun. Beiß' dich heraus, daß sich meine Dorle deiner erfreuen kann, kommen wir heim. – Gar keine Widerrede! Mit dem Kapitän hab' ich deine Angelegenheiten in Ordnung gebracht. Vor vier Jahren reiste ich auf deine Kosten, – heute du auf meine, – da sind wir quitt und ich mache noch ein Geschäft dabei. Also nichts von Dank, sondern zum Essen!« 268

 

In St. Louis hatten die Reisenden das Dampfboot verlassen, um mittelst der Eisenbahn auf kürzestem Wege Chicago, von da abermals zu Schiff Milwaukee zu erreichen. Die Bahn führte durch das gesegnete Illinois, in lieblicher Abwechslung flog, vom hellen Mondschein zauberhaft beleuchtet, Wald und Feld, Stadt und Farm an ihnen vorüber, und Bernhard sagte, nachdem er sich und Fritz eine frische Zigarre angesteckt: »So, nun schieß' los! Wir sind gänzlich ungestört und haben Zeit. Obendrein erzählt und hört sich's im Mondschein gleich gut! – Wie ist dir's ergangen?«

Fritz nickte, blickte eine Weile sinnend hinein in den Mond, und als sich alle drei, – Rosine wollte natürlich die Erzählung auch nicht versäumen, – bequem zurechtgesetzt hatten, begann er: »Ich gehe ungern daran, in Gedanken nochmals die letzten Jahre zu durchleben, und doch muß es sein, ist vielleicht auch heilsam für mich. Habt Mitleid mit mir und verachtet mich nicht; ich habe viel gefehlt, habe mir das meiste Unheil selber zuzuschreiben, ich weiß das gar wohl, aber nebenbei hat mich auch noch absonderliches Unglück verfolgt, bis ich euch endlich fand!

Was an jenem Weihnachtsheiligabend, da das Bärble im Zorn, – für immer, – mich von sich wies, – was damals in mir vorging, ist schwer zu sagen. Mir war, als sei der Himmel auf ewig mir verschlossen, als sei die ganze Welt, das Licht selber, dunkler geworden. Ich bin ein verlorener Mensch, schrie es in mir; eine Verzweiflung, eine wilde Wut kam über mich. Noch im letzten Augenblick hatte ich das Bärble gereizt, ich selber trug die Schuld, daß sie im Zorn von mir ging, mich fürchtete und verachtete. Das Bärble fürchtet und verachtet dich! – das war der 269 Gedanke, der fort und fort wie Feuer durch mein Hirn brannte, – nun ist's klar, du bist gänzlich verloren!«

»Du armer Mensch!« seufzte Rosine.

»Der Peter muß mir von Madison heimlich nachgegangen sein, – auf einmal war er bei mir! War ich bei Sinnen, hätte mich das wohl stutzig machen können, aber in meinem Zustand ward mir sein Kommen ein Trost. Kannte und achtete ich doch den Peter gleichfalls für einen verlorenen Menschen; wie ich, ward er von dem Bärble gemieden, verachtet und gefürchtet, – und – er war ja doch ihr Bruder! – Was ich damals vorgab, weiß ich nicht, arg mag ich es getrieben haben, denn selbst der Peter wollte an die Zeit nicht erinnert sein.

Der Peter tat nun alles, mich auf andere Gedanken zu bringen; ich war ihm dankbar, ahnte ich doch nicht, mit welchen schlimmen Dingen er umging, auch das merkte ich nicht, daß seine Arznei schlimmer und gefährlicher war als die Krankheit selber. Er suchte mich zu betäuben, und das gelang ihm nur zu oft; es war gar zu schön, brachten die Weindünste Vergessen, Ruhe, Schlaf!

Das war aber doch nur ein Vergessen auf wenige Stunden; lag ich dann auf meinem Bett, dann kamen die bösen Gedanken wieder und die Sehnsucht, die Angst und Reue. Oft stand ich auf und ging stundenlang am Fluß auf und ab. Und wenn die Nebel über den Fluß hinzogen, verwandelten sie sich in blasse Gestalten, die mit feuchten Armen nach mir langten, und das Plätschern der Wellen ward zu heimlichem Murmeln und Rauschen, das mich hinablockte ins Wasser, mir da unten Ruhe verhieß, Ruhe und gänzliches Vergessen! – Oft setzte ich zum Sprung an, aber dann sah ich Bärble vor mir hinschweben, bleich, mit 270 geschlossenen Augen und gefalteten Händen. Und ich wußte, sie sah mich, wenn sie sich auch nicht nach mir kehrte; ich wußte, die blassen, erstorbenen Lippen mußten sich öffnen und das fürchterliche Wort wieder aussprechen, das mich schon einmal bis ins Mark hinein erschreckte! – Dann sträubte sich mein Haar, wie von bösen Geistern gejagt floh ich davon und irrte durch Wald und Feld.

