Heinrich Schaumberger
Zu spät
Heinrich Schaumberger

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Wolken

»Lieber Gott! – so ist's in der Welt!« seufzte Bärble, die matt und angegriffen im Sessel saß, als von der Dorfgasse lustige Musik und fröhliche Juhu in die stille Stube tönten. »Dorle – wer hätt's am Ständelesabend gedacht, daß ich eher nach Amerika komme als du?«

»Und ist's wirklich dein Ernst?« fragte Bernhard bedrückt, der mit Dorle und dem jungen Grundmüller bei Bärble geblieben war, da Eltern und Geschwister zur Feier der Nachkirchweih auf den Tanzboden eilten. »Getraust du dich allein in das fremde Land?«

»Ich bin nicht allein; die Sülzdorfer Amhofsleute, die mich mitnehmen, sind gar brav, die werden mich nicht im Stich lassen!«

»Wie kommst du so kurzerhand auf den Gedanken, übers Wasser zu gehen?« fragte der Grundmüller.

»Ach Gott, Müller, wie du auch fragst!« entgegnete Bärble, und ihre Augen füllten sich mit Wasser. »Was soll ich jetzt noch in Bergheim? In ein stilles Eckele verkriechen kann ich mich nicht, – wo ich nur den Fuß hinsetz' oder die Augen hinwend', werd' ich an mein Leid gemahnt, und – und, – ich darf's ja auch sagen, – soll ich's mit ansehen, wie der Fritz heiratet, herrlich und in Freuden lebt? – – Dann aber bin ich auch nichts mehr 185 geachtet bei den Eltern und Geschwistern. Sie verzeihen mir's nicht, daß ich mich nun durchaus nicht mehr mit dem Fritz einlassen will. Ach, ihr denkt nicht, wie mir zugesetzt worden ist, wie schlecht sie mich in den paar Tagen behandelt haben. Wie sie's nun gar zu toll machten, wie ich seh', was mir in dem Haus bevorsteht, war ich kurz entschlossen. Mein Bruder, der Beck, sollt' ohnedies auswandern, so sag' ich: ich geh' auch mit; hab's auch noch am selben Tag mit den Sülzdorfer Amhofsleuten verabredet. Mein Schiffsplatz ist bezahlt, – in drei Wochen geht's fort! – Seid mir wunderliche Leute, alle drei! – Was ist nun weiter dabei? Ein neues Leben muß ich einmal sowieso anfangen, und das wär' in Bergheim nicht einmal recht möglich, – drum ist's gleich besser, ich mach' einen richtigen Strich durch das, was vergangen ist. Müßt nicht meinen, als geh' ich mein Glück suchen, als erwart' ich drüben wer weiß was, – damit ist's vorbei. Aber vergrämen und verseufzen mag ich mein Leben nicht, dazu bin ich zu jung, achtet's auch für 'ne Sünd'! Mein Leid geht ja freilich mit mir übers Wasser, aber drüben weiß niemand, was mir begegnet ist, es sieht mich kein Mensch drum an, – so bin ich ein freier Mensch. – Und sonst werd' ich mit Gottes Hilfe auch zurechtkommen.«

»Bärble,« schluchzte Dorle, »ich hab' dir oft in Gedanken unrecht getan, hab' dich für windelweich und ein gut's Närrle angesehen und mir was recht's auf meine Stärk' eingebildet. – Bernhard, ich sag' kein Wort mehr gegen Amerika, was du tust, soll recht sein.«

»Ist's gewiß mit der Abreise in drei Wochen?« fragte der Grundmüller. »Und geht's über Bremen oder Hamburg?«

186 »Über Bremen mit dem Schiff ›Elisabeth‹ nach Neuyork. – Da ist meine Fahrkarte, am 15. Oktober geht mein Schiff in Bremerhafen ab.«

»Und drüben? – Was gedenkst du da anzufangen?«

»Weiß ich's? – Zuerst bleib' ich bei den Amhofs, die nach Illinois oder Missouri hineinzugehen gedenken; vielleicht find' ich in ihrer Nähe einen Dienst.«

»Das ist ja nicht so arg weit von Wiskonsin, wo sich mein Jakob 'rumtreibt und, glaub' ich, auch anzukaufen gedenkt. – Guck', das bringt mich drauf, warum ich eigentlich 'kommen bin. Da hat mir der Jakob geschrieben und gleich viele Grüße an dich aufgetragen, – hast nichts an ihn auszurichten?«

