Heinrich Schaumberger
Zu spät
Heinrich Schaumberger

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Nach Amerika

Der Türkenhenner war in den drei Wochen seit der Kirmse auffällig gealtert, gebeugt schlich er herum, schärfte mit der Zunge die schmalen, farblosen Lippen, und seine Augen irrten ängstlich, unruhig von einem Gegenstand zum andern. Dann und wann blitzte wohl noch ein Strahl der alten Heimtücke darin auf, hin und wieder zuckte auch der alte boshafte Spott um seine Lippen, – aber das geschah von Tag zu Tag seltener; je bleicher und faltiger sein Gesicht wurde, je trüber nach schlaflosen Nächten die Augen aus ihren tiefen Höhlen hervorschauten, desto stiller und nachgiebiger ward Henner gegen seine Angehörigen, ja, er machte sogar hie und da Versuche, einen herzlichen Ton in seine Worte zu legen.

Ja, das Schicksal schien endlich nachholen zu wollen, was es so lange versäumt; im Alter nahm es den Henner in die rauhe Schule des Unglücks, legte ihm schwere und immer schwerere Sorgen auf den gebeugten Rücken, und erweckte in seiner Brust zwei böse Geister, Kummer und Reue, – und Henner hatte durch sein ganzes Leben lang treulich gesorgt, daß sie nicht so bald zur Ruhe kamen.

Wie brannten ihm die Tränen der Armen auf der Seele, die er in seinem Schulzenamt oder auch sonst um Hab' und Gut gebracht, – jetzt, da durch den Auszug der 201 Bäurin sein Reichtum zu verschwinden drohte; wie quälten ihn die blassen Gesichter, die traurigen Blicke derer, denen er erbarmungslos die Heimat geraubt, – jetzt, da der eigene Haushalt auseinander zu fallen drohte. Am schrecklichsten peinigten ihn aber die Erinnerungen an die Armen, denen er es unmöglich gemacht, einen eigenen Herd zu gründen, die er mit kaltem Blut ins Elend oder hinaus in die Fremde getrieben hatte, – jetzt, da er den eigenen Sohn um sein Lebensglück betrogen, ihm alle Aussichten für die Zukunft zerstört, da er ihn aus dem Elternhaus trieb, einer ungewissen Zukunft entgegen. Mit Schauder erkannte Henner eine höhere Hand über sich; das Walten der ewigen Gerechtigkeit, gegen die es keinen Widerstand gab, der er nicht entrinnen konnte, erfüllte ihn mit Entsetzen; sein Elend stieg aufs höchste, da die Bäurin und Gottfried, die einzigen Menschen, bei denen er hätte Trost und Beistand suchen und finden können, ihm scheu, ja fast ängstlich auswichen. Henner war nie fromm gewesen, hatte sich wenig um Religion und Kirche gekümmert, das Gebet hatte er von jeher verachtet und verlacht, – jetzt, wo er sie so nötig brauchte, blieb ihm auch die letzte Quelle des Trostes verschlossen, – er konnte nicht mehr beten. Von all den kräftigen, trostreichen Bibelworten, die er im Schul- und Konfirmandenunterricht gelernt, war ihm nichts geblieben, als die finstere, alttestamentliche Drohung: »Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten«, und »was der Mensch säet, das wird er ernten!« Und so oft sich auch seine arme Seele zu Gott wenden wollte, der furchtbare Spruch scheuchte sie zurück, warf sie noch tiefer darnieder denn zuvor.

»Fritz!« sagte Henner leise, aber der Angeredete, der 202 mit den Armen auf dem Tisch lag und darauf seinen Kopf gesenkt hatte, antwortete nicht. Die Lippen schärfend, nahm Henner seinen Gang durch die Stube wieder auf, bei jedem Seufzer der Bäurin, die auf der Ofenbank saß und tränenlos vor sich hinstarrte, schrak er zusammen.

»Fritz!« sagte er nach einer Weile. Wiederum tiefe Stille; Henner rang die Hände und blickte seufzend hinaus in das wilde Wetter. »Bäurin, – versuch's, vielleicht bringst du ihn zum Reden!« Ein leichtes Kopfschütteln wies ihn auch hier ab, und Henner trippelte wieder durch die Stube.

