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4.

»So!« sagte Piddl, »nun will ich dir noch die Beine anknoten – und dann kannst du strampeln!«

»Jawohl!« entgegnete der Hampelmann, der auf dem Tische lag und mit unnatürlich weit aufgerissenen Augen unter die Zimmerdecke stierte. »Und ich kann dir sagen, ich werde die Beine hochziehen, daß sie wie Räder herumschlagen sollen! Zieh nur die Knoten nicht so fest an, sonst krieg' ich die Gicht. Ein Hampelmann ist empfindlich für so etwas!«

Aber Piddl hörte ihn nicht, oder er verstand ihn nicht. Er hatte den Hampelmann auf einem großen Ausschneidebogen für zwei Pfennige beim Buchbinder gekauft, auf Pappe geklebt, dann sauber mit der Schere ausgeschnitten und war nun dabei, die Beine an den Rumpf zu knoten. Dann fehlte nur noch die Strippe – und der Hampelmann war fertig.

Es war sonst niemand im Zimmer, in dem es unfreundlich und kahl genug aussah. Das Feuer in dem kleinen Kanonenofen war längst ausgebrannt, und an den niedrigen Fenstern begann bereits wieder der Frost leise seine Kunst zu zeigen. Wie aus feinem Silber getrieben blinkten die Eisblumen an den Scheiben.

Piddl lag mit den Knien auf einem Stuhle, um sich besser über die Tischplatte beugen zu können, nun er vorsichtig die Bindfäden hinter den Gelenken des Hampelmanns verknotete.

Er hatte Eile; denn er wollte sein Werk heute abend noch auf der Straße zu Geld machen und seine Mutter damit überraschen, wenn sie vom Reinmachen nach Hause kam.

»So!« sagte er und atmete auf, als die Beine angeknotet waren, »nun muß ich dir noch eine Öse in den Kopf knoten, damit ich dich auch aufhängen kann!«

Vorsichtig stach er mit der Stopfnadel durch den Hut, den der Hampelmann trug.

»Au!« schrie der, »du könntest dich auch ein wenig mehr in acht nehmen, wenn du mit gebildeten Leuten umgehst. Beinahe hättest du mich in den Kopf gestochen.«

Piddl fädelte den Bindfaden ein und hing den Hampelmann an einem Nagel an der Wand auf, um ihn zu probieren.

»Herr Gott!« schrie der und schlug die Arme über den Kopf zusammen, »in was für eine Bude bin ich hier geraten? Da habe ich nun monatelang in dem düsteren Schrank des Buchbinders davon geträumt, einmal in ein vornehmes Haus zu kommen! Ja, ja, was sind Träume!«

»Gut!« sagte Piddl und ließ die Strippe los. »Du strampelst wie der beste, den ich gemacht habe!«

»Was soll denn nun werden?« fragte der Hampelmann, als Piddl nach seiner Mütze griff und mit ihm auf die Straße trat.

»Das ist ja eine Rücksichtslosigkeit ohnegleichen, einen so ohne weiteres in das Frostwetter hinauszutragen! Ein gebildeter Mensch würde sehen, in was für einem dünnen Gewand ich stecke und Rücksicht darauf nehmen!«

Piddl verstand ihn nicht, aber es fror ihn ebenso wie den Hampelmann, der in dem scharfen Winde schlotternd hin und her baumelte und mit seinem grimmigen Gesicht wütend die Straße hinuntersah.

An einer Straßenecke, wo der Schatten eines Hauses ihn etwas deckte, stellte Piddl sich auf. Dort ging der volle Strom der Passanten vorüber. Aber windig und zugig war es da. Schon nach wenigen Minuten war ihm die Hand, mit der er den Hampelmann hielt, blau gefroren, und er mußte ihn in die Linke nehmen, um die andere in der Hosentasche ein wenig wieder zu erwärmen.

Es war nicht leicht, einen Hampelmann zu verkaufen, besonders nicht, nun Weihnachten längst vorüber war, und darum achtete niemand auf Piddl, der frierend von einem Fuß auf den anderen trat, um von Zeit zu Zeit auf einen Vorübergehenden zuzutreten und zu fragen: »'n Hampelmann gefällig?«

Er hatte immer denselben Erfolg. Es war noch gnädig, wenn ihm ein »Danke« zugerufen wurde. Die meisten ließen sich selbst dazu keine Zeit.

Eine Minute nach der anderen verrann, und langsam, langsam wurden aus den Minuten Viertelstunden und halbe Stunden, und plötzlich schlug es von dem Turm der nahen Nikolaikirche sieben.

Erst kamen vier dumpfe Schläge, und dann hallten die sieben Stundenschläge langsam und gewichtig hinterdrein, als wüßten sie, daß sie wieder einmal eine Stunde voll Erdenleid in die schimmernde Ewigkeit hinausschickten, die dort oben über den Dächern in flimmernder Sternenpracht lag.

Der Hampelmann schlotterte an allen Gliedern. »Wenn ich noch begriffe, was ich hier soll?« schrie er wütend. »Da bin ich wirklich in nette Hände geraten. Wenn man mir noch etwas Bewegung machte bei der Kälte!«

Aber es war niemand, der ihn aufgeklärt hätte oder ihm Bewegung machte. Schlaff hing er an Piddls Finger, und die einzige Bewegung machte ihm der Wind, der seinen Spaß an ihm hatte.

Piddls beide Hände waren eiskalt. Ein prickelndes Frieren saß in den Fingern, das langsam die Arme hinaufkroch.

»Ein Hampelmann gefällig?« sagte er wieder und trat einen Schritt vor.

Der Angeredete war ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren etwa. Er blieb stehen, nahm den Hampelmann von Piddls Finger und zog an der Strippe:

›Endlich etwas Bewegung in dieser Hundekälte!‹ dachte der und schlug Arme und Beine wütend zusammen.

»Was kostet er?« fragte der junge Mann.

»Zehn Pfennig,« forderte Piddl.

Der junge