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19.

Der Sommer kam mit schwülen, heißen Tagen, rollenden Gewittern, rauschenden Regengüssen, blauen Ferientagen und dem überwältigenden Ereignis eines dreiwöchentlichen Landaufenthalts.

Der Schularzt hatte diesmal Piddl in erster Linie vorgeschlagen, als man die Kinder für die Aussendung in die Ferienkolonien ausgesucht hatte, und wirklich wurde Piddl – der bis zum letzten Augenblick daran gezweifelt hatte – zu Beginn der Sommerferien zu einer Anbauernfamilie in Kuhstedt in Pflege gegeben.

Wochenlang vorher ging er wie im Traum umher.

Es war ja etwas schier Unglaubliches, etwas, das noch im letzten Augenblick in nebelhaften Dunst sich auflösen würde, etwas, das schön war wie ein Märchen, das aber so unmöglich zu erreichen sein würde, wie die Schätze in Aladins Wunderreich.

Dann kamen die Aufregungen des Packens und des Abschiednehmens.

»Bring' mir einen Heideblumenstrauß mit,« bat Anton Rolle ihn, der wie immer hinter seiner Schreibmaschine saß und ihm lächelnd die Hand drückte, als Piddl hinkam, um ihm für die nächsten Wochen Ade zu sagen.

Am nächsten Morgen, einem wunderschönen Julimorgen, der wie aus eitel Gold gewoben über die Erde kam, fuhr Piddl mit den übrigen Pfleglingen mit der Bahn bis Brahmloh.

Durch unermeßliche Kornfelder fuhr der Zug, durch Rüben und Kartoffeläcker. Der Himmel lag wie eine große blaue Glocke über der Erde, die Räder rollten und stampften, und die Lokomotive pfiff gellend in die Morgenstille. Nun grüßten die ersten Föhrenwälder herüber, und plötzlich fuhr der Zug durch die stille, braune Heide. Piddl saß und staunte, herzklopfend und vor Freude heimlich zitternd, schüchtern in eine Ecke gedrückt.

Wie einem Vogel war ihm zumute, der, im Käfig geboren, nach jahrelanger Haft heute zum ersten Male die freie Luft unter seinen Schwingen fühlt und nicht weiß, was er gleich vor Freude beginnen soll.

Drei Knaben und zwei Mädchen waren mit in demselben Wagen. Ein Lehrer begleitete sie. Der saß, mit innerer Freude die erstaunten Gesichter der Kinder musternd, inmitten der übrigen, rief ihnen die Namen der Stationen zu und zeigte ihnen, was es Merkwürdiges vom Fenster aus zu sehen gab, einen Bauern, der mit einem Paar Ochsen ein Stoppelfeld pflügte, Schnitter, die ins Feld zogen, eine Rinderherde, die, mit großen Augen glotzend, den Zug vorüberrattern ließ, und dann hinten in der Heide auf einer Blöße zwischen den Föhrenkämpen ein paar Rehe. Ganz ruhig standen sie da und äugten den Zug an.

Dann kam Brahmloh, und die Kinder stiegen aus.

Auf dem Bahnhofe wartete schon eine Reihe von Bauern, ihre Pfleglinge in Empfang zu nehmen, die meisten mit einem Ackerwagen, um die kleinen Reisebündel ihrer Pfleglinge mitnehmen zu können.

Hier teilten sich die Wege, und wenige Minuten später saß Piddl neben einem grauhaarigen, sonnenverbrannten Bauern auf dem Strohsack eines rumpelnden Ackerwagens und fuhr durch Brahmloh in die Heide hinaus, Kuhstedt entgegen.

Es war ein langer, sandiger Heideweg, den der Wagen fuhr. Weißstämmige Birken hingen mit langen, leise schwingenden Zweigen über den Wegrand, und im strahlenden Blau des Himmels schwammen kleine weiße Wölkchen wie segelnde Kähne mit weißen Segeln.

Wunder des Erlebens begannen mit diesem Morgen, die sich aneinanderreihten, als sei das Leben plötzlich zum Märchen geworden.