»Fritz,« begann er zum drittenmal und rüttelte den Sohn, »Fritz, – red' nur ein einzig's Wörtle, – nur ein einzig's!«

»Laßt mich«, klang es dumpf unter den Armen hervor. »Was hab' ich mit Euch zu schaffen!«

»Kommt man dem Vater so?«

»Habt Ihr väterlich an mir gehandelt?«

Henner verstummte; aber seine Angst wuchs zusehends, immer eilfertiger trippelte er durch die Stube, bald blickte er auf die Straße, bald in den Hof. Zuletzt konnte er sich nicht mehr bezwingen, legte dem Sohn abermals die Hand auf die Schulter und fragte: »Fritz, – gelt, du gehst nicht nach Amerika?«

Die Bäurin seufzte, Fritz schüttelte stumm die Hand des Vaters von sich, und eine Zeit hörte man nichts, als das Ticken der Wanduhr. Da klangen auf dem Tritt vor dem Haus Schritte; die Bäurin verhüllte das Gesicht, Henner trommelte an die Fensterscheiben, Fritz aber fuhr auf und strich die wirren Haare aus dem marmorweißen Gesicht. Fragend starrte er dem langsam eintretenden Gottfried in die Augen, mühsam preßte er die Worte hervor: »Wie steht's?«

203 Gottfried hing seine Mütze bedächtig an die Wand und erwiderte: »Wie ichs voraussagte! – Eben ist das Bärble abgereist! – Sie läßt dich grüßen und bitten, nun endlich abzulassen von törichten Streichen. Zwischen dir und ihr läg' ein Abgrund, den nicht einmal das große Wasser ausfüllte, – drum solltest du deinen Gedanken aufgeben und daheim bleiben. In Amerika würde sie so wenig deine Frau als in Bergheim!«

Fritz hatte stöhnend seinen Kopf wieder auf die Arme sinken lassen; Henner wollte erfreut auf ihn einreden, aber ein Wink der Bäurin hielt ihn ab. Die bedrückende Stille unterbrach endlich Fritz selbst, der aufspringend rief: »Und ich muß ihr nach, ich muß, und wenn sich mir die ganze Welt in den Weg stellt! – Redet mir nicht ab, es ist vergebens; ich hab' lang' nicht recht gewußt, was ich will, jetzt weiß ichs. In Bergheim halt' ich's nicht aus, ich ging' zu Grund, und das bald, – drum haltet mich nicht auf, – – Ich kann ohne das Bärble nicht leben, und ich spür's auch, noch ist sie nicht für mich verloren, trotz ihrer Reden. Sie legt mir's ja nah' genug, was ich tun muß. Sie will nur einen Beweis haben, ob mir's auch wirklich ernst ist mit meiner Lieb', und den Beweis muß ich führen dadurch, daß ich ihr nachreis'! – Ich weiß, tret' ich drüben vor sie hin, dann muß sie mir glauben und trauen, dann kann sie nicht länger widerstehen, – ach Gott, schüttelt nicht die Köpfe, nehmt mir nicht die letzte Hoffnung! – Mutter, Gottfried,« fuhr er dringend fort, ohne die Einreden und Bitten des Vaters zu beachten, »macht mich nicht unglücklich, saget nicht nein! Es ist für uns alle das Beste, ihr laßt mir meinen Willen!«

»In Gottesnamen sollst du ihn haben!« weinte die 204 Mutter und fuhr mit der Hand dem Sohn, der bittend vor ihr stand, sanft durch die Haare. »Ich hab' nicht das Herz, dich abzuhalten, – Gott geb', daß das der Weg zu deinem Glück ist. Nur eins versprich mir, Fritz, daß du wiederkommst. Gelt – das versprichst du mir!«

»Ich meine jetzt beinah' selber auch, wir sollten dir nicht allzu viel abreden!« sagte Gottfried bedächtig. »Was du da gesagt hast, will mir schier selber einleuchten. – Freilich, so sichere Hoffnung, wie du, hab' ich nicht, das Mädle hat einen zu festen Willen. Auf alle Fälle aber kann's nicht schaden, du versuchst noch einmal dein Glück!«

