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6.

Bisher war es nur in den Auslagen der Putzmacherinnen Frühling gewesen. Aber nun schien es, als wenn er wirklich kommen wollte. Die Luft war mit einem Male weich geworden wie Sammet, die Spatzen balgten sich in den Dachrinnen der Häuser, die Stare pfiffen, und in den Gärten blühten wie mit einem Zauberschlage Krokus und Himmelsschlüssel.

Es war an einem Mittwochnachmittag. Piddl hatte schulfrei und saß in der Kellerstube, die seine Mutter bewohnte, dicht am Fenster und schaute auf die Straße. Neben ihm, auf dem Fensterbrett, standen die beiden alten Fuchsien, die seine Mutter einst als Stecklinge geschenkt bekommen, und die sie schon seit Jahren gepflegt und nun wieder ans Licht gestellt hatte, damit sie frisch in Trieb kommen sollten.

Auf der Straße war es ganz still. Die Luft drang weich durch die offene Luftscheibe in die niedrige Stube, und Piddl wurde es ganz wunderlich ums Herz. Er lag mit dem Kopf auf der Fensterbank und sonnte sich.

Wie behaglich das war, wenn die Sonne so ins Zimmer schien. Die Fensterbank war schon ordentlich warm geworden. Er schloß die Augen und lächelte in sich hinein.

Am Morgen hatte der Lehrer ein Märchen erzählt. Das war schön gewesen. Von 70 000 mal 70 000 kleinen, lebendigen, nackten Frühlingsgöttern hatte er erzählt, die nun allenthalben, im Walde und auf den Wiesen und in den Gärten die Blumen erweckten und die Bäume mit Blättern schmückten. In jede Ecke guckten sie, ob es da nicht etwas grün zu machen gelte, etwas aus seinem Winterschlafe erweckt werden müßte. Sie wanderten über Berg und Tal, durch Wälder und Wiesen, schwärmten aus wie lustige kleine Vögel mit klugen Augen und schillernden Flügeln, und selbst durch die Gassen der Stadt liefen sie. Man sah sie nur nicht. In die engen Gärten und dunklen Höfe ließen sie sich hinab, und an den Kellerfenstern erschienen sie und ließen an den Topfblumen neue Triebe wachsen.

Herrjeh! Da saß ja schon eins auf der Fensterbank. Das mußte wohl durch die offene Luftscheibe hereingekommen sein. Vielleicht wollte es die alte Fuchsie besuchen, die dort mit sperrigen Zweigen traurig und kahl auf dem Fensterbrette stand?

»Gott, nein, wie kalt es hier unten in der Stube ist! Und so dunkel!« sagte es und ließ die kleinen nackten Beinchen vom Fensterbrett herunter in die Stube baumeln.

»Findest du?« fragte Piddl. »Gott, im Augenblick ist es doch ganz nett hier. Die Sonne scheint ja!«

»Na, im Winter muß es hier fürchterlich gewesen sein.«

»O,« entgegnete Piddl, »wir haben eingeheizt, wenn es fror. Ich habe immer einen Eimer Kohlen für zwanzig Pfennig beim Kohlenhändler wiedergekauft, wenn der Vorrat zu Ende ging.«

»So,« sagte der Nacktbeinige, »na ja, trotzdem muß es hier nicht schön gewesen sein. Es ist so dunkel hier unten. Man sieht ja kaum, was in den Ecken steht!«

Piddl wurde traurig, daß der Kleine so auf die Wohnung schalt, und sagte gekränkt: »Wenn wir nun aber keine bessere bezahlen können?«

»Bezahlen?« fragte der Kleine und brach in ein Gelächter aus, »bezahlen? Nun, das ist zu komisch! Das kenne ich nicht! Wem müßt ihr denn die Wohnung bezahlen?«

»Nun, dem Eigentümer,« antwortete Piddl, verstimmt durch das Gelächter, »das ist doch furchtbar einfach, und wenn Mutter nicht pünktlich zahlt, werden wir auf die Straße gesetzt.«

»Nein,« sagte der kleine Frühlingsgott und schüttelte nun ganz ernsthaft den Kopf, »so etwas kennen wir nicht. Uns gehört der Wald, das Tal, der Garten, der Himmel … was wir wollen! Wir sind allenthalben zu Hause!«

»Das glaube ich,« sagte Piddl. »Ihr seid auch Götterkinder. Ihr lebt von der Sonne und der Luft. Wir sind Menschen. Uns schenkt niemand etwas, und von der Sonne zu leben hat bei uns noch niemand fertiggebracht. – Hast du auch Brüder und Schwestern?«

»70 000 mal 70 000!« antwortete es. »So viele sollen es eigentlich sein. Gezählt habe ich sie auch noch nicht. Aber es wird wohl so stimmen!« Dabei gähnte es in die hohle Hand. »Schon ganz mollig in der Sonne, nicht wahr?«

»Und ob!« sagte Piddl.

