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2.

Ebenso originell wie seine Hosen waren seine Schuhe. Sie waren beinahe doppelt so groß wie seine Füße und dabei vollständig durchlöchert. Gott mochte wissen, wem die Schuhe in ihren besseren Tagen einmal gedient haben mochten. Die Absätze waren fast ganz darunter verschwunden, und vorn schauten die Zehen hindurch, wie eine Bulldogge die Zähne zeigt. Um den Schaden zu verdecken, hatte die Mutter ein Paar ausgediente Gummischuhe darüber gezogen, die die gesprungenen Nähte der Stiefel doch in etwas zusammenhielten.

Trotzdem schämte er sich, mit diesen Schuhen über die Straße zu gehen. Daß die Hose zu breit und zu kurz war, ließ sich am Ende ertragen. Aber die Schuhe, in denen die Füße hin und her rutschten, als seien sie hineingesteckt, um das alte Leder der Stiefel von innen zu polieren, waren schlimmer. Viel lieber wäre er barfuß gelaufen. Aber mit bloßen Füßen durfte man in der Schule nicht erscheinen. Zuweilen mußte er mit gekrümmten Zehen darin gehen, um sie nicht von den Füßen zu verlieren. Denn die Gummizüge daran waren längst schlaff geworden, und zudem waren die Beinchen viel zu dünn, als daß die alten Stiefel daran hätten einen Halt finden können.

Er wagte kaum aufzublicken, als er auf dem Schulwege war, und schlich sich durch menschenleere Gassen, um nicht mit seinen Klassenkameraden zusammenzutreffen.

Als er aber dann auf dem langen Korridor des Schulgebäudes mit weichen, elastischen Schritten entlang ging, folgten ihm die Augen aller Kinder. Es nützte ihm nichts, daß er schnell an seinen Platz eilte und die Füße unter der Bank versteckte.

›Piddl hat Gummischuhe an!‹ ging es wie ein Lauffeuer durch die Klasse.

Das war etwas Unerhörtes. Es war noch niemals vorgekommen, daß ein Kind mit Gummischuhen in die Armenschule gekommen war. Gummischuhe waren ein unerhörter Luxus. Vor ihm und hinter ihm bückten sich die Kinder und staunten die Schuhe unter der Bank an. Sogar der Klassenälteste kam, um sie eingehend zu besichtigen. Das war eine seltene Ehre. Dem imponierte so leicht nichts. Er war der größte von allen Jungen, und was er sagte, galt bei den anderen. Ihm gehorchten alle ohne Widerrede, – hatte er doch ein paar Fäuste, die ihm stets unbedingten Gehorsam erzwungen hätten. Granewitter hieß er, und seitdem er einmal einen Jungen, der einige Jahre älter und einen Kopf größer war als er, erbärmlich verhauen hatte, genoß er unbedingten Respekt in der Klasse.

»Zieh mal deine Gummischuhe aus!« kommandierte er, und als Piddl zögerte, wiederholte er, während eine atemlose Pause entstand, mit ruhiger Stimme: »Zieh die Gummischuhe aus, ich will sie besehen!«

War das nicht unmöglich? Was würden die anderen zu den entsetzlichen Schuhen sagen, die zum Vorschein kommen mußten, wenn die Gummihülsen abgestreift wurden?

Piddl wurde glutrot bei diesem Gedanken und zog die Füße, so weit es ging, unter die Bank zurück.

»Ich kriege sie nachher nur schwer wieder an!« stammelte er und wagte kaum aufzublicken.

»Ach was!« entschied Granewitter. »Du wirst doch die Schuhe an- und ausziehen können? Woher hast du sie?«

»Von meiner Mutter! Sie hat sie von den Leuten gekriegt, bei denen sie reinemachen geht,« antwortete er leise.

»Aber warum ziehst du sie denn heute an?« inquirierte Granewitter weiter. »Es regnet ja gar nicht! Die Sonne scheint ja! Es zieht doch kein Mensch Gummischuhe an, wenn kein Regenwetter ist? Es ist ja reine Ausspielerei von dir! Du bist ein Naseweis mit deinen Gummischuhen, du!«

Piddl ließ die Strafrede über sich ergehen und wagte kaum aufzublicken.

»Ausgezogen, vorwärts!« wiederholte Granewitter in seinem strengsten Ton, und glutrot vor Scham streifte Piddl einen der Schuhe von den Füßen, nahm ihn vom Fußboden auf und überreichte ihn Granewitter.

