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11.

Pfingsten! Morgen war Pfingsten, und heute hatte es Schulferien gegeben.

Piddl war den ganzen Tag die Treppen auf- und abgerannt. Beim Bäcker Meyerdierks am Stintgraben hatte den ganzen Tag die Ladentür nicht still gestanden, und er hatte wieder genug zu laufen gehabt, alle die Feststollen, die warm und duftend auf den Platten lagen, in die Häuser der Kunden zu bringen. Auf dem Kopfe hatte er sie diesmal getragen, wie ein richtiger Bäckerjunge mit solchen Sachen umzugehen pflegt. Und fünfunddreißig Pfennige hatte er an besonderen Belohnungen eingenommen. Fünfunddreißig Pfennige! Das war keine Kleinigkeit. Einmal hatte es sogar zehn Pfennige gelohnt, weil der Stollen ganz besonders schwer gewesen war, und fünfmal fünf Pfennige.

Ja, es ging aufwärts mit dem Verdienst, das war keine Frage. Außerdem hatte er heute seinen Wochenlohn bekommen und, weil's Pfingsten war, ein Stück von einem der Feststollen, die der Meister gebacken.

Es war spät geworden, als er endlich wieder in die Winkelgasse einbog.

Ob Klara Dinghammer morgen wirklich eine Festausfahrt machte, wie sie ihm erzählt hatte neulich abends? Ihr Rosafarbiges wollte sie anziehen, und wenn es einzurichten war, wollte sie ihm eine Ansichtskarte schreiben unterwegs. Ein großer Omnibus war bestellt, und es fuhren eine Menge Leute mit, die sie einzeln aufgezählt hatte. Aber Piddl kannte sie nicht und hatte auch die Namen längst wieder vergessen. Das war ja auch gleichgültig. Jedenfalls wollte er aber aufpassen, wenn der Wagen morgen früh vorfuhr bei Dinghammers. Er wollte Klara doch einsteigen sehen. Vielleicht winkte sie ihm heimlich zu, ehe sie einstieg. Grüne Büsche würden den Wagen schmücken, sogar die Pferde würden Maiensträußchen am Geschirr tragen. Zwei Pferde würden vor den Wagen gespannt sein, und unter dem Verdeck heraus würden rot und grau gestreifte Gardinen im Winde flattern …

In der Stube war es dunkel, und seine Mutter war nicht da. Aber nebenan hörte er Stimmen. Eine fremde Frau schien da zu sprechen. Ob Fräulein Horn, die nebenan wohnte, noch so spät Besuch hatte? Aber nun vernahm er auch plötzlich die Stimme seiner Mutter. Er hörte es deutlich am Klange, aber verstehen konnte er nicht recht, was gesprochen wurde, denn wenn auch nur eine verschlossene Tür die beiden Zimmer trennte, hatte Fräulein Horn doch in dem ihren einen Kleiderschrank vor die Türe geschoben, und der dämpfte Geräusche und Stimmen beträchtlich.

Müde setzte sich Piddl. Die Mutter würde gewiß gleich herüberkommen.

Morgen würde Pfingsten sein, ja. Im vorigen Jahre hatte er mit seiner Schulklasse einen Pfingstausflug gemacht. Blätterschmuck und Blütenpracht lagen ihm noch heute im Sinn, wenn er daran dachte, so schön war es gewesen.

Ein langgezogenes, klagendes Stöhnen drang da plötzlich von der Stube nebenan an sein Ohr.

Was war das! War Fräulein Horn plötzlich krank geworden und darum seine Mutter zu ihr hinübergegangen? Nur Fräulein Horn konnte so gestöhnt haben. Und nun wieder! … Wie weh und jammernd das klang! Noch niemals glaubte Piddl solche Töne des Schmerzes gehört zu haben. Vor Angst und einem unbestimmten Entsetzen begannen ihm die Zähne im Munde zu klappern, und seine Augen richteten sich groß und fragend in das Dunkel, das die Stube füllte.