Er konnte nicht weiter reden, Fritz lag an seinem Hals und erstickte ihn fast, so fest drückte er ihn an sich. Dem Henner wollte zwar die Sache nicht einleuchten, aber er war doch viel zu sehr gedemütigt, als daß er noch einen Einspruch hätte wagen können. Und die Bäurin? – Ach, in ihrem Herzen stritten Leid und Freude! Schien ihr mit Fritzens Auswanderung gleich der Verlust sämtlicher Kinder gewiß, so rührte sie wieder die ungewohnte Eintracht der Brüder aufs tiefste, und wenn sich auch der Verstand dagegen sträubte, ihr Herz war nur zu geneigt, diese so unerwartet hervorbrechende Zärtlichkeit für ein günstiges Vorzeichen zu nehmen.

Einmal mit seinem Plan einverstanden, rieten nun selbst die Eltern und der Bruder, keinen Augenblick unnötig zu versäumen. Denn je eher er ans Ziel gelangte, desto besser war es für alle. Fritz ruhte nicht, bis Gottfried einwilligte, sämtliche Grundstücke, wie auch alle bewegliche und unbewegliche Habe um eine nicht allzu hohe Summe zu übernehmen. Dazu lachte Henner freilich wieder in seiner spöttischen Art und schnippte höhnisch mit den Fingern; 205 als ihm aber die Bäurin und Gottfried erklärten, daß sie unfehlbar bis Petri den hintern Hof beziehen würden, gebe er nicht sogleich freiwillig und freundlich seine Einwilligung, als ihm besonders Fritz mit herben Worten vorwarf, er habe es nun einmal auf seinen gänzlichen Untergang abgesehen, gab er seufzend nach. Nur einen ordentlichen, gründlichen, rechtschaffenen Auszug bedang er sich aus, der ihm denn auch zugesichert ward. »Fritz, daß ich die Güter übernehm',« sagte Gottfried, als man in allen Punkten einig geworden war, »tu' ich bloß der Mutter und deinetwillen. Es wird dadurch vieler Unordnung, vielem Hader vorgebeugt, und die Mutter und ich können's uns leichter machen, ohne daß das Vermögen darunter leidet. Merk' dir's, nimmst du dich zusammen, hältst du drüben deine Sachen zu Rat', wirst du ein ordentlicher, ganzer Kerl, – so sollst du, wenn es dir in Amerika nicht gefällt, jederzeit bei mir eine Heimat finden. Nimmt dich aber das Bärble, dann säume nicht, kehr' auf dem Fleck wieder um. An dem Tag, da das Veitenbärble als deine Frau diese Schwelle übertritt, bist du der Türkenbauer!«

»Du beschämst mich, Gottfried!« sagte Fritz und drückte ihm die Hand. »Wollte Gott, ich könnt' dir's vergelten!« Wunderliche Tage kamen nun für den Türkenhof, so still, so friedlich, so reich an Liebe der Hausgenossen untereinander; der Türkenhenner kraute sich oft die Haare und murmelte: »Wach' ich oder träum' ich, oder bin ich behext? Soll mich denn auf meine alten Tage auch noch die Weichseligkeitsduselei anstecken?« Die Bäurin aber erquickte sich in innerster Seele an diesem Aufblühen eines Glückes, das sie so lange ersehnt und erhofft, und das sich ihr nur 206 zeigte, um dann – vielleicht für immer – zu entschwinden. Fritz überwand seinen Jammer, diesmal ging er geklärter aus dem Feuer der Prüfung hervor; von Hochmut, Eitelkeit und Leichtsinn war nichts mehr an ihm zu spüren. Damit soll freilich keineswegs gesagt sein, daß er schon als vollendeter Mann dagestanden hätte. Nein, es fehlte ihm noch viel, sehr viel, die gewaltige Leidenschaft machte ihn unstät, hastig; ruhige Überlegung war noch immer nicht seine Sache, in der Aufwallung des Augenblicks ging noch immer der klare Wille unter. Aber er hatte erkannt, was ihm fehlte, nicht mehr eiteln Träumen jagte er nach, und vor allem die reiche, lebendige Liebe, die bisher von Eigensucht, Stolz, Hochmut und Geiz überwuchert und niedergehalten worden war, sie brach hervor, erwärmte, durchleuchtete sein ganzes Wesen und verkündete, daß das Edlere seiner Natur nach Gestalt rang.