Mir fiel es nicht auf, daß Peter an keinem Ort lange aushielt, nach wenigen Wochen stets mit einer gewissen, ängstlichen Hast auf die Weiterreise drang, – in St. Louis, wohin wir uns endlich wendeten, sollte mir ein schreckliches Licht aufgehen!

Wie überall, führte er mich auch da in die Spielhöllen, deren Beschreibung ihr mir wohl erlaßt. Dort machte er mich mit einem feinen Herrn bekannt, der bald mein ganzes Vertrauen zu gewinnen wußte. Er war so freundlich, konnte so herzlich reden, hörte mit so aufrichtiger Teilnahme meine Klagen an, hatte für jede einen Trost, – eh' ich selber wußte, wie es geschah, kannte er meine ganze Geschichte, alle meine Verhältnisse. Peter, der unsere Freundschaft zuerst beförderte, ward mürrisch, warnte mich vor dem Fremden, den er einen Schuft und Erzgauner nannte. Ich achtete nicht darauf, der Umgang mit dem Fremden war mir ein Trost, ein Bedürfnis, ich konnte nimmer bleiben ohne ihn. Trotz Peters Wüten und Drohen ging ich jetzt öfter mit dem Fremden ohne Peter in Spielsäle, die dieser wahrscheinlich nicht kannte, sonst wäre er mir sicher gefolgt; und von dem Beispiel, dem Zureden des Fremden verblendet, spielte ich höher und höher, – stets mit gleichem Glück. Nach einem heftigen Zank mit Peter, der fast zu Tätlichkeiten ausgeartet wäre, und den 271 ich natürlich meinem neuen Freund haarklein berichtete, sagte mir dieser, ich solle mich von Peter trennen, er sei als falscher Spieler erkannt und werde von der Polizei verfolgt. Mein Schrecken war groß, ich bat den Fremden, mir beizustehen, was dieser bereitwillig versprach. Wir blieben den Nachmittag zusammen, mit schwerem Kopf folgte ich dem Herrn, dessen Namen ich nicht einmal wußte, in den Spielsaal und setzte, von ihm angestachelt, wie toll und rasend. Heute änderte sich die Sache, Satz auf Satz verlor ich; bald war mein früherer Gewinn dahin, und nun kam die Spielwut über mich, ich wollte das Glück erzwingen. Sinnlos schnallte ich die solange geheim gehaltene Geldkatze los, setzte nicht mehr ein Goldstück, nein, ganze Haufen. – Der Angstschweiß rann mir von der Stirn, ich sah das Ende voraus und konnte doch nicht aufhören, – in kurzer Zeit, die mir freilich eine Ewigkeit dünkte, hatte ich auch das letzte Goldstück verloren, – ich hatte nichts, gar nichts mehr.

Ich merkte, wie mich die Kräfte verlassen wollten, wie es mir dunkler und dunkler vor den Augen wurde, – da stand plötzlich Peter mit wutverzerrtem Gesicht neben mir. Mein verstörtes Gesicht, die leere Geldkatze auf dem Tisch mochten ihm den Stand der Dinge klar machen. ›Falsche Spieler, Betrüger! Der da war mein, ich allein hatte das Recht, den dummen Gimpel zu rupfen! Gott verdamm' mich, das kostet dich dein Leben!‹ schrie Peter und drang mit einem Bowiemesser auf den Fremden ein. Doch ehe er ihn erreichte, krachte ein Revolverschuß, und Peter stürzte lautlos zusammen. ›Der hat's, – nun tut den andern auch ab!‹ hörte ich um mich lachen. ›Nein!‹ rief der Fremde, ›den ich hergelockt, den laßt laufen! Er 272 ist ein dummer Teufel, halb verrückt obendrein, von dem haben wir nichts zu befürchten!‹ Dann vergingen mir die Sinne.«