Wie eine Erlösung erklang dann wieder die Stimme seiner Mutter, tröstend, sanft und ruhig …

Einige Minuten später trat seine Mutter zu ihm ins Zimmer. Sie habe nur nachsehen wollen, ob er schon da sei. Ja, Fräulein Horn sei krank, und diese Nacht müsse bei ihr gewacht werden. Er solle nur zu Bett gehen und schlafen, wenn er gegessen habe. Sie stellte ihm sein Abendbrot zurecht und verließ das Zimmer wieder.

Eigentlich hatte sie sich nicht so gefreut, wie er erwartet hatte, über die fünfunddreißig Pfennige extra und den halben Feststollen, den er mitgebracht hatte.

Gedrückt saß er da und begann zu essen. Aber es wollte ihm nicht so schmecken wie sonst. Das Stöhnen da drüben hörte nicht auf. Es schien vielmehr schlimmer und schlimmer zu werden.

Verstört kroch er ins Bett und zog die Decke hoch. Ein brennendes Mitleiden stieg in seinem kindlichen Herzen auf.

Er kannte Fräulein Horn seit langem. Sie hatte schon seit ungefähr einem Jahre nebenan gewohnt. Des Tages über ging sie aus zu schneidern bei feinen Leuten. Nur in der letzten Zeit war sie viel zu Hause gewesen, und nur selten aus ihrer Stube herausgekommen.

Was ihr wohl fehlen mochte? Deutlich hörte er sie wieder wimmern. Angespannt horchte er noch eine Zeitlang hinüber, schlief aber dann doch endlich vor Übermüdung ein.

Ein maiengeschmückter Pfingstwagen fuhr durch seinen Traum, mit flatternden Gardinen und trabenden Pferden, die ihre Mähnen schüttelten. Und der Kutscher klatschte mit der Peitsche, und Klara saß auf dem Wagen und schwenkte ein weißes Tuch.

Dann sah er sich wieder mit riesigen Stollen durch die Straßen gehen. Er hatte sich ein Taschentuch unter die Mütze gestopft, damit die harte Platte, auf der er die Kuchen trug, nicht so drücken sollte. Aber zuletzt wurde es doch unerträglich. Er glaubte umsinken zu müssen mit seiner Last. Er wankte und geriet ins Stolpern, und die schönen sauberen Feststollen fielen auf die Straße und brachen in Stücke.

Mit einer wilden Handbewegung, als müsse er die gleitenden Kuchen zu halten versuchen, fuhr er aus dem Schlafe auf. Er öffnete die Augen und sah, daß Licht im Zimmer war. Seine Mutter stand mit einer brennenden Küchenlampe vor seinem Bette.

»Schnell, Piddl! Aufstehen! Du mußt mal eben schnell zum Doktor laufen! Fräulein Horn ist krank geworden. Doktor Wiegand in der Besigheimer Straße weißt du doch? Dahin kommste am schnellsten, und diesen Zettel gibste ab, wenn geöffnet wird. Bei der Tür ist die Klingel!«

Seine Schlaftrunkenheit war plötzlich wie weggeblasen. Im Nu sprang er auf und kleidete sich an.

»Ist's schlimm?« fragte er und merkte, wie ihm die Zähne im Munde klapperten vor Aufregung.

»Schnell mußte sein,« sagte die Mutter, »das ist alles!«

Nach wenigen Minuten war er schon unterwegs. Sonderbar, wie still die Gasse dalag. Die Häuser standen so fremd und tot in dem grauen Lichte des Morgens. Die geschlossenen Verhänge gaben den Fenstern etwas Eigenes. Wie gebrochene Augen sahen sie aus. Bei Dinghammers war ein Rouleau schon in die Höhe gezogen und hing nun schief vor dem Fenster. Ob Klara schon vor Ungeduld so früh aufgestanden war?

Im Trabe durcheilte er die Gassen. Als er in die Besigheimer Straße einbog, sah er die ersten Ausflügler schon in den Pfingstmorgen hinausziehen.