Sinnend, wie im Zweifel mit sich selbst, ging Fritz herum, trug sich mit einem Gedanken und hatte doch nicht den Mut, damit herauszurücken. Endlich zog er die Eltern und den Bruder ins Kaffenetle, hustete öfter und begann stockend: »Ich hätt' einen Vorschlag und eine Bitt', – müßt mich aber geduldig anhören. Guckt, ich bin wenig in der Welt 'rumkommen, 's wär' ein Glück, hätt' ich 'nen Kameraden, der schon draußen 'rumgeworfen worden ist und sich auskennt. Was brauch' ich ein Mäntele drum zu hängen? Ich bin noch lang kein gewichster Kerl, mir würd' eine Hilf' gut tun draußen! – Nun will der Schustersbernhard ohnedies auswandern, aber das Geld wird knapp sein bei ihm – wie wär's, wenn ich den mitnähm'? Es wär' damit uns beiden geholfen. Und ich möcht' mich überdies dem Bernhard erkenntlich erzeigen. Er war mir 207 ein aufrichtiger Freund, hat mir allezeit zum guten geraten, sein Dorle ist auch gut mit dem Bärble, – habt ihr was dagegen, wenn ich die Überfahrt für ihn bezahl'?«

Der Henner schrie wieder: »Holla, holla!« und lärmte über Verschwendung, aber Gottfried gab Fritz die Hand: »Besonders um letzter Ursach' willen acht' ich dich, und ist mir das ein Zeugnis, daß du wirklich auf andern Wegen gehst. – Tu's!«

Freudig drückte ihm auch die Mutter die Hand, erhob jedoch das Bedenken, Bernhard werde erst seine Mutter an sicherem Ort unterbringen wollen, ehe er sie verlasse. Nach einigem Sinnen sagte Gottfried heiter: »Mutter, – wie sich das fügt! – Ihr braucht Hilfe, und mit Mägden hat man nur seine Not, – wie wär's wenn wir die Schustersrosine zu uns nähmen? Eine bravere und tüchtigere Frau kriegen wir gewiß nicht ins Haus!«

»Du bist gut, Gottfried'« erwiderte die Bäurin und drückte ihm dankbar die Hand. »Ja, das wär' was, und ich glaub' auch, sie werden nicht nein sagen!«

»Holla, holla! – Die Rosine mit ihrem Maulwerk hat nun grad' noch gefehlt im Haus! 's wird immer besser!« klagte Henner, als die übrigen das Kaffenetle verlassen hatten, und schlürfte mürrisch ins Wirtshaus, um wenigstens der Ordnung der Sache aus dem Wege zu gehen. Aber es wollte ihm kein Tropfen schmecken, er sah voraus, die Rosine war schlimmer als ein Gewissen.

Voller Erwartung, was sie da sollten, betraten am selben Abend die Schustersrosine und ihr Bernhard das Türkenhaus; wie erstaunten sie über die Vorschläge, die ihnen gemacht wurden. Fast erschrocken sahen sich Mutter 208 und Sohn in die Augen und fanden nicht sogleich eine passende Antwort. »Ich weiß mich nicht zu fassen!« sagte Rosine leise und sah sinnend auf ihre gefalteten Hände im Schoß. »Es ist so wunderlich! – Denkt doch, Euer Henner war's, der meinem Friedel die Aufnahme verweigerte, ihn zu einem elenden, liederlichen Kerl, mich zu einer ehrlosen Dirne, meinen Bernhard zum Bankert machte, – und jetzt! Ach, Bäurin, nehmt mir's nicht übel, ich kann die Gedanken nicht abweisen: ist das nicht Gottes Finger?«