Fritz schwieg erschöpft und strich sich über die Augen, als wolle er die schrecklichen Erinnerungen wegwischen. Auch die Hörer saßen still, erst nach geraumer Zeit seufzte Rosine: »O du guter Gott, ist das erschrecklich! Und so was darf in dem Amerika geschehen? – Ach, ich komm' nicht zu mir selber! Der Peter hat wohl nichts getaugt von Jugend auf, aber solch ein End' – das ist grausig!«

»Und doch ist's vielleicht noch besser als ein anderes, Mutter,« sagte Bernhard ernst. »Peter wäre in Amerika dem Strang gewiß nicht entgangen. Wir wollen ihn ruhen lassen – und – den Angehörigen seinen Tod verschweigen! – – Hm, hm! Also sind meine Befürchtungen nur allzu gut eingetroffen, du weißt, wie ich dich vor dem Peter warnte!«

»Ja, was er eigentlich im Schilde führen mochte, das ist mir danach auch klar 'worden,« sagte Fritz. »Gewiß wollte er mich sicher machen und dann bei günstiger Gelegenheit mit meinem Gelde davongehen!«

»Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein!« sagte Rosine. »Gott sei der armen Seele gnädig!«

Wieder ward es stille im Coupé; Bernhard blickte hinaus in die mondbeglänzte Gegend, die hell, fast wie am Tage vor ihm lag, und Fritz, dem längst die Zigarre erloschen war, starrte mit gekreuzten Armen finster vor sich nieder. Endlich fragte Bernhard: »Und wie weiter?«

»Der nächsten Begebenheiten entsinne ich mich selber nur dunkel, wie eines wirren, wüsten Traumes. Als ich wieder zu mir kam, war es Nacht und bitter kalt, ich lag in 273 einer engen Nebengasse halb im Wasser, – die Feuchtigkeit mochte mich erweckt haben. Es dauerte lange, bis ich meine Gedanken zusammenbrachte; ich wollte lange nicht an die Wirklichkeit glauben, aber meine fehlende Geldkatze machte jeden Zweifel zunichte. Und nun kam eine Angst über mich, wie in meinem Leben noch nie; der helle Schweiß lief mir von der Stirn, und doch klapperte ich vor Frost mit den Zähnen. Peters blutige Gestalt verfolgte mich; ziellos, sinnlos rannte ich durch die Gassen, der Gestalt entging ich nicht – ich hielt mich zuletzt selber für den Mörder. Endlich kam ich ins Freie, unter einem Baum brach ich zusammen, – da wich das Gespenst von mir; wie sich mein Blut beruhigte, erinnerte ich mich der Worte, die Peter vor seinem Tod ausgestoßen, ich wußte jetzt wieder alles so klar, – so entsetzlich genau, – und ich glaube, ich habe geweint, daß meine Hände rein von Blut und Betrug geblieben waren.«

Rosine streichelte Fritzens Hand und ein paar Tropfen aus ihren Augen fielen darauf.

»Bald aber kam neue Bedrängnis über mich. Von Mord und Betrug waren meine Hände wohl rein, ein ganzer Lump war ich dennoch. Wieder war es einen großen, großen Schritt mit mir bergab gegangen, – wohin sollte es noch kommen, wie enden? Ich dachte an dich, Bernhard, an Jakob, an – Bärble, – an meine Mutter und meinen Bruder, – und eine tiefe Kluft tat sich auf zwischen mir und euch, – der Spieler war auf ewig von euch geschieden! Mein guter, reiner Name, – er war dahin! Jetzt verdiente ich Bärbles Verachtung. Jetzt klangen ihre Worte wie Glockenläuten in meinen Ohren: ›Ich weis' dich nicht gänzlich ab; ich werd' im stillen um dich 274 sorgen wie eine Schwester. Hältst du dich brav und wirst du ein rechter Mann, soll mir's lieb sein, wieder was von dir zu hören!‹ – Wie glücklich hätte mich das machen können, hätte ich's zu würdigen gewußt; vor wenigen Stunden hatte ich noch eine Schwester, eine Mutter, Freunde, – nun war auch das verloren, ich war gänzlich verlassen. Jetzt galt mir nur noch das Wort von Bärble: ›So komme mir nimmer vor Augen!‹ – – Ich rang die Hände, ich weinte, ich stieß meinen Kopf an den Baum, – aber meine Schande war damit nicht ungeschehen zu machen; ich blieb der Spieler!

