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7.

Es war den Sonntag vor Weihnachten. Ein eisiger, feuchtkalter Wind strich durch die abenddunklen Straßen und kämpfte vergeblich gegen den Nebel an, der dick und zäh war und alle Gegenstände draußen vor Nässe erglänzen ließ, die Griffe an den Türen, die Häuser, die Steine auf dem Pflaster und die Laternen auf den Straßen. Fröstelnd gingen die Leute durch den Nebel, tauchten plötzlich auf und verschwanden wieder, wie die Bilder eines Schattentheaters. Selbst auf den Hauptstraßen, wo allenthalben die Läden mit ihren verlockenden Auslagen zum Verkauf einluden und ein ganzes Meer von elektrischem Licht in den nebelverhangenen Abend hinausgeschickt wurde, schien der Nebel der Stärkere bleiben zu sollen. Er hüllte die elektrischen Sonnen in milchweiße Schleier, machte das Asphaltpflaster glatt und schlüpfrig und steigerte die Formen aller Gegenstände ins Riesenhafte. Er ließ die Taxameter, die hinter müden Pferden langsam mit klirrenden Scheiben durch die Straßen rollten, wie urväterliche Postkutschen erscheinen und Frachtwagen bis ins Ungewisse hinaufwachsen. Wo sich aber ein paar Bekannte auf der Straße begegneten, hörte man immer dasselbe Gespräch: »Dieser Nebel! – Abscheulich! – Das soll ein Weihnachtswetter sein? – Na, ich danke.« –

Klara Dinghammer stand an einer Straßenecke und hielt künstliche Blumen feil, Schneebälle aus weißem Seidenpapier und Rosen aus rotem Krepppapier. Ihre Mutter hatte die Blumen in späten Abendstunden für den Straßenverkauf angefertigt, und heute sollte Klara nun zum ersten Male versuchen, mit den Blumen ein paar Weihnachtsgroschen zu verdienen.

Die Finger waren ihr bereits steif geworden in der naßkalten Luft, und das kleine, schwarze Jäckchen, das ihr in diesem Jahre völlig zu eng geworden war, schützte sie nur schlecht vor der Kälte. Sie trat fröstelnd von einem Fuß auf den anderen und blies abwechselnd in die Hände, um sie ein wenig zu erwärmen. Die Papierblumen hatte sie in einem kleinen, sauberen Körbchen, das sie am Arme trug, sorgsam aufeinandergelegt.

Anderthalb Stunden hatte sie bereits so gestanden, und bis dahin hatte sie nur einen einzigen Schneeball für zehn Pfennige verkauft.

Sie hatte so viel Mut gehabt, als sie gleich nach der Schulzeit fortgegangen war mit ihrem Korbe. Aber der war ihr schon vergangen. Niemand kümmerte sich viel um sie. Jeder hatte es eilig, weiterzukommen, und die langsamer gingen und mehr Zeit zu haben schienen, sahen nur in die hell erleuchteten Schaufenster hinein, statt in Klaras bescheidenes Körbchen.

Zuletzt wagte sie es und begann leise: »Blumen gefällig?« zu rufen, wenn jemand nahe genug an ihr vorüberging.

Nach einer Stunde verkaufte sie wieder einen Schneeball. Nun brauchte sie nur noch einen zu verkaufen, damit sie die Auslagen wieder hatte für das Papier, das ihre Mutter bei dem Buchbinder gekauft.

Der Nebel schien immer dicker zu werden. Wie die Equipage da vorüberrollte! Man hörte nur die Pferdehufe auf dem Pflaster. Der Wagen lief auf Gummirädern geräuschlos hinterdrein. Da drinnen hinter den Scheiben in den warmen Polstern zu sitzen –!

Klara hauchte wieder in die Hände. »Blumen gefällig? Schneebälle? Rosen?«

Plötzlich tauchte Piddl Hundertmark vor ihr auf. Was trug denn der da auf den Händen?

»Klara!« sagte er überrascht und blieb stehen.

Klara nickte ihm zu und lächelte. Eigentlich war es ihr nicht recht, daß Piddl sie hier stehen sah. Er brauchte nicht zu wissen, daß es bei ihnen zu Hause so knapp stand. Aber er hatte sofort begriffen, was sie hier wollte.

»Na, schon was verkauft?« fragte er leise.

Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Du mußt hier auch nicht stehn!« riet er. »Hier haben's die Leute zu eilig. Stell' dich lieber in die Kaiserstraße. Da gehn auch viele Leute, aber sie gehn langsamer und lassen sich eher Zeit.«

Mutlos schüttelte Klara den Kopf. »Was trägst du denn da?« fragte sie, um auf ein anderes Gespräch zu kommen.

»'nen Festkuchen,« sagte er stolz. »Der soll schon zu Weihnachten sein, weißt du. Komm mal 'n bißchen dichter 'ran, denn kannste ihn riechen. Fein, was?«

»Ja,« sagte sie und zitterte vor Kälte. »Fein, das ist wahr!«

Aber Piddl konnte nicht länger bei ihr stehen bleiben. »Ich muß weiter,« sagte er, »die Meisterin schilt, wenn ich zu lange wegbleib'. Ich hab' nachher noch mehr zu laufen. Eine Apfeltorte ist bestellt und muß noch weg, und vielleicht muß ich nachher noch mit Teegebäck unterwegs. Aber der Nebel! Fein, was? Ich wollt', daß er noch dicker würd'. Das wär' 'n Spaß.«

Er nickte ihr zu und ging.

Klara stand wieder allein. »Blumen gefällig? Schneebälle? Vielleicht Rosen?« – – –

Spät, um zehn Uhr, kam sie heim, hungrig und müde.