»Sieh', Fritz,« sagte die Bäurin, und ein eigenes Feuer glühte in ihren Augen auf, »so weit hat es dein Vater gebracht! Und du hast auch mehr zu ihm gehalten als zu mir, oft warst du nahe daran, ganz und gar in seine Art zu verfallen! – Nimm dir das zu Herzen, Fritz; wenn dein altes, lotteriges, nichtsnutziges Wesen dich wieder übermannen will, denke dran, was das für ein Jammer ist, wenn der Mutter und den Kindern gesagt wird: ›Euer Unglück ist Sündenschuld, euer Vater hat's tausendmal verdient!!‹«

Fritz wechselte die Farbe, sah mit großen Augen um sich, dann stützte er die Ellenbogen auf den Tisch und verbarg sein Gesicht in den Händen. Wie im Traum hörte er die Mutter sagen: »Gott weiß, Rosine, ich bin unschuldig an seinem Tun und hab' genug darunter gelitten! Ach, dieselben Gedanken sind mir auch schon oft 'kommen; kannst dir denken, mein Leid wird nicht geringer, wenn ich so sinnen muß, warum mir auferlegt wird, was er verschuldete. Früher sind mir darüber oft fast die Gedanken vergangen, jetzt hab' ich mich ergeben und ertrag's!«

»Ertragen!« sagte Rosine und drückte die Hand der Bäurin. »Ergeben und ertragen! Ich kann das auch!«

209 »Er muß aber selber so eine Empfindung haben, als könnte er dir nicht in die Augen sehen; wie er hörte, du kämst, machte er sich gleich aus dem Staub'!«

»Wird er mich dann im Haus haben wollen?«

»Wie du fragst! – Was kümmert uns das? Er hat gar nichts mehr zu sagen, von übermorgen an ist Gottfried alleiniger Herr im Haus. Grad' das ist ihm gesund, muß er sich schämen, so oft er dich sieht, das bewahrt ihn vielleicht vor neuen Streichen.«

»Ihr müßt das besser wissen, obgleich mir's nicht recht paßt. Aber eh' wir weiter reden, muß ich noch was sagen, ich möcht vor Euch als ehrliche Frau bestehen. Geht der Fritz dem Bärble wegen nach Amerika, ist das Geld für die Reise zum Fenster 'nausgeworfen. Das Mädle nimmt ihn nie und nimmer, dafür setz' ich meinen Kopf zum Pfand.«

»Rosine, – das kann nicht Euer Ernst sein!« rief Fritz und sprang auf.

»Ich muß sagen, wie ich's weiß. Jeder Schritt um das Bärble ist ein verlorener!«

»Nein, nein!« rief Fritz. »Ich kenne das Bärble besser, wie ihr alle; ich weiß, tret' ich in Amerika vor sie, dann ist's aus mit ihrem Trotz, dann hab' ich sie verdient, und das Vergangene ist vergessen!«

»Lasset ihn nur!« sagte Gottfried. »Ihr möget nun Recht haben oder nicht, auf alle Fälle ist ihm die Reise übers Wasser gesund; bringt sie ihn auf andere Gedanken, ist das Geld nicht vergebens ausgegeben. Eines wissen wir wenigstens gewiß, in Bergheim geht er zu Grund'!«

»Gottfried, solche Brüder, wie du einer bist, wird's wenige geben. Nun ist's freilich ein ander Ding, und ich 210 bin zu allem bereit. Übrigens kommt's nicht auf mich an, mein Bernhard hat allein zu bestimmen!«

»Mutter, was sollen wir uns da erst lang' besinnen? Solche Gelegenheit bietet sich uns nicht wieder, und je eher ich in Amerika anfange, desto besser. In Gottesnamen denn! Meine Dorle wird wohl große Augen machen, aber sie ist vernünftig. Das Überfahrtsgeld nehm' ich natürlich nur als ein Darlehen, das ich zurückbezahl', so bald ich kann. Um Eines bitt' ich Euch, Bäurin, und dich, Gottfried, haltet meine Mutter gut! Sobald ich drüben sicher sitze, laß ich sie nachkommen. Und nun rasch vorwärts gemacht, am besten wär's, könnten wir das Bärble noch einholen, denn haben wir drüben erst einmal ihre Spur verloren, können wir in dem großen Amerika lange nach ihr suchen. Mit dem nächsten Schiff müssen wir abfahren.«