Wieder meinte ich, das Leben sei nicht zu ertragen. Ich hörte den Fluß rauschen und rannte darauf zu; schon plätscherte das Wasser um meine Füße, noch ein Schritt und alle Qual hatte ein Ende. Da sträubte sich mein Haar, ich hörte Bärbles Stimme: ›Du hast mir mein Leben verbittert, wie alt ich auch werde, was mir auch beschieden sein mag, ich werde nie wieder, was ich war! Du hast's in der Hand, mich gänzlich elend zu machen, mich in Verzweiflung zu jagen. Aber setzest du deine Drohung ins Werk, hast du vor Gott zwei Menschenleben zu verantworten!‹ Und nun kam mir der Gedanke an Gott und Ewigkeit! – Ich hatte lange nicht gebetet, jetzt aber riß es mich aus dem Wasser, es zwang mich auf die Knie nieder, und, – ja, ich betete, betete, daß mich Gott bewahre vor dem Schrecklichsten, was ein Mensch vollführen kann!«

Niemand wagte, das trübe Schweigen zu brechen; mit tiefem Seufzer fuhr Fritz endlich fort: »Das Ärgste war damit überstanden, Verzweiflung kam mich nimmer an, – freilich, das Elend, die wirkliche Not, lernte ich erst kennen. Für euch, für meine Eltern, für die Welt mußte 275 ich gestorben sein, es gab keine Rückkehr mehr, – so meinte ich wenigstens damals, – drum nahm ich einen anderen Namen an, und um mein Leben zu fristen, begann ich zu arbeiten! Hätte ich auf Rat und Warnung gehört, wie vieles war mir erspart; aber es war nun mein Schicksal, mit sehenden Augen bis an den Hals ins Unglück zu rennen, um endlich klüger zu werden. Damals lernte ich den Segen ernstlichen Schaffens kennen! Zunächst arbeitete ich am Landungsdamm in St. Louis, aber die furchtbare, übermenschliche Anstrengung hielt ich nicht aus; zufällig hörte ich, daß ein Werbebureau in der Stadt errichtet worden sei, – mit kurzem Entschluß ging ich dahin und ward Soldat der Vereinigten Staaten von Nordamerika!«

»Und an mich dachtest du nicht?« fragte Bernhard kopfschüttelnd.

»Wollte ich nicht für euch tot sein und gestorben? Nein, damals wenigstens konnte und durfte ich nicht zurück! Mit einem Zug Rekruten kam ich weit hinein in den Westen, wir verstärkten die Besatzung eines der Indianerforts. Der Dienst war leicht, nachdem ich erst einmal das Exerzitium begriffen, und da ich pünktlich im Dienst, gefällig und aufmerksam außer Dienst war, gewann ich bald das Vertrauen, ja die Zuneigung meiner Vorgesetzten. In einigen Scharmützeln mit den Rothäuten mag ich mich nicht gerade feig gezeigt haben, – was lag mir am Leben? – genug, ich stieg seit jener Zeit bedeutend im Ansehen bei meinen Kameraden, und mein Major stellte mir sogar baldiges Avancement in Aussicht. Ich gewöhnte mich fast an den Gedanken, mein Leben in der Wildnis zu beschließen.

276 Das Fort war herrlich gelegen; in einer Biegung eines kleinen Baches, der die Grenze bildete zwischen Wald und Prärie, erhoben sich seine Mauern und Blockhäuser auf einem felsigen Hügel. War die Höhe auch nicht bedeutend, so war sie doch groß genug, einen fast schrankenlosen Umblick über den Wald nach der einen, über die endlosen Prärien nach der andern Seite zu gewähren. Meine dienstfreien Stunden, und ich hatte deren viele, verbrachte ich meistens träumend auf den Wällen. Ach, ich hatte schwer zu kämpfen; Bärbles Bild verfolgte mich im Wachen und Träumen, und der Kummer über mein verfehltes Leben ward nicht geringer, je mehr ich einsah, wie alles, alles nur durch meine eigene Schuld sich zum Schlimmen gewendet, wie ich ganz allein die Ursache war, daß ich als gemeiner Soldat in der Wildnis die Grenzen eines fremden Landes hüten mußte, statt in der Heimat ein glücklicher, freier Mann zu sein! Manche meiner Kameraden suchten Bekanntschaft mit mir, aber ich hielt mich zurückgezogen, nur in Einsamkeit und Stille war mir wohl.