Der elektrische Druckknopf am Hause des Arztes saß recht hoch. Er mußte sich auf die äußerste Zehenspitze stellen, um ihn zu erreichen. Deutlich hörte er drinnen die Klingel läuten, aber es kam niemand. Er klingelte zum zweiten und zum dritten Male.

Endlich wurde geöffnet. Ein Dienstmädchen steckte verschlafen den Kopf zur Türe heraus.

Ob der Herr Doktor zu sprechen sei?

Nein, der Herr Doktor schlafe.

Er habe einen Brief, und Fräulein Horn wolle sterben.

Das Mädchen nahm den Zettel mit mürrischer Miene und verschwand damit.

Piddl schien eine endlose Zeit zu vergehen. Er trat vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen und fieberte vor Aufregung und Ungeduld.

Endlich kam das Mädchen mit der Botschaft zurück, daß der Doktor in einer Viertelstunde kommen werde. Wie ein Windhund rannte er den Weg zurück.

Mit keuchenden Lungen kam er heim. Die Mutter erwartete ihn schon vor dem Eingange.

»Gott sei Dank,« sagte sie, als er seine Bestellung gemacht. Dann schickte sie ihn wieder ins Zimmer. Aber schlafen konnte er nun nicht mehr. Er kauerte sich in eine Ecke und horchte angstvoll auf das, was nebenan vorging.

Deutlich hörte er, wie der Arzt kam. Der sprach lauter als die Frauen. Warum man nicht eher geschickt habe! Die Stimme klang rauh und unfreundlich. Es sei die allerhöchste Zeit.

Dann hörte er seine Mutter das Zimmer verlassen und in die Küche gehen, die am Ende des Flurs lag. Er steckte den Kopf zur Türe hinaus und flüsterte: »Mutter …«

»Geh 'nein, Piddl!« sagte seine Mutter ruhig, aber bestimmt, und er gehorchte mit klopfendem, angsterfülltem Herzen.

»Wie alt sind Sie denn?« fragte der Arzt nebenan.

»Neunzehn Jahre? Na, hören Sie mal, bei Ihrer Konstitution aber auch ein bodenloser Leichtsinn, so etwas.«

Was dann folgte, konnte Piddl nicht verstehen. Er horchte angstvoll gespannt.

»Nein, nein,« klang da wieder die Stimme des Arztes. »Ich glaube, ist jetzt hell genug draußen, daß Sie die Lampe löschen können. Bei Lampenlicht tue ich es nicht gern.«

Piddl hörte, wie der Fenstervorhang aufgezogen wurde.

»Sie wollen dableiben, Frau Hundertmark?«

Piddl verstand nicht recht, was seine Mutter antwortete.

»Aber wenn Sie sich schlecht fühlen, gehen Sie lieber, sonst habe ich nachher zwei Patientinnen statt einer.«

Dann wurde wieder leise gesprochen.

»Sie müssen zählen, Fräulein Horn,« hörte er dann wieder den Arzt mit lauter Stimme. »Sie vergessen ja das Zählen immer wieder.«

»Siebzehn – achtzehn – neunzehn – einundzwanzig – siebenundzwanzig – vierunddreißig –« hörte Piddl Fräulein Horn mit leiser Stimme zählen.

›Sonderbar,‹ dachte er, ›so zählt doch niemand?‹

Dann wurde es still, ganz still. –

Draußen fuhr ein Wagen vorbei. Piddl horchte eine Zeitlang auf die rollenden Räder und zog leise das Rouleau auf und schaute auf die Straße. Der Krämer Winkelmann gegenüber war bereits aufgestanden. Er stand in Hemdsärmeln vor seiner Ladentür und schaute nach dem Wetter.

Der feierte auch Pfingsten heute … Pfingsten! Alle Leute feierten Pfingsten heute. Ein richtiges Freudenfest sei es, hatte der Lehrer in der Schule gesagt …

In dem Augenblicke drang von nebenan in das Ohr des Knaben ein Schrei, der ihn entsetzt von seinem Stuhl aufspringen ließ, ein Schrei, markerschütternd, der ihm den Atem raubte und ihn in wilder Angst nach der Tür hinüberschauen ließ.

