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13.

Punkt acht Uhr stand er wieder vor dem Krankenhause und wartete darauf, daß das Tor geöffnet wurde.

»Na, bist du schon da?« fragte der Wärter, als er aufschloß.

»Also du gehst da drüben in die Haupttüre hinein, nimmst fein die Mütze ab und frägst nach Schwester Anna. Die wird schon Bescheid wissen.«

Herzklopfend öffnete Piddl die schwere Eichentür und stand dann in der großen Vorhalle, in der eine mächtige, breite, steinerne Treppe nach oben führte.

Sich irgendwie bemerkbar zu machen, wagte er nicht, und so stand er denn eine gute Viertelstunde beklommen da, ohne beachtet zu werden.

Da kam zufällig eine Schwester die Treppe herab und fragte ihn, was er wünsche.

Verlegen drehte Piddl seine Mütze in den Händen.

»Ich – ich wollte bloß mal fragen, wie es meiner Mutter geht?«

»Ach so,« sagte die Schwester. »In welchem Saal liegt deine Mutter denn?«

»Das weiß ich nicht!« antwortete Piddl. »Sie ist gestern abend erst hierher gekommen.«

»Gestern abend? Wie heißt deine Mutter denn?«

»Frau Hundertmark.«

»Da will ich mal nachfragen.«

Die Schwester stieg die Treppe wieder hinauf und kam nach einer Weile, die Piddl wie eine Ewigkeit erschienen war, mit einer anderen zurück.

»Du bist der kleine Hundertmark?« fragte die.

Piddl nickte.

Die Schwestern musterten ihn aufmerksam, tauschten leise ein paar Worte, und dann winkte ihm die, die zuletzt gekommen war, und führte ihn in ein Zimmer, das neben der Treppe lag.

»Hier mußt du eine Zeit warten. Ich will nachsehen, wie es deiner Mutter geht und ob du sie sehen darfst. Ich glaube, es geht ihr nicht so sehr gut!«

Da saß Piddl nun in dem großen, fremden Zimmer und wartete beklommen und erwartungsvoll.

Ein großer, langer Tisch nahm das halbe Zimmer ein, und Stühle standen an den Wänden mit hohen Lehnen und gespreizten Beinen.

Auf dem Tische, der mit seinem frischen Lack hell unter dem Scheine der Sonne blinkte, stand eine Wasserkaraffe und ein paar Gläser auf einem vernickelten Untersatz. Gegenüber an der Wand hing ein großes Bild: Christus, Kranke heilend. Darunter hing ein Haussegen: ›Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.‹ Große, bunt verzierte Buchstaben in Silberdruck auf schwarzem Karton. Hinter Piddls Rücken stand ein Fenster offen, und der laute Schlag eines Buchfinken drang durch die Morgenstille herein, fröhlich und schmetternd in sieghafter Lebensfreude.

Es währte eine Stunde, bis die Tür wieder aufging.

Es war dieselbe Schwester, die ihn vorhin hereingeführt hatte.

»Es geht deiner Mutter nicht gut, mein Kleiner,« sagte sie und sah ihn mit sanften braunen Augen mitleidig an. »Sie ist sehr schwer krank gewesen die Nacht. Du hast sie wohl sehr lieb, daß du schon so früh gekommen bist?«

Piddl antwortete nicht. Er sah der Sprechenden bekümmert und stumm ins Gesicht.

»Es ist eine schlimme Krankheit, weißt du, und da kann man immer nicht wissen –« fuhr die Schwester fort und brach ab, Piddl wieder mit den Augen musternd.

»Ja, man müßte Gott danken, wenn er sie nicht gar zu lange leiden ließe. Sie hat sehr viele Schmerzen auszuhalten, und vielleicht wäre es am besten – wenn sie – nun, wenn Gott sie zu sich nähme.«

Aus Piddls Gesicht wich alle Farbe. Er sah die Pflegerin mit einem Blicke an, wie ein Tier, das das Geschoß eines Jägers in der Brust hat und doch nicht sterben kann.

Er schluckte, biß die Zähne zusammen und drehte seine Mütze schneller in den Händen. Aber er antwortete nichts.

»Siehst du,« fuhr die Schwester fort, »du darfst dir das nicht so sehr zu Herzen nehmen. Es gibt so viele Kranke. Wir haben jetzt sieben ganze Säle voll. Da sind manche, die sich den Tod wünschen, die nicht mehr leben wollen, verstehst du – aber sie sterben doch nicht. Wem Gott barmherzig ist, den nimmt er zu sich, ehe er ihn darum bittet.«

In Piddl stieg eine furchtbare Ahnung auf, eine Ahnung, die sich wie ein schwerer Stein auf sein Herz legte, daß es sich mit langsamen, schmerzhaften Schlägen dagegen wehren mußte.

»Meine Mutter ist doch nicht –?«

»Ja,« sagte die Schwester und schlang ihren Arm um ihn – – –

Aber Piddl schrie nicht auf, er wurde nicht ohnmächtig vor Schmerz, und kein Tränenstrom stürzte ihm aus den Augen.

Er saß stumm und starr und sagte kein Wort.