Eines Abends starrte ich wieder in die untergehende Sonne, mir war so weh ums Herz, es kann sein, daß mir ein Tropfen im Aug' stand, da klopfte mir jemand auf die Achsel, und als ich herumfuhr, stand mein Major vor mir. Barsch redete er mich in deutscher Sprache an, aber ich hörte doch die herzlichste Teilnahme durch seine rauhen Worte klingen, und mir ging das Herz auf, ich erzählte ihm, was mich drückte. Geduldig hörte er meine Klagen an, dann schalt er mich heftig und ging davon, – am andern Tag ward ich in seine Wohnung beordert, dort machte er mich zu seinem Burschen.

277 Ich sollte bald merken, wie gut es der edle Mensch meinte. Nicht wie seinen Diener behandelte er mich, ich war ihm mehr Vertrauter und Freund. Sein Schicksal hatte viel Ähnlichkeit mit dem meinen, auch er hatte leichtsinnig sein Glück zerstört, und büßte nun, wie er sagte, die Verirrungen seiner Jugend durch freiwillige Verbannung. Meine Träumerei, das stumpfe Brüten war nun zu Ende, der Major sorgte, daß ich dazu nicht mehr kam. Bald war ich ein so verwegener Reiter und furchtloser Jäger wie er selber. Daneben gab er mir auch Unterricht in der englischen Sprache und in anderen Dingen, die ein Soldat wissen und kennen muß, – meine baldige Beförderung konnte nicht ausbleiben.

Da brach der Krieg mit den Indianern aus. Ihr erster Überfall galt unserm Fort. Der Sturm ward abgeschlagen; der Major beschloß, die Gelegenheit zu benützen und dem Feind eine derbe Lehre zu geben. Rasch ordnete er zwei Kompagnien; an ihrer Spitze verfolgte er den Feind! Aber das mußten die Rothäute beabsichtigt haben, uns ins freie Feld zu locken, – plötzlich krachten von allen Seiten Schüsse, aus dem Hinterhalte brachen die Feinde hervor, aus Angreifern wurden wir zu Angegriffenen. Schutzlos waren wir den nie fehlenden Büchsen der Wilden bloßgestellt, die, jede Deckung benützend, für unsere Kugeln und Angriffe gleich unerreichbar waren. Fluchend befahl der Major den Rückzug; mit wildem Geheul verfolgten uns die Indianer, ein Kampf Mann gegen Mann begann, ich wich dem Major nicht von der Seite. Eben hatte ich einen Wilden, der sein Tomahawk gegen den Major schwang, niedergestoßen, als mich ein stechender Schmerz in der Hüfte zu Boden warf; noch während ich fiel, sah 278 ich den Major mit gespaltenem Schädel stürzen, dann wurde mir dunkel vor den Augen!

Der Rest der Besatzung kam ihren Kameraden zu Hilfe, und so gelang es den Soldaten, ihre Toten und Verwundeten vor den Skalpiermessern der Wilden ins Fort zu retten. Für mich war der Tod des Majors ein schweres Unglück. Der neue Befehlshaber, – unser ehemaliger Kapitän, – konnte mich nicht leiden, schon während meiner Krankheit mußte ich mancherlei Quälereien ertragen, und als meine Wunde notdürftig geheilt war, erhielt ich meinen Abschied.

So stand ich wieder verlassen, mittellos in der Welt, bei weitem schlimmer daran als in St. Louis. Was blieb mir übrig? Als ein Zug Auswanderer, die über das Felsengebirge den Weg nach Kalifornien suchen wollten, bei dem Fort rastete, schloß ich mich ihnen an.

Und nun folgte ein wunderliches Leben, reich an Abenteuern und Gefahren aller Art, noch reicher an Enttäuschungen und Elend. In Kalifornien hatte ich und mein Kamerad das Glück, ein ziemlich reiches Goldlager zu finden. Wir arbeiteten rüstig, lebten mäßig, und so sah ich die Zeit kommen, da ich mein verspieltes Vermögen ersetzt haben würde, – und dann stand ja meiner Rückkehr zu euch, nach Hause nichts mehr im Weg. In einer stürmischen Nacht verschwand mein Gefährte mit allem Gold – ich war ein Bettler.

Das Goldgraben war mir verleidet, ich verließ die Minen und suchte in San Franzisko Arbeit. Ich fand sie und guten Lohn, aber die Arbeit und das Leben dort ertrug ich nicht. Kaum hatte ich das Reisegeld zusammen, schiffte ich mich nach Panama ein, benützte die neue 279 Eisenbahn über die Landenge und nahm dann Passage nach Neuorleans.