»Na?« sagte Dinghammer und sprang von seinem Schustersessel auf, und »Na?« sagte die Mutter atemlos und hielt im Kartoffelschälen inne.

»Vierzig Pfennig!« sagte Klara und legte das Geld mit starren Fingern auf den Tisch. »Drei Schneebälle und eine Rose.«

»Den Deubel auch!« schrie der Schuhmacher, setzte sich wieder auf seinen Schemel und begann ein Stück Leder zu klopfen. Frau Dinghammer schwieg. Sie seufzte nur leise.

»Setz' dich an den Ofen und iß und trink. Bist gewiß ganz ausgefroren.«

Klara aß gierig, ausgehungert und durchfroren von dem Nebel und der naßkalten Luft. Gesprochen wurde nichts. Der Schuster hämmerte, daß man auch nichts hätte verstehen können.

Leise drückte sich Klara in die Kammer, die nebenan lag, zog sich aus und schlüpfte ins Bett. Die Schwester schlief schon.

Ach, wie mollig das war, bei der hineinzukriechen, die warm, wie ein frisch gebackener Kuchen, unter der Decke lag. Nur still mußte sie liegen, daß sie die Kleine nicht weckte. –

»Wenn det so weiter geht, langt et nicht zu 'nem Feststullen,« seufzte Frau Dinghammer auf, die wieder hinter ihren Kartoffeln saß.

Der Schuhmacher lachte grimmig. Aber er sagte nichts und spie nur höhnisch in die Stube.

»Ick weeß ok nich,« fuhr Frau Dinghammer fort, »det kommt mir so vor, als wenn in diesem Jahre alles auch noch viel deurer geworden wär' als voriget Mal!«

Mit einem Ruck wandte sich Dinghammer um. »Det kommt dir so vor? Man bloß so vor? … Ne, kieke mal! Wat du nich sagst!«

Dann begann er wieder grimmig das Leder zu klopfen.

»Du solltest Feierabend machen für heute, Emil,« begütigte ihn die Frau.

»Den Deubel auch!« schrie der.

Klara aber lag nebenan in ihrem Bette und war schon eingeschlafen. Sie sah sich im Traum wieder auf der Straße stehen und ihre Blumen feilhalten. Der Nebel begann sich in große, weiche Schneeflocken aufzulösen, und eine wunderbare Milde erfüllte die Luft. Der Frost prickelte ihr nicht in den Händen, und der Wind zerschnitt ihr nicht das Gesicht. Dichter und dichter fiel der lockere Schnee, und das Geräusch der Straßen klang gedämpft, fast heimlich und still. Die Leute, die vorübergingen, sahen sie freundlich an, und sie verkaufte ohne Unterlaß, diesem einen Schneeball und jenem eine Rose – bis der Korb leer war. Aber, o Wunder! Wie sie den leeren Korb vom Pflaster aufnehmen und fortgehen wollte, mit einem Herzklopfen der Freude, das ihr beinahe den Atem nahm, sah sie aus dem Korbe neue Blumen wachsen, Schneebälle und Rosen. Richtige, lebendige Blumen waren es, und die Rosen dufteten durchdringend und voll, wie die ersten, die sich im Juni öffnen. Und jedesmal, wenn sie mit freudezitternden Händen eine der Blumen aus ihrem Korbe nahm, blühte eine andere an ihrer Stelle auf! Rosen, – Rosen, – Rosen!

Sie nahm ganze Büsche voll heraus und streute sie in kindlicher Freude um sich herum, daß sie wie große Blutflecke in dem weißen Schnee lagen. Aber es wurden darum nicht weniger in ihrem Korbe. Die aber aus die Erde fielen, wuchsen von dort empor, höher und höher, schlangen ihre Zweige ihr um Hals und Schultern und hüllten sie ganz in Rosen ein. Sie aber stand da wie in einer frühlingswarmen Laube und lächelte, und die Vorübergehenden blieben stehen, schauten sie an und lächelten auch, freundlich und voll milder Güte. Wie ein Dornröschen stand sie da, mit ihrem Korbe voll von Schneebällen und Rosen, mitten im Winter unter rieselndem Schnee auf offener Straße.

Da hoben die Leute, die dichtgedrängt vor ihr standen, ihre Kinder auf den Arm und riefen: ›Seht das Christkind dort unter Rosen stehen!‹

Aber da tauchte Piddl Hundertmark plötzlich unter den Leuten auf und schrie vergnügt: ›Das ist ja Klara Dinghammer aus der Winkelgasse.‹

Da erwachte sie, noch selig von dem Glück, das ihr der Traum zugetragen hatte, und während sie sich im Bette aufrichtete und sich noch nicht wieder in die Wirklichkeit zurückfinden konnte, hörte sie den Atem der Schwester neben sich, sah den schmalen Lichtstreifen, der aus der Wohnstube ins Schlafzimmer fiel, und hörte plötzlich die Mutter sprechen, die seufzend sagte: »Und selbst wenn ick nur die Hälfte an Margarine nehme und de Rosinen ganz rauslasse, – ick weeß nich, wie ick de Feststulle fertigkriegen soll.«

In diesem Augenblicke begriff Klara, daß es nur ein Traum gewesen sei, den sie geträumt. Stumm sank sie auf ihr Kissen zurück. Aber die graue, lähmende Enttäuschung, die ihr Herz erfüllte, wich schon nach wenigen Minuten der Resignation, die nur die Armut kennt, und als ihre Mutter bald darauf die Kammer betrat, tröstete Klara sie: »Vielleicht, daß ich das nächste Mal mehr verkauf', Mutter, 's sind ja noch acht Tage bis Weihnachten!«


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