»Grüß' ihn wieder und ich laß ihm danken! – Wenn's ihm nur glückt, er verdient's!«

Eben ward die Tür geöffnet und der Türkenfritz stand auf der Schwelle. Wie war auch er verändert! Die Augen lagen tief und glanzlos in ihren Höhlen, aus dem Gesicht war alle Farbe gewichen, die bleichen Lippen waren fest zusammengepreßt. Mit einem Schreckensruf verbarg Bärble das Gesicht in beiden Händen, Fritz aber eilte jetzt zu ihr und versuchte ihre Hände vom Gesicht zu ziehen. Er konnte nichts sagen als: »Bärble!«, aber in diesem einen Wort lag so viel Kummer und Reue, so viel Schmerz und Jammer, daß sich selbst die beiden Männer abwendeten, um ihre Bewegung zu verbergen. Bärble schluchzte krampfhaft, als sie sich aber von Fritz nicht losmachen konnte, als ihr niemand zu Hilfe kam, sprang sie auf, riß ihre Hände los und schlüpfte in die Stubenkammer, deren Tür sie hinter sich verriegelte.

Fritz starrte ihr eine Weile regungslos nach, schlaff 187 hingen seine Arme nieder, wie träumend gingen seine gläsernen Augen von einem zum andern, aus den Tiefen der Brust rang sich gewaltsam ein heftiges Schluchzen los. An der Tür rief Fritz die zärtlichsten Namen, verzweiflungsvoll bat er Bärble nur um einen einzigen Blick, ein einziges Wort, – vergebens; unterdrücktes Weinen war die einzige Antwort. Zuletzt verstummte auch Fritz; seine trostlosen, verstörten Blicke, die wie verzaubert an der Tür hingen, ängsteten den Grundmüller. »Fritz,« sagte er und zog ihn weg, »du bist wahrhaftig zu bedauern! – Solche Standhaftigkeit hätt' ich dem Mädle nun und nimmer zugetraut. Nimm dich zusammen, Fritz! Komm' mit, hier hast du nichts mehr zu tun; draußen kommst du auch eher auf andere Gedanken!«

Willenlos folgte Fritz dem Grundmüller, nur unter der Tür schlug er beide Hände vor das Gesicht und ein leiser, herzzerreißender Jammerton klang dumpf zurück.

Bernhard blickte finster hinauf zu den jagenden, grauen Wolken, und Dorle weinte an seinem Hals; so standen sie lange, endlich klopfte Bernhard an die Kammertür und sagte: »Mach' auf, – er ist fort!«

Bei ihrem Eintritt in die Kammer fanden sie Bärble verstört, noch bleicher als vorhin, auf dem Bett ihrer Mutter sitzend. Schluchzend warf sie sich an Dorles Brust, Bernhard schob seine Mütze hin und her: »'s ist eine verkehrte Welt! – Warum müssen sich nur die Menschen so plagen? – 's weiß der Geier! Erst war ich so wild auf den Fritz, ich hätt' ihm was anders antun können, – jetzt dauert er mich doch. Weißt du's ganz gewiß, daß du ihm nie wieder gut sein kannst?«

Bärble rang die Hände und blickte zum Himmel. Sie 188 verschluckte jedoch die Worte, die ihr auf der Zunge lagen und sagte: »Nein, niemals! – Ich kann nicht!«

»'s ist gut, – 's ist gut so!« entgegnete Bernhard mit einer ihm ungewöhnlichen Hast. »Du mußt das am besten wissen! Nun führ's aber auch ernsthaft durch, – laß das Weinen!«

»Ja, Bernhard, das laß ich auch noch und mit Gottes Hilfe bald. Aber das Weinen liegt so gut in unserer Natur wie das Lachen, – und alles hat seine Zeit.«

»So ist's nicht gemeint, Bärble; ich mein' nur, das viele Flennen macht weich und wankelmütig und gibt dem andern Teil neue Hoffnung, – so hört das Gezerr in Ewigkeit nicht auf.«

»Ich mach' keine Hoffnungen! Ach, wären doch erst die drei Wochen überstanden, ich seh's kommen, wie mir noch zugesetzt werden wird.«

»Eben drum! Läßt du nur die geringste Schwachheit spüren, fallen sie erst recht über dich her!«