Hier begann das alte Lied. Arbeit, die für mich paßte, fand ich entweder nicht, oder wenn ich sie fand, war der Lohn so schlecht, daß ich nicht bestehen konnte; lohnende Beschäftigung gab's genug, aber dazu eben taugte ich nicht. Was ich alles begann, will ich nicht aufzählen. Zuletzt kam ich auf den Gedanken, einmal die Jagd zu probieren; halb verhungert gab ich das auf und ward Holzschläger am Mississippi, bis mich das Sumpffieber niederwarf.

Bisher hatte ich ausgehalten. Wenn ich auch nicht mehr hoffte, als rechter Mann zu meinen Bekannten oder gar nach Haus zurückzukehren, wenn ich's auch aufgegeben hatte, meine Schande zu tilgen, so stand wenigstens das in mir fest, noch weiter darf es mit mir nicht kommen, ehrlich und redlich wenigstens will ich mich durch die Welt schlagen. Als ich aber jetzt matt und elend zum Sterben in meiner Hütte lag, einsam, verlassen, vergessen, als ich tagelang kaum einen Trunk Wasser erlangen konnte, – da, ja da ward's mir zuviel. Solches Leben war schlimmer als der Tod; wenn mir nichts als Elend beschieden war, wenn ich es trotz aller Mühe zu gar nichts bringen konnte, warum starb ich nicht? Wozu war ich dann auf der Welt? An Selbstmord dachte ich nicht, das war für immer überwunden, aber nach dem Tod sehnte ich mich.

Um nicht zu verhungern, ging ich als Feuermann aufs Dampfschiff, als das Fieber nachließ. – Ja, ich gesteh's, ich dachte daran, das Schiff könnte einmal in die Luft gehen und meinem Elend mit einem Schlag ein Ende machen; auf alle Fälle würde ich aber die Arbeit nicht lange aushalten. Der Herrgott hat es anders gefügt, du 280 mußtest mich finden. Was nun werden soll, weiß ich nicht, viel auf keinen Fall, ich bin nun einmal ein Unglücksvogel, meine Umkehr kam zu spät!«

»Armer, armer Mensch!« sagte Rosine weich. »Zu verdenken ist dir's nicht, wenn dein Glaube nachläßt. Aber heb' nur den Kopf auf. Sieh', Fritz, daß du bei uns sitzest, daß du uns ehrlich und aufrichtig in die Augen gucken kannst, ist das nicht Beweis genug, daß deine Umkehr nicht zu spät 'kommen ist?«

»Ja, und das soll, will's Gott, dein letzter dummer Streich gewesen sein, daß du auch jetzt noch in der bittersten Not dich nicht deinen Freunden anvertrautest. Gib mir die Hand; ein neues Leben wird dir aufgehen!«

»Nichts, zu spät!« rief Fritz, und jetzt fiel Rosine der unheimliche Glanz seiner Augen auf. »Nur das Bärble hätte mir zurechthelfen können, mit mir ist's vorbei!«

»Das magst du sagen, Fritz? – Hat dir nicht das Bärble schon zurechtgeholfen nach deinen eigenen Worten? Was zog dich vom Wasser zurück? war's nicht ihr Andenken, ihr Wort?«

Fritz blickte überrascht auf. Plötzlich rief er: »Und wie steht's mit dem Bärble? – –«

»Nimm dich zusammen, Fritz! Mit solchen Hoffnungen freilich ist's nichts! Über drei Jahre stand Bärble bei fremden Leuten in Diensten, seit einem Jahr und darüber ist sie Jakobs Frau!«

Fritz schlug stöhnend die Hände vor das Gesicht.

»Fritz, – fass' dich, komm' zu dir!« sagte Bernhard ängstlich und versuchte, seine Hände vom Gesicht zu ziehen.

»Hab' Geduld, es wird vorübergehen!« ächzte Fritz. »O Gott im Himmel! Kann denn auch das größte Elend 281 die törichten Hoffnungen nicht ertöten? – Habe Geduld, lasse mir Zeit, – ich werde auch das überwinden!«

Als am nächsten Tage die Reisenden in Chicago das nach Milwaukee bestimmte Dampfschiff bestiegen, zog sich Fritz sogleich in seine Koje zurück. Rosine sagte bedenklich: »Es ist gut, daß wir bald daheim sind, ich fürchte, unser Fritz wird eine schwere Krankheit zu überstehen haben!« Bernhard nickte traurig. 282

 


 << zurück weiter >>