Dieser betrachtete ihn prüfend von allen Seiten, zerrte und riß daran, beroch ihn, schnitt sich dann mit seinem Taschenmesser, ohne Widerrede zu erfahren, schweigsam ein Stück von der Hacke ab, um es als Radiergummi zu versuchen, und reichte ihn dann zur Besichtigung den übrigen.

Langsam wanderte der Schuh von einer Hand in die andere.

»Du,« fuhr Granewitter fort, »der Schuh ist ja viel zu groß für dich! Das sind ja Galoschen, die du da angezogen hast, Frachtkähne sind es. Passen dir die denn? Zeig' mal deine Stiefel her!«

Piddl begann zu zittern. Er schüttelte nur stumm den Kopf und machte keine Miene, zu gehorchen. War er vorhin dunkelrot geworden, so wurde er jetzt mit einem Male leichenblaß. Er biß die Zähne zusammen und sah Granewitter mit einem Blick an, der eine wilde Entschlossenheit verriet:

»Ich bin doch dein Narr nicht!« stieß er heraus und preßte die Lippen zusammen und sah mit zusammengezogenen Brauen seinen Peiniger an.

Granewitter holte, ohne eine Antwort zu geben, langsam mit seinem Arme aus und gab Piddl einen Backenstreich, daß dieser in den Gang zwischen den Bänken niederstürzte.

»Esel!« sagte er dabei und wollte sich gerade umwenden und davongehen, als der Kleine, rasend vor Wut, mit einem Satze vom Boden aufsprang, auf Granewitter zustürzte und seine Finger in das Gesicht seines Gegners grub, der über den unerwarteten Angriff zuerst so verblüfft war, daß er kaum daran dachte, sich zu verteidigen.

Aber im nächsten Augenblicke packte Granewitter den Angreifer, riß einem der Knaben den Gummischuh aus den Händen und begann unter dem brüllenden Gelächter der übrigen dem Kleinen damit seine Lektion zu erteilen.

Als er ihn endlich wieder losließ, stand Piddl da mit zerzaustem Haar und zerrissener Hose, keuchend und halb besinnungslos noch, mit geschlossenen Augen und Schaum vor dem Munde. Einen der Stiefel hatte er bei der Rauferei verloren, und die Jungen hatten ihn aufgegriffen und ließen ihn nun unter lautem Gelächter von Hand zu Hand gehen.

Unter diesem Gelächter stürzte Piddl hinaus. Über den Korridor lief er, die Treppen jagte er hinunter wie ein gehetzter Hund und rannte dann die Straße hinab, fort, fort, nur fort!

Die Leute auf der Straße blieben stehen und sahen ihm nach – er merkte es nicht. Die Schulglocke ertönte hinter ihm – er hörte es nicht. Mit dem bloßen Fuße trat er in die Scherben einer zerbrochenen Flasche, die auf der Straße lag – er fühlte es nicht.

Am folgenden Tage wurde der Schulvogt nach ihm geschickt.

Der brachte ihn dann wieder.

Ob er nicht wisse, daß es verboten sei, die Schule ohne Erlaubnis zu verlassen, fragte ihn der Lehrer.

Ja, das wisse er wohl.

Warum er denn fortgelaufen sei?

Keine Antwort.

Ob er trotzen wolle?

Nein, gewiß nicht.

Ob er nicht sagen könne, warum er fortgelaufen sei?

Er könne es wohl, aber er wolle es nicht.

Ob es jemand in der Klasse wisse?

In der Klasse wußte es niemand. Alle Jungen schüttelten die Köpfe, stießen sich an und machten unschuldige Gesichter.

Er sei ein ganz sonderbarer Junge. Ein Ausreißer. Ein Vagabund!

Stumm ließ Piddl die Scheltworte über sich ergehen. Auch die Tracht Prügel, die darauf folgte, nahm er ohne zu mucksen hin. –

Aber von dem Tage an hatte er Ruhe in der Klasse. Seine Standhaftigkeit hatte allen imponiert.

»Das war nett von dir, daß du nichts geplifft hast!« sagte Granewitter in der Pause zu ihm. »Wir wollen uns vertragen, nicht wahr?«

Von dem Tage an hätte Granewitter jeden verhauen, der Piddl zu nahe getreten wäre.


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