»Du bist ein guter Mensch, ich weiß 's ja! Laß mich nur, ich werd' schon ruhig und fest, wenigstens äußerlich, denn da drinnen, ach, da wird's noch lang wühlen und rumoren. Wir kommen bald auseinander, wer weiß, ob wir uns wiedersehen, – habt Dank für eure große Lieb' und Treu', die ihr mir immer bewiesen habt. Laßt euch mein Schicksal eine Lehre sein; haltet treulich zusammen in Lust und Leid, vergeßt aber auch nicht, daß 's die Lieb' nicht allein tut, daß man sich auch was achten muß, soll wahres Glück 'rauskommen. – Und jetzt geht ihr auf den Tanzboden, ihr sollt meinetwegen die Nachkirmse nicht versäumen, zumal's vielleicht die letzte ist, die ihr hier erlebt. Geht nur hin, ich tu's nicht anders, besucht mich 189 lieber sonst noch recht oft. – Ich ging gern zu deiner Mutter, Bernhard, aber ich fürchte mich vor dem Fritz; möchtet ihr sie auf ein halb's Stündle zu mir schicken? – Es ist ja heut' Sonntag, sie versäumt nichts, und auf den Tanzboden wird sie sich nicht sehnen. – So, ich dank' euch; nun geht hin und macht euch recht lustig, ihr könnt's, ein glücklich's Leben liegt vor euch, – so, – soll ich euch hinausjagen?«

Draußen im Hof warf sich Dorle ihrem Bernhard an den Hals. »Was hast nur, Mädle?« fragte dieser höchlich verwundert. »Solch zutunlich Wesen ist doch sonst deine Art nicht?«

»Eben drum!« entgegnete Dorle, ohne aufzublicken. »Guck, ich hab' gemeint, solche Herzlichkeit und Liebreichigkeit, wie sie das Bärble an sich hat, das wär' ein geziertes, unnatürliches Wesen, passet' sich nicht und machet' einen weich und flennerig. Drum war ich oft mit Absicht recht herb und trotzig, weil ich dacht', das wär' was rechts! Jetzt seh' ich, das Bärble ist doch ein ganz andres Mädle, wie ich, ohne Furcht tut sie allein, was ich mir nicht einmal zusammen mit dir getraute. – Da seh' ich recht, daß Gütigkeit nicht schwachherzig macht. – Ich will dir auch eine liebreiche Frau werden, deine Mutter soll's von heut' an spüren, wie lieb ich sie hab'!«

»Donnerwetter, Mädle, jetzt hätt' ich um ein Haar auch noch Juhu geschrien!« jubelte Bernhard und gab Dorle einen herzhaften Kuß. »So ist's eben noch einmal wahr: auch 's größte Unglück ist noch zu was gut! Ich gesteh' dir's, ein bißle sanftmütiger und zutunlicher hätt' ich dich immer gewünscht; brauchst nicht rot zu werden, ein Linsele Liebetat und Schöntun gehört auch zum Braut- und 190 Ehestand! Geh' jetzt zur Mutter und sag' ihr das auch, du wirst sehen, was du für eine Freud' bei ihr anstellst. Bleib' aber nicht zu lang, darauf müssen wir eins zusammen tanzen!«

Als Bernhard an der Kastanie vorbeigehen wollte, sah er Fritz am Stamm lehnen und nach dem Kammerfenster blicken. Er bemerkte den Näherkommenden nicht, erst als ihn dieser am Arm faßte, fuhr er auf und blickte wild um sich. »Bist du's?« begann er tonlos. »Was willst? – Da hast mich, mach' mit mir, was du magst, ich wehr' mich nicht, – schlag' zu! – –«

»Fritz!« rief Bernhard heftig erschrocken, »was redest du für verworrenes Zeug? – Komm' doch zu dir, kein Mensch will dir was tun, ich am allerwenigsten!«

»Nicht? – Du lügst, Bernhard! – Hast du nicht geschworen: alle Knochen schlag' ich dir entzwei, hast du das Bärble noch einmal zum Narren! – Und kommst du nicht aus ihrem Haus, weißt nicht, wie ich sie wieder zum Narren hatte? – Schlag' zu, – da, – aber gleich ordentlich, fest! – Was guckst mich an? – warum tust's nicht?«

»Ach Gott im Himmel, Fritz, komm' zu dir! Fort jetzt aus dem Hof, ich geh' mit dir. Du tust mir gar herzlich leid, Fritz, darfst's glauben, möcht' dir gern helfen, wenn's ging. – Stolper' doch nicht so! Pfui, wer wird so verzagt tun! – Fritz, – wenn du so verwirrt dreinguckst, geh' ich auch nicht mit dir! – Raffle dich zusammen! Soll's heißen: der Fritz ist übergeschnappt? – – Versündige dich nicht an deinem Herrgott! 's ist freilich schlimm, was dich betroffen, aber du bist nicht der einzige, dem's so geht. – – Freilich gibt's nur ein Bärble, aber wenn du sie 191 einmal nicht haben kannst, mußt du eben leben ohne sie. – Ja, ja, 's geht schon, du mußt nur das Deine auch dazutun! So – 's sieht uns kein Mensch, wein' nur – ich versteh' dich, Fritz! Du weißt auch, mir kannst du trauen!« –

Dorle wartete lange vergeblich auf Bernhard, als er endlich den Tanzboden betrat, sah er so traurig, so innerlich ergriffen drein, daß Dorle allen Unmut vergaß, ihn in eine Ecke zog und hastig fragte: »Was hast du, was ist dir begegnet?«

»Draußen will ich's erzählen, in dem Gedränge erstick' ich, – tanzen kann ich ohne dem nicht, die Lust ist mir vergangen!« entgegnete Bernhard. Als sie dann Hand in Hand durch den Schloßgarten schritten, erzählte er: »Ich bin ganz wirr! – Solche Lieb', wie sie der Fritz hat, ist mir noch nicht vorgekommen! – Man sollt's nicht glauben, daß derselbe Mensch solche hirnlose Streiche ins Werk richten konnt'! Er machte mir recht zu schaffen, wollt' durchaus nichts annehmen, erst das fruchtete, als ich ihm vorstellte, wohin ihn sein unvernünftiger Jammer führen müsse, und wie er dadurch das Bärble erst noch völlig verschimpfe und auf Zeitlebens unglücklich mache. Zuletzt hat er mir doch die Hand drauf 'geben, daß er sich zusammennehmen wollt'! Aber wie lang' wird das vorhalten? Wenn er's auch nicht gesteht, die Hoffnung auf endliche Aussöhnung ist's doch allein, was ihn noch aufrecht erhält! Was werden wird, erfährt er, daß Bärble nach Amerika auswandert, das mag ich mir gar nicht vorstellen!«

Graue, finstere Wolken quollen unaufhörlich hinter den Tannen des Lindenbergs und Kulms hervor, langsam wälzten sie sich am Himmel dahin, schwerfällig zogen sie 192 dem schon ganz umhüllten Gebirge zu. Dazu pfiff ein kalter, herbstlicher Wind über öde Stoppelfelder und entfärbte Wiesen, und ein Zug Raben strich mit schwerem Flügelschlag lautlos über das Dorf. Tiefe Stille lag auf den verödeten, kahlen Fluren, nur droben auf dem Kulm brauste es dumpf und hohl in den Tannen, und die schwerbehangenen Obstbäume seufzten unter den Stößen des Windes. Im schneidenden Gegensatz tönten aus dem unteren Wirtshaus dann und wann helle Jauchzer, abgerissene Takte der Musik herauf. Bernhard fröstelte es, er beschleunigte seine Schritte und atmete erst auf, als im stillen, traulichen Stübchen Dorle neben ihm saß. Kopfschüttelnd meinte er: »'s ist 'ne wunderliche Welt! – Wie schön wär's doch, könnten wir in dem Häusle bleiben, unter bekannten Leuten vorwärts kommen, in der Heimat Kinder zu braven Menschen großzieh'n. – Aber es soll nicht sein, und ich tröste mich. Wie jetzt die Wolken so tief auf dem Dorf liegen, kennt man das schöne Bergheim nicht wieder, – wer glaubt, wie es im Sonnenschein lachen kann? Und während drunten im Wirtshaus alt und jung sich vergnügt und an nichts denkt als an Lustbarkeit, härmen sich zwei Menschen, die unter allen am glücklichsten sein könnten, bis zum Tod ab! – Dorle, wir wollen uns bescheiden! Gib mir die Hand: soviel an uns liegt, soll nichts versäumt werden, um zum Glück zu gelangen, – 's weitere aber stellen wir Gott anheim. Bis zum Frühjahr wird sich ein Unterschlupf für die Mutter finden, du bleibst in deinem Dienst, – wenn der Kuckuck schreit, geh' ich übers Wasser, ein Eckele für uns zu suchen. Hab' ich's gefunden, kommt ihr nach – ist's so recht?«

193 »Wie alles, was du tust!« entgegnete Dorle und schmiegte sich fest an ihn.


»Habt Dank, daß Ihr kommt!« rief Bärble der Schustersrosine zu und zog sie dicht neben sich. »Hab' mich rechtschaffen nach Euch gesehnt, und getraute mich doch nicht aus dem Haus! – So, nun ich Eure Hand festhalt', ist mir schon wie geholfen. Ach, Rosine, was hab' ich wieder durchmachen müssen!«

»Ja, ja! – Weiß alles, erzähl' mir gar nichts!« entgegnete Rosine, legte den Kopf des Mädchens an ihre Brust und strich ihr sanft über Kopf und Wangen. »'s ist schlimm, recht schlimm, – aber ich hab' das ja lang' vorausgesehen, – und du auch!« Als Bärble nickte, fuhr sie fort: »Seine Natur kann ein Mensch nicht so leicht verleugnen; Fritz ist nun einmal ein Leichtfuß, dabei hochmütig und ehrsüchtig, – das ist nicht über Nacht abzugewöhnen. Obendrein wird der Türkenhenner redlich gesorgt haben, den Fritz zu verwirren, denn daß du ihm nicht gut genug warst, weiß ja das ganze Dorf. Kommen mußt's einmal, – dank' Gott, daß es bald geschehen ist! – Ich kann mir nicht helfen, Mädle, ich muß die Türken mehr bedauern wie dich, – du nicht, aber die haben verloren, – und wissen noch gar nicht einmal, wieviel! – Ja, ja,« fuhr sie mild fort, als Bärble tief aufseufzte, »ich versteh's schon, dagegen möchtest du Einspruch tun! – Wart's nur ab, Bärble, du wirst mir selber noch recht geben! Ich freu' mich, daß du bei allem Elend doch den Kopf oben behältst; du tust recht, daß du der Vergangenheit aus dem Weg' gehst. Hätt' ich's damals gekonnt, wie der Bernhard auf die Welt kam, es wär' für ihn und mich 194 besser gewesen, wer weiß, wie's anders um uns ständ'! Geh' du in Gottes Namen, bleib' fromm und rechtschaffen, so wirst du auch bald in Amerika daheim sein!«

»Ich dank' Euch! – Gelt, ich tu' recht so?«

»Nach meinem Verstand ganz und gar. Das Dorle hat mir erzählt, wie elend der Fritz aussieht, und wie es ihm diesmal gewiß ernst ist mit der Umkehr. – Ja, er tut mir auch schon leid, aber so sehr bedauern kann ich ihn nicht; ein Mensch, der eben gar nicht einsieht, was zu seinem Frieden dient, der ist nichts Rechtes, den kann man nicht achten, noch weniger ihm vertrauen. 's Dorle meint freilich, vielleicht nähm' sich der Fritz die Lehr' nun doch zu Herzen und würd' anders, – gewiß ist's die Möglichkeit, indes – –«

»Nein, Rosine! – Ich kann nicht, es ist mir ganz unmöglich, daß ich ihn wieder annehme!«

»Dasselbe hab' ich daheim schon dem Dorle gesagt. Alles in der Welt hat Maß und Ziel, auch das Ertragen und Verzeihen. Auch der gutherzigste und liebreichste Mensch hat einen Punkt in sich, über den kann er nicht hinaus. Ist das Seil überspannt, zerreißt's, und ein Gaul, einmal überladen, ist für rechten Zug verdorben. Wer die Lieb' auf gar so harte Proben stellt, der ist rechte Lieb' gar nicht wert. Grad' wer so recht von Herzen vergeben kann, wer erträgt ohne Seufzen, was irgend zu ertragen ist, – der weiß auch genau, wo's ein End' haben muß. Die Welt freilich begreift das nicht, die Leut' schlagen in heller Verwunderung die Hände über dem Kopf zusammen, wie der sanftmütigste Mensch sich so gänzlich verwandeln, wie er im Handumdrehen so fest und hart werden konnte. Sie verstehen nicht, daß von gar keiner Veränderung zu 195 reden ist, daß er nur seiner Natur folgt und in Wahrheit nicht anders kann!«

»Ihr wißt einem so recht aus der Seel' zu reden!« sagte Bärble leise. »Ich dank' Euch, – werden mir doch überall andere Gedanken untergeschoben.«

»Laß doch, auch von anderen Seiten betrachtet, hast du in allen Stücken recht. Kann mir denken, was dir eingeredet werden mag – 's dritte Wort wird immer »verzeihen« sein. Und doch handelt sich's darum gar nicht. Von Zorn und Haß gegen Fritz ist bei dir nicht zu reden, – also, was sollst du ihm noch vergeben? Lieber Gott, wär's damit abgetan, ihr wäret ja längst schon einig. Aber es handelt sich um mehr. In jedem Ehestand gibt's täglich was nachzusehen, 's ist nun einmal kein Mensch vollkommen; wenn nun aber schon vor der Trauung gar so viel böse, so viel schlimme Dinge vorgefallen sind, dann ist's mit einem rechten Ehestand vorbei. Nehmen wir den Fall, der Fritz wär' dein Mann und beging wirklich einen Fehler ohne bösen Willen, – wer bürgt dir dafür, daß nicht doch eine schlechte Absicht dahintersteckte? Du wirst das Mißtrauen ewig nicht los, wirst ihm bald zuviel, bald zuwenig tun, und was daraus erfolgen muß, ist klar!«

»Rosine,« rief Bärble und sprang auf, »Ihr nehmt mir den letzten Stein vom Herzen, nun auch Ihr das sagt, bin ich ganz getröstet!«

»Mußt dich nicht so auf mich verlassen; ein jeder Mensch, der das Rechte ernstlich will, findet's endlich auch in sich selber!«

»Nun soll mich das sonstige Geschwätz auch nicht mehr anfechten. Ach, Rosine, wie wird auf mich losgestürmt! Was mich zuletzt am meisten verwirrte, war, daß ich's 196 keinem Menschen recht machen konnte. Dem einen war ich zu weinerlich, dem andern zu gleichmütig; dem einen zu niedergeschlagen, dem andern zu gefaßt! – Ach, Rosine, ich hab' meinen Jammer nach dem Vogelschießen durchgekämpft, damals hat sich's in mir entschieden, nicht jetzt. Wie ich mich mit dem Fritz damals vertrug, wußte ich ja gut genug, es ist das nur ein Aufschub der völligen Trennung; ausbleiben kann sie doch nicht. Ich hatte auch die ganze Zeit nicht Ruh' und nicht Rast, es lag was auf mir, wie ein groß, groß Unrecht; eine innerliche Angst trieb mich herum, ich konnt' mir selber nimmer trauen und ward irr' an der ganzen Welt. – Jetzt erst ist mir wieder frei und wohl, ich weiß, ich bin auf dem rechten Weg, ich weiß, ich bin wieder da, wo ich seit dem Vogelschießen hätte stehen müssen. Damit ist nicht gesagt, daß ich nichts spüre, – du lieber Gott, das Leid schläft nie ein in mir, ich weiß am besten, was ich zu tragen habe. Aber Eure Worte sind mir unvergessen, und ich erprobe ihre Wahrheit an mir. Es ist wahrlich schon viel gewonnen, wenn man's so weit hat, die Tränen ins Herz 'nein zu weinen; mit dem Vorsatz: du mußt den Jammer zwingen, ist ihm schon die halbe Schärfe genommen. – Ich hab' Euch viel zu danken, Rosine; ist's doch ein Glück um einen Menschen, von dem man erkannt wird!«

Rosine wollte beides, Dank und Lob, ablehnen, da öffnete sich die Tür, und die Türkenbäurin trat ein. Heute flog ihr Bärble nicht entgegen; sie drückte dem unerwarteten Besuch die Hand und sagte: »Bäurin, ich kann mir denken, was Euch zu mir führt, verschont mich. Macht mir meine Last nicht noch schwerer, sie drückt ohnedem genug. Jedes Wort ist vergebens! Einmal hab' ich Euch 197 nachgegeben, – 's war das zu viel. Verschont mich, Bäurin, es hilft doch zu nichts!«

»Kind, Kind, ist das wirklich dein letztes Wort?« rief die Bäurin. »Ach, warum bin ich auf der Welt? Warum hab' ich nicht ein Kämmerlein gefunden droben bei meiner Mathilde?«

»Bäurin,« mahnte Rosine, »was sind das für Reden?«

»Ach, laß mich, laß mich, – ich ertrag's auch nicht mehr!« weinte die Bäurin. »Mein Gottfried ist schon lang dem Grab verfallen, nun werd' ich auch noch meinen Fritz verlieren!«

»Bäurin,« rief Bärble, »verdiene ich das?«

»O du liebster Heiland, so war's ja nicht gemeint! Für dich soll's kein Vorwurf sein. Aber ich bin die Mutter, Bärble, die Mutter! Soll ich nicht klagen, wenn ich sehen muß, wie der Bursch mehr und mehr verfällt, wie er jetzt nach kaum vier Tagen nimmer zu erkennen ist? – Und das ist ja nicht einmal das Schlimmste! Ich seh's kommen, daß er seine guten, klaren Gedanken verliert! – 's gibt schon Zeiten, wo nichts – nichts mehr mit ihm anzufangen ist.«

»Bäurin, Ihr seid auch gleich gar zu ängstlich!« sagte Rosine. »Fritz wird eben manchmal nicht wissen, wo ihm der Kopf steht, – und das mit Recht! – Das wird sich aber bald geben. 's stirbt sich nicht so leicht, Bäurin, das hab' ich an mir erfahren, und auch von Gedanken wird er nicht kommen, – er hat sich ja doch alles selber zuzuschreiben!«

»Eben das ist's, was mich so ängstigt, Rosine! Wär' das Unglück ohne sein Verschulden über ihn 'kommen, so würd' er's überstehen, man könnt' ihn ja auch trösten und 198 aufrichten. Aber so! – Ach, es ist das Elend gar zu groß. Bärble, nimm dir meinen Jammer zu Herzen, laß mich nicht ohne Trost von dir! – Bärble, Bärble – hör' auf mich! Du wirst vielleicht auch einmal Mutter, deine Kinder können auch in Not kommen, – Bärble, denk' daran, verlaß mich nicht!«

»Hört auf, Bäurin, das ist ja eine sündhafte Unterredung! Wollt Ihr dem Bärble ins Gewissen schieben, was der Fritz ganz allein verschuldet hat? – Lasset ab! Ich bin auch eine Mutter, ich versteh', wie Euch zu Mut sein mag, – aber wär' ich in Eurer Lage, ich würde mich der Sünde fürchten, auf die Weis' in ein armes Mädle zu stürmen. Lasset sie, Ihr kennt das Bärble so gut wie ich, sie weiß allerwegen, was sie tut, macht ihr's nicht zu schwer!«

»So soll ich wirklich ohne Trost heim?« meinte die Bäurin.

»Wer tröstet mich? wer nimmt sich meiner an?« sagte Bärble, die sich hoch aufgerichtet hatte. »Bin ich weniger wert, verdiene ich weniger Mitleid als der Fritz? Bin nicht ich's, die 's Recht hätte zu jammern, zu klagen, an Gott und der Welt zu verzweifeln? Hab' ich mit Fritz oder er mit mir ein sündhaft freventlich Spiel getrieben? Ich habe Fritz treu geliebt, ja, Euch gesteh' ich's, heut' noch kann ich ihn nicht vergessen, – aber zwischen uns ist's aus! – Vielleicht ists auch seinetwegen gut, bleib' ich standhaft, doch weiß ich das nicht, – ich für meinen Teil kann nicht anders. Um mich sorgt niemand, kein Mensch nimmt sich herzhaft meiner an, so muß ich selber für mich sorgen, selber für mich denken und für mich einstehen. Und da ich einmal weiß, ich kann den Fritz nicht nehmen, merkt das, 199 Bäurin, ich kann nicht, wär's ein groß Unrecht wider mich selber, wollt' ich auf Zureden wiederum nachgeben. Und daraus könnt' auch für alle Teile nichts Gutes erwachsen. Nehmt mir die freie Red' rechtschaffen nicht übel, Eure Lieb' und Güt' gegen mich armes Mädle vergeß ich mein Lebtag nicht; dem Fritz wünsch' ich von Herzen alles Glück, Euren Gottfried grüßt besonders, das ist ein ausbündig braver Mensch. So, – quält mich nicht weiter, hofft das Beste, es wird alles wieder ins Gleis kommen! Gehabt Euch wohl!«

Auf dem Hausflur ward die Stimme der Veitenbäurin laut; Bärble schlüpfte durch die Küchentür und riegelte sich in ihrer Kammer ein. 200

 


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