»Und 's Beste wird sein, ihr geht auf ein Dampfschiff!« sagte Gottfried. »Habt ihr nur halbweg Glück, seid ihr früher in Amerika, als das Bärble!«

Dieser Vorschlag fand um so mehr den Beifall der Mutter, da ein Dampfer im stürmischen Winterwetter größere Sicherheit gewährt, als ein Segelschiff. Die Bäurin hatte auch Dorle rufen lassen, und so konnten alle nötigen Bestimmungen festgestellt werden. Es flossen wohl viele Tränen, aber das frische, bestimmte Wesen Bernhards ließ allzu große Traurigkeit nicht aufkommen. Beide Familien, die jetzt auseinandergerissen wurden, hofften hier oder dort auf baldiges, frohes Wiedersehen, die Mütter fanden eine Beruhigung darin, daß sie fortan zusammen sein und von den fernen Söhnen reden könnten, und vor allem die Besprechung der nötigen Vorbereitungen 211 ließ gar keine Zeit zu Trübsinn und Jammer. Ein guter Kaffee, den die Bäurin zuletzt auftrug, fand ungeteilten Beifall, selbst Fritz ließ sich den braunen Trank schmecken, und so endete der Abend in erträglicher Stimmung.

Der Schneidersnikel machte am andern Tag große Augen, als ihm Bernhard die Miete auf den ersten November kündigte. Nun hätte er gern eingelenkt, machte Bernhard allerlei Vorstellungen, versprach Ermäßigung des Hauszinses, ließ sogar ein Wort fallen von zehnjähriger Hausmiete, – aber Bernhard hörte gar nicht darauf. Als er die hohe Treppe hinabsprang, »höselte« Nikel unmutig in der Stube auf und ab und knurrte unverständliche Worte in sich hinein; er wußte gut genug, solchen Hausmann bekam er so leicht nicht wieder.

Am Tage der Güterüberschreibung begleiteten Bernhard und Dorle die Türkenfamilie in die Landeshauptstadt. Fritz wischte sich unterwegs oft heimlich die Augen, – wie hatten sich alle Verhältnisse geändert seid der Theaterfahrt und heute. Bernhard suchte ihn aufzurichten, seine Blicke von der Vergangenheit ab in die Zukunft zu lenken; gelang es ihm auch nicht, Fritz zu erheitern, so erkannte doch dieser schon jetzt den Wert seines Freundes und drückte ihm dankbar die Hand. Nachdem das Güterübergabe-Protokoll unterzeichnet, lagen sich die Brüder lange stumm in den Armen, und Gottfried flüsterte Fritz zu: »Für dich und Bärble!« Danach besorgten sie gemeinschaftlich mit Bernhard die Reisepässe und sonst nötigen Legitimationspapiere, bezahlten zwei Plätze auf dem am ersten November abgehenden Dampfschiff beim Agenten, wechselten beim Bankier brauchbares Geld ein und versahen sich mit den nötigsten Reisebedürfnissen.

212 Die Tage gingen hin; dichte Nebel bedeckten Dorf und Flur, die ersten Schneegestöber hatten vorübergehend die Welt in die winterliche Farbe gekleidet, das Leben hatte sich gänzlich in die Dörfer zurückgezogen, und in den Scheunen klapperten die Flegel, als eines Morgens Gottfried im besten Anzug die Pferde aus dem Stalle zog und vor das im Hof bereitstehende Bernerwäglein schirrte, – die Stunde des Abschiedes war gekommen.