»Ich muß wohl weitergehn!«

»Warum?«

»Habt ihr sonst noch etwas, was auf den Frühling wartet? Topfblumen im Keller, die ich besuchen könnte? Nein? Im Hofe, hinter dem Hause?«

»Na, dann muß ich sehen, daß ich weiterkomme.«

»Übrigens solltest du doch heute nachmittag einmal in den Stadtpark hinausgehen. Es gibt schon Buschwindröschen, und wenn du genau zusiehst, findest du auch schon Veilchen. Unter der Hecke bei dem Hause des Bahnwärters Tienemann standen heute mittag schon ein paar herrlich blaue.«

»Nein,« sagte Piddl, »es tut mir leid, ich habe keine Zeit.«

»Warum nicht? Mußt du Grillen fangen?«

»Ich muß zu meiner Stelle. Ich trage dort Brot aus für den Bäcker Meyerdierks am Stintgraben.«

»So – –!« sagte der kleine Frühlingsgott gedehnt. »Als ich dich vorhin so in der Sonne schlafen sah, dachte ich, du wärest noch ein Kind!«

Schlafen? Schlief er denn?

Verwundert rieb er sich die Augen. Wahrhaftig, er hatte geschlafen, mit dem Kopfe auf der Fensterbank, und wer vorbeiging, hatte es sehen können, daß der Piddl wie ein richtiger Faulenzer mit dem Kopfe auf der Fensterbank eingeschlafen war.

Aber wo war der Kleine geblieben, der eben mit ihm gesprochen hatte? Hatte er denn alles geträumt?

Mit verwunderten, scheuen Augen betrachtete er die Fuchsie: wirklich, saßen da nicht schon grüne Spitzen an den Knoten der Zweige?

Es war kein Zweifel, einer der 70 000 mal 70 000 kleinen Frühlingsgötter war bei ihm in der Stube gewesen. Dort auf der Fensterbank hatte er gesessen und mit den Beinen gebaumelt!

Wie warm es war! Der Kopf brannte ihm noch ordentlich von der Sonne. Verstört sah er nach dem kleinen Wecker, der mit seinem Klick-Klack die stille Stube füllte.

Wahrhaftig! Schon halb vier.

Um vier Uhr mußte er Mittwochs antreten.

Er griff nach der Mütze und trollte los. Es war ja die höchste Zeit. Der Weg zum Geschäft dauerte eine gute halbe Stunde.

An der Straßenecke spielten die Kameraden, und die Mädchen ließen ihre Kreisel laufen. »Spiel' mit!« riefen sie, als er vorbeiging.

Er lächelte nur. Ein wenig erhaben und höhnisch tat er dabei. Eigentlich war es ihm gar nicht ernst damit. Aber es sah dann nicht so aus, als beneide er sie, wie sie Marmel spielten und Kreisel laufen lassen konnten!

Klara Dinghammer war auch dabei. Sie hatte einen neuen Kreisel bekommen. Er stand doch einige Minuten still und sah ihr zu, wie sie den Kreisel mit der Peitsche schlug.

»Klara,« sagte er.

»Hm?« machte sie.

»Bist du meine Braut noch?«

Sie sah auf und lächelte.

»Ich weiß nicht!« entgegnete sie dann und lief dem Kreisel nach, der einen Hopser gemacht hatte.

»Ich bring' dir heute abend was mit, wenn ich zurückkomme!« rief er ihr nach.

»Was denn?« fragte sie, indem sie einige Schritte zurückkam. »Aber keine Zuckerstange wieder! Die mag ich nicht!«

»Ja, weißt du, ich muß sehn, was mir die Meisterin schenkt, wenn ich weggeh'!« – Er nickte ihr zu und ging weiter.

Wahrhaftig, in den Anlagen wurden die Büsche schon grün. Das mußte der Regen in der vergangenen Nacht getan haben, oder die 70 000 mal 70 000 kleinen Frühlingsgötter, das war noch wahrscheinlicher. Ganz oben in dem Gipfel einer Esche saß eine Drossel und pfiff laut und schmetternd.