Kläglich begann er in sich hinein zu weinen.

Was machte der Arzt nur da drüben mit der Kranken? Gewiß mußte sie sterben. So konnte nur jemand schreien, der den Tod vor Augen sah.

Und dann erklang plötzlich ein wimmerndes, leises Weinen, mit feiner, dünner Stimme … Und nun wurden auch wieder Stimmen laut.

»En Mädchen is et,« hörte er seine Mütter sagen. »Na, Gott sei Dank, dat et da is!«

Wie eine Erstarrung legte es sich auf Piddl. Also ein Kind war geboren worden da drüben?

Ein Schwindel kam über ihn. Er hatte das Gefühl, bei etwas Heimlichem, Heiligem zugegen gewesen zu sein, bei dem er nicht hätte sein dürfen.

Scheu wie ein Verbrecher schlich er zu seinem Bette. Hastig warf er die Kleider vom Leibe und schlüpfte hinein. Hoch zog er die Decke über Augen und Ohren.

Also so war es! Der Arzt mußte kommen, und so viele Schmerzen mußten dabei ausgestanden werden? Da hatte Karl Kniebel doch recht gehabt, der ihm einmal auf dem Schulwege davon erzählt hatte.

Er hatte sich bisher eigentlich wenig Gedanken darüber gemacht. Daß es kleine Kinder auf der Welt gab, war eine Tatsache, die er hingenommen hatte wie die, daß des Tages die Sonne schien. Das war nun mal so in der Welt.

Aber, daß es so war, so entsetzlich und grauenvoll und auf Leben und Tod ging dazu – das hatte er nicht gewußt! – –

Noch immer schrie das Neugeborene nebenan, kläglich und wimmernd.

Er wollte es nicht hören. Er stopfte sich die Finger in die Ohren, um es nicht mehr zu hören. Es wußte ja kein Mensch, daß er gehört hatte, was er ganz gewiß nicht hatte hören sollen …

Je länger er darüber nachdachte, desto rätselhafter wurde das alles.

Warum die Schmerzen und die Krankheit vorher, und warum war der Arzt nötig, und warum bekam gerade Fräulein Horn ein Kind und – –

Ihm wirbelte der Kopf, und das Blut brauste ihm vor den Ohren.

Er hörte es deutlich mit klingendem Summen, smsmsm … Wie ein Brausen klang das.

›Und es kam schnell ein Brausen vom Himmel, wie das eines gewaltigen Windes – –‹ fiel es ihm aus der Pfingstgeschichte wieder ein, die am Tage vorher in der Schule besprochen worden war. –

Als seine Mutter nach einer Stunde wieder ins Zimmer trat, stellte er sich, als wenn er schliefe. Er hätte ihr jetzt nicht ins Auge sehen können.

Leise kleidete sie sich aus und streckte sich neben ihm aus. Nach zwei Minuten schon schlief sie fest Und ruhig.

Im Hause war es still geworden. Auch das Kind schrie nicht mehr.

Da rollte draußen ein Wagen heran und hielt ein paar Häuser weiter mit scharfem Ruck. Das mußte der Wagen sein, der Klara in den Pfingstmorgen hineinfuhr, der jetzt mit strahlendem Sonnenschein über den Gassen lag. Stimmen wurden laut. Der Kutscher knallte einladend mit der Peitsche.

Nein, er wollte nicht ans Fenster gehen. Es war ihm auch gleichgültig, ob Klara böse darüber wurde, wenn er nicht zusah, wie sie einstieg. Es war ihm nichts daran gelegen, daß sie ihm zuwinkte … Er hatte einen Blick in eine Welt hineingeworfen, die ihn hatte erschauern lassen durch die Gewalt der Wahrheit und der Schmerzen und Leiden, die sie in sich barg, und eine dunkle Ahnung stieg in seinem Herzen auf, eine Ahnung, die sich wie Zentnerlast auf ihn legte und ihn lautlos still in die Kissen schluchzen ließ.


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