Weidende Schafherden gab es, kläffende, zottige Hunde, strumpfstrickende Schäfer mit verwitterten Gesichtern unter breitkrempigen Hüten und in alten, geflickten Mänteln, unermeßliche Streifereien an feierlichen Sonnentagen auf glühender Heide, unendliche Stille und heimliches Rauschen des Windes in dunklen, düsteren Föhrenschlägen, Ameisengekribbel auf dem Boden, Bienengesumm in Sträuchern und Heidebüschen, Ernteleben auf wogenden Kornfeldern, über deren blassem Gelb der blaue Sommerhimmel wie aus Stahl gehämmert stand, Sonntagmorgenstille mit halb verlorenen, schwingenden Glockenklängen, rauschende Regentage voll sinnender Melancholie, dämmernde Stuben und heimlich blinkendes Herdfeuer auf offner Diele, blauer, schwelender Torfrauch unter den Eichenbalken der breiten Viehdiele, Harmonikaklänge an stillen Abenden und unverständliche Lieder der jungen Magd, die das Herz bewegten und seltsam die Brust beengten, Lerchenlieder in früher Morgenstille, saftiges Bauernbrot und kühle Milch in großen Schalen, Mittagessen aus gemeinsamer Schüssel, die ersten Äpfel von kleinfrüchtigen Apfelbäumen, halb reif und von herber Süße, vorjährigen Honig und frisches, dunkles Roggenbrot, Rindergebrüll und Pferdegewieher, Fallenstellen auf Marder und Iltis, Schwalbengezwitscher und Storchgeklapper, schwüle, heiße Mittagsstunden unter breitschattigen Apfelbäumen – ach, das Leben schien plötzlich vertausendfacht zu sein, durch alle Sinne strömte es ein, durch alle Sinne konnte es genossen werden. Jeder Tag brachte eine neue Offenbarung, und Piddls armes, kleines Herz, das die Mauern der Großstadt in dumpfem Druck gehalten hatten, atmete auf und schlug leichter und freier mit jedem Tag.

Er lief wie ein Träumender durch all die Sommerpracht und irrte wie ein Verzückter stundenlang allein durch die Föhren- und Eichenschläge, die hinter dem Hause lagen, das unter seinem breiten, alles beschützenden Strohdach einsam und weltverlassen in der stillen Heide lag, eine halbe Stunde über Kuhstedt hinaus.

Zum erstenmal in seinem Leben erkletterte Piddl einen Baum.

In der fernsten Ecke des Obstgartens, weit vom Hause entfernt, stand ein alter Apfelbaum, der seinen Stamm schief über den grasbewachsenen Grund hinreckte, um dann seine Krone mit breit ausladenden Zweigen in die blaue Sommerluft zu heben.

In einer Astgabel dieses Baumes saß Piddl am liebsten. Ganz leise schaukelte der Baum, wenn er hineinstieg. Dort oben aber versank die ganze Welt in einem Blättermeer, und Piddl saß da, hörte dem leisen Spiel des Windes in den Zweigen zu und lauschte dem Buchfinken, der im Baume nebenan seine Strophen schmetterte.

Ach ja, es war kein Zweifel, er war verzaubert worden! Eine gütige Fee hatte ihn in ein Wunderreich entführt und schüttete nun ihre Gaben in märchenhafter Fülle auf ihn herab.

Gold schenkte sie ihm in solcher Fülle, daß er kaum genug davon nehmen konnte. Rieselnd rann es abends durch die Zweige des Apfelbaumes und füllte noch seine geschlossenen Augen mit rötlicher Glut. War die Honigschüssel drinnen auf dem Eichentisch des Bauern nicht süßer als die kostbarsten Schalen auf dem Tische des Königs? War er nicht frei wie ein Vogel, ungebunden und los wie eines der Rehe auf der weiten braunen Heide da draußen? War sein Sitz hier oben auf dem sich leise bewegenden Aste des alten Apfelbaumes nicht schöner als der perlenbesetzte Thron einer Märchenprinzessin?

»Piddl, rinkamen, wat eten!« scholl da die Stimme der Bäuerin vom Hause her, und Piddl kletterte schnell wie ein Wiesel aus dem Baume, lief lächelnd durch das feine, dünne Gras, das unter den Bäumen des Obstgartens wuchs, und setzte sich, die Mütze in der Hand, hinter den Eichentisch in der kühlen Dönzen, auf dem das Mittagessen in großer, breiter Schüssel dampfte.


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