An dem Uhrmacherladen zeigte die große Normaluhr schon zehn Minuten vor vier. Gott, wie er gebummelt haben mußte. Es war die allerhöchste Zeit. –

Eine Viertelstunde später lief er schon mit seinem Korbe durch die Straßen im Villenviertel. Pfeifend, wie ein richtiger Bäckerjunge, verfolgte er seinen Weg. Heute war es ja ein Vergnügen, bei dem Wetter!

Bei jedem Schritt, den er machte, dachte er an Klara Dinghammer und an das Stückchen Konfekt, das er ihr heute abend mitnehmen würde, wenn ihm die Meisterin eins schenkte.

Er hatte es sich schon ausgedacht: Wenn sie ihm wieder eine Zuckerstange geben wollte wie sonst, würde er sagen: ›Vielleicht, wenn's nichts ausmacht, nehme ich lieber ein Stück Konfekt. Kostet ja auch nur fünf Pfennig!‹

Die Meisterin war gut und würde es nicht übelnehmen. Es war ja für Klara, sonst würde er es gewiß nicht sagen. Er freute sich schon darauf, wenn er es Klara am Abend geben würde.

Sie wartete dann an der Straßenecke, wenn er heimkam, und er sagte: ›Da!‹ und holte es aus der Tasche und gab es ihr.

Fein war das.

Er mußte nur vorsichtig sein, daß er es in der Tasche nicht zerdrückte.

Sie stand dann und aß, und er sah zu, wie es ihr schmeckte. Sie erzählte, was sie gespielt hatten am Nachmittage und mit wem sie sich erzürnt hatte.

Heute abend würde es nicht so zugig und kalt sein wie sonst. Es wurde ja Frühling. 70 000 mal 70 000 kleine, lebendige Frühlingsgötter waren unterwegs …

Am Abend langte die Meisterin wie sonst nach dem gläsernen Becher, in dem die Zuckerstangen standen. Die Zuckerstangen waren eine Belohnung, die Piddl nebenbei bekam. Eigentlich verdiente er die Woche eine Mark und einen Beutel voll schief geratener Brötchen.

Ihm klopfte das Herz bis zum Halse hinauf.

»Heute abend, – wenn's sein kann – möcht' ich keine Zuckerstange,« stammelte er.

»Nicht,« sagte die Meisterin, »da ist's auch gut.«

»Wenn's sein kann, möcht' ich 'nen Mohrenkopf dafür.«

Die Meisterin blickte ihn von der Seite her verwundert an. Der Junge war doch sonst nicht unbescheiden. Piddl war glutrot geworden.

Als er draußen stand mit seinem Mohrenkopf, hätte er am liebsten vor Freude laut aufgeschrien.

Vorsichtig trug er seinen Schatz. Es ging doch nicht gut, daß er ihn in die Tasche steckte. Wenn er ihn zerdrückte –!

Als er in die Winkelgasse einbog, war alles still. Ein feiner, warmer Regen hatte eingesetzt, der die Gaslaternen in sprühende, schimmernde Nebel hüllte und mit leisem Trommeln in den Gossen von den Dächern niederrann.

Klara war nirgends zu sehen.

Er wartete eine Viertelstunde vor ihrem Hause. Er pfiff einmal über das andere. Endlich erschien sie mit einem Korbe. Sie wollte noch Einkäufe besorgen.

»Ich habe dir was mitgebracht,« sagte er und trat auf sie zu.

»Wieder 'ne Zuckerstange?« fragte sie etwas höhnisch und neugierig zugleich.

»Guck', was drin ist!«

Er gab ihr das kleine Paket.

Sie wickelte es auf. Ein Mohrenkopf!!

Gierig biß sie hinein und schmatzte vor Behagen. Glücklich lächelnd sah er ihr zu.

»Weißt du,« sagte sie dann mitten im Kauen, »Karl Langenberg hat mich heut abend gefragt, ob ich nicht seine Braut sein will, aber das will ich nun nicht mehr.«

»Was hat er dir gegeben?« fragte er ahnungsvoll, mit gerunzelter Stirn.

»Er wollte mir seinen Kreisel geben, weißt du, den kleinen, der so weit springt. Aber ich will es nun nicht mehr. Ich will nun deine Braut bleiben.«

Sie nickte ihm zu und huschte über die Straße nach dem Krämerladen.

Lächelnd wandte er sich um und ging nach Haus. Nach wenigen Schritten schon begann er zu pfeifen, wie er es immer tat, wenn er glücklich war.

Die Luft war so weich und ganz erfüllt von dem Atem des Frühlings. Was Wunder, waren doch 70 000 mal 70 000 kleine Frühlingsgötter unterwegs.


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