Die Schwester drückte seinen Kopf an sich, strich ihm leise und liebevoll über die Backen und sprach tröstend, mit sanften Worten auf ihn ein.

Aber ihre Worte glitten an ihm ab, als sei er plötzlich zu Stein geworden. Er dachte nichts. Er hatte nur die Empfindung eines Ungeheueren, das geschehen war, das sein Leben wie der scharfe Schnitt eines Messers getroffen und ihn losgelöst hatte von dem Lebendigen, mit dem er verwachsen gewesen war. Ein Gefühl eines ungeheueren Alleinseins erfüllte ihn ganz.

Einen Augenblick hatte er die Empfindung, als wanke der Boden unter ihm, als drehten sich die Wände, neigten sich und müßten im nächsten Augenblick auf ihn stürzen. Er fühlte sich fallen, fallen, tiefer und immer tiefer in eine schaurige Finsternis, die ihn mit so kaltem Anhauch empfing, daß sein Blut darunter zu Eis gerann.

Alles Leid und alle Entbehrungen, die er bisher erlebt hatte, hatte er hingenommen als etwas Selbstverständliches, nach dem ›Warum‹ hatte er dabei niemals gefragt. Er hatte es wie etwas Unvermeidliches hingenommen, das eben so sein mußte, wie es war, das so selbstverständlich war, wie das, daß der Himmel Wolken hatte und der Winter Schnee und Kälte brachte. Es hätte ihn höchstens in Staunen versetzt, wenn es anders gewesen wäre, als es nun einmal war.

Aber der Tod der Mutter traf ihn mit der ganzen Gewalt eines Ereignisses, das er nicht gewohnt war, zu ertragen.

Erst nach Minuten löste sich der Krampf, der ihn erfüllte. Ein Zittern durchlief seinen Körper bis zu den Fußspitzen, und dann kam ein Ton aus seiner Kehle, ein irrer, unartikulierter Laut, der zuerst wie das Stöhnen eines Menschen klang, der an der Kehle gewürgt wird, der aber dann plötzlich zu einem lauten, wehen Schrei anschwoll, der plötzlich wieder abbrach, als sei er unter dem Griff einer eisernen, würgenden Faust erstickt.

Dann kamen die ersten Tränen, quälend langsam. –

* * *

Von den nächsten Tagen und Ereignissen bewahrte Piddl nur einen Eindruck mit quälender Deutlichkeit: den Anblick seiner gestorbenen Mutter.

Man hatte ihn erst zu der Toten geführt, als die Leiche in der Kapelle des Krankenhauses aufgebahrt gewesen war.

Eine der Schwestern hatte ihn an den Sarg geführt und ihn dann für einige Minuten allein gelassen, in dem Raum, der ihn mit Grabeskühle und feierlicher Stille empfangen hatte. Durch die gemalten Fenster brach das Sonnenlicht mit feierlicher Pracht und goß durch den Raum ein mildes, überirdisches Licht.

Still und friedlich lag die Tote da, die Augen geschlossen und die Hände übereinander gelegt, einen kleinen Strauß aus weißen Blumen auf der Brust.

Aber auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, so sonderbar, so feierlich groß und ernst, und dabei so fremd und eigen, daß Piddl in dem Augenblick, als er ihr ins Gesicht sah, wie von etwas Heiligem berührt wurde, dem er nicht näher kommen dürfe. War das seine Mutter wirklich, die da vor ihm lag?

Atemlos blieb er stehen, minutenlang, von Schmerz und Ehrfurcht zugleich bis in die tiefsten Tiefen seines kindlichen Herzens bewegt.

Dann ging er langsam, vorsichtig auf Zehenspitzen näher und faßte herzklopfend, voll zager Zärtlichkeit nach den Händen, die seine Liebkosung mit solch eisiger Kälte erwiderten, daß er erschauerte. Der Tod selbst hatte ihn zum erstenmal berührt und ihn mit eisigem Schauer bis in das Herz getroffen.

Er fühlte in diesem Augenblick bis ins Tiefste, daß ihm seine Mutter für immer entrissen war.

Seine Lippen begannen zu zucken, und der Anblick der Toten zerfloß ihm in den Tränen, die seine Augen füllten.

›Warum hast du mich allein gelassen?‹ schrie es in ihm auf. Aber seine Lippen blieben stumm, und kein Wort kam aus ihm heraus.

›Mutter, Mutter!‹ erhob es sich wieder von neuem in ihm, während ihm die Tränen über die Backen rannen und er dastand, von Schmerz und Grauen erschüttert, hilflos und kläglich wie ein armer, verprügelter Hund. ›Wo bist du hin? Komm noch einmal wieder! Schlag noch einmal deine Augen auf, ein einziges Mal nur, ganz, ganz kurze Zeit nur! Sieh mich nur noch einmal an! Einmal! Einmal!‹

Das letzte Wort wiederholte er immer wieder, ohne Unterlaß.

Als die Schwester wieder eintrat, ließ er sich ruhig hinausführen, ohne Widerstreben, die zuckenden Lippen aufeinandergepreßt, um sein Schluchzen zu unterdrücken, und die geballten Hände hart wie ein paar Steine auf die Augen gedrückt.


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