In der Stube lag Dorle an Bernhards Hals und weinte leise; die Schustersrosine weinte nicht, der Glanz ihrer Augen sagte denen, die das Zeichen verstanden, daß sie wieder einmal ihre alte Kunst übte und die Tränen zurück ins Herz fließen ließ. Sie hielt die linke Hand ihres Sohnes fest, horchte auf die Schläge seines Herzens, welche ihr der hüpfende Puls verkündete, streichelte ihm lind und leise über die Stirn, als wollte sie ihre Segenswünsche da fest eindrücken und im voraus alles Böse, Unsaubere wegwischen. Keines sprach ein Wort; sie hatten sich nichts mehr zu sagen, waren sich ihrer Liebe und Treue gewiß, dazu milderte eine fröhliche Hoffnung auf eine freudenreiche Zukunft die Bitterkeit des Abschiedes. Nicht Leichtsinn und Frevelmut trieb Bernhard hinaus in die Fremde, er folgte nur dem Zwang der Not, sein Scheiden war eine Bezeugung der Liebe und Treue, – was nun auch kommen mochte, Glück oder Unheil, es mußte eben getragen werden, und war zu ertragen, – sie alle hatten redlich ihre Schuldigkeit getan.

Anders war der Abschied bei den Türkenleuten. Fritz lag vor der Mutter auf den Knien und vergrub sein Gesicht in ihrem Schoß. Er konnte sich nicht von ihr losreißen. Jetzt, in der letzten Stunde ging ihm auf, welchen 213 Schatz er an diesem Mutterherzen besessen, wie leichtsinnig er das größte Gut, das einem Menschen beschieden sein kann, die Mutterliebe, von sich gestoßen hatte. Mit bitterem Schmerze gedachte er daran, was er der Mutter hätte sein können, wie ihm so reiche Gelegenheit geboten war, ihre Liebe, ihre Treue zu vergelten; – ach, und was er ihr getan, es wäre doch wieder nur sein Glück gewesen. – Wie hätte er ihr jetzt wenigstens so gern noch durch Taten seine Liebe und Treue bewiesen, wie quälte es ihn, daß er bloß auf das arme Wort beschränkt war. – »Zu spät!« mußte er sich sagen, und wie eine Ahnung durchfröstelte es ihn: »Zu spät, – hier und dort!«

Die Bäurin ließ ihren Tränen freien Lauf; sie sagte es nicht, aber sie nahm Abschied – auf ewig. Wie war ihr Herz so voll, wie gern hätte sie Fritz noch einmal ihre ganze Seele öffnen mögen, aber der Jammer eines verlorenen Lebens schloß ihre Lippen. Wozu auch noch reden? – Ach, das ist das Traurigste im Leben, daß selbst ein Mutterherz zuletzt verzagt und zweifelnd werden kann, daß auch ein Mutterherz sich verschließen, sich lieber in sich verbluten kann, als seinen letzten Hauch dahin zu gießen, wo es gilt, Eisrinden wegzutauen, erlöschende Funken zu hellen Flammen anzufachen. Fritz war nicht verdorben genug, daß er nicht die Not der Mutter gefühlt hätte; und dieser finstere Bann, den er nicht lösen konnte, der so ganz allein sein eigenes Werk war, es war nicht der letzte Schmerz, der heute sein Herz zerriß.

Der Türkenhenner schlürfte ächzend und die Hände ringend, – vielleicht zum erstenmal in seinem Leben in wahrem Jammer – auf und ab. Er konnte nur seufzen: »Fritz, – Fritz, tu's nicht, bleib' da!« Aber niemand 214 beachtete seine Worte, niemand kümmerte sich um seine Not. – Das Ziel seines Lebens und Strebens, unter den Händen war es ihm entschwunden; das Gegenteil seiner Hoffnungen und Pläne war Wirklichkeit geworden, – und er konnte nichts mehr ändern, nicht mehr eingreifen, die Verhältnisse gingen ihren Gang, als ob es gar keinen Türkenhenner mehr in der Welt gäbe. Er war eine Null, eine Überlast, ein Garnichts! – Das warf ihn nieder, seine »holla, holla!« verstummten. Solange er herrschte, solange er sich im Vollbesitz der Macht wußte, verlachte er Liebe. Wozu das »Getue«? Weib und Kind, Knecht und Magd, das halbe Dorf hing ja von ihm ab, konnte ihn nicht entbehren, mußte sich um seinen guten Willen bewerben. Geld regiert die Welt – und das hab' ich! – das war seine Lebensregel. Nun aber war Geld und Gut ihm entschlüpft, Macht und Herrschaft war auf den ungeliebten Sohn übergegangen, – nun kam das Gefühl seiner Ohnmacht und Schwäche über ihn, nun empfand er seine Verlassenheit, jetzt lernte er Liebe und Anhänglichkeit schätzen. Schlaflos verbrachte er die Nächte im einsamen Kaffenetle, die Stille um ihn, die Gleichgültigkeit, der er überall begegnete, die Verachtung, der Hohn, der ihm aus vielen Gesichtern entgegengrinste, die früher die Demut und Freundlichkeit selber waren, beängstigten ihn. Jetzt ging er um Teilnahme, um Freundlichkeit betteln. Eine Art Trost war ihm noch sein Fritz. Wohl hatte er ihn auch nie geliebt, Gegenliebe weder gesucht, noch gefunden, allein er war es doch gewesen, auf dem seine Zukunftpläne ruhten, darum war er ihm wenigstens nicht gleichgültig gewesen, und wenn je ein Mensch Gutes von ihm empfangen hatte, so war es ganz allein sein Fritz. Dies alles ließ ihn sich 215 mit einer wahren Angst an Fritz anklammern, seine Gegenwart als einen Trost empfinden! – Und nun ging auch dieser, – damit war seine letzte Stütze zerbrochen.

Gottfried klatschte mit der Peitsche; Bernhard schüttelte Dorle und der Mutter die Hund: »Verzagt nicht, es wird alles gut werden, wir sehen uns glücklich wieder!«

Fritz drückte die Hand der Mutter an die Lippen »Behaltet mich lieb!« flüsterte er der Sprachlosen zu. Dem Vater gab er die Hand, wünschte ihm Gesundheit und langes Leben und achtete nicht darauf, daß der alte Mann im Fenster seinen Kopf auf die Arme legte und weinte.

»Fahr' zu, Gottfried, laß die Pferde laufen, was sie können, mir drückt's das Herz ab!« flüsterte er dem Bruder zu. Gottfried nickte, die Rosse zogen an, im Galopp ging es das Dorf hinab. »Ade – Ade!« seufzten beide, Bernhard und Fritz, den winkenden, grüßenden Nachbarn zu. »Ade – ade!« – Die gleichen Worte, und doch wie verschieden!

Auf der Straße, beim Quellrangen, blickten die Auswanderer auf das Dorf zurück, ehe es, – vielleicht für immer, – ihren Blicken entschwand. »Ade, ade, – du mein schönes Bergheim!« rief Bernhard und schwenkte den Hut. »Hab' nicht gemeint, daß ich dich lassen könnte, und es muß doch gehen. Ade, – behüt' dich Gott! Weißt's noch Fritz, wie wir in der Heuernt' daher fuhren? Damals sagt' ich: ›es gibt doch nur ein Bergheim!‹ Wie sich die Zeiten ändern! – Aber jetzt fort! Fahr' zu, Gottfried! Das lange Rückschauen taugt nichts! Kopf in die Höh', Fritz, wir gehen einer neuen Welt entgegen, dort fangen wir auch ein neues Leben an! Will's Gott, bringen wir's zu was Rechtem!«

216 »Wer so denkt, hat schon gewonnen!« sagte Gottfried leise. »Heb' den Kopf, Fritz! – Grüß' mir's Bärble! – Tu' die Augen auf, kannst viel sehen und lernen, was dir zugut kommt, bist du Türkenbauer. Wir werden uns schwerlich wiedersehen, vergiß nicht, ich hab's alleweil gut mit dir gemeint. Kommst du zurück, behandle die Mutter gut, wenn ich bald sterben sollt', und werd' ein richtiger Mann. Wenn du nur willst, kannst du noch glücklich werden, auch wenn's mit dem Bärble gefehlt sein sollt'!«

Fritz drückte Gottfried heftig die Hand und nickte zustimmend, aber in ihm sprach es laut: »Mit meinem Glück ist's vorbei! – Ich fang' zu spät an, dafür zu arbeiten!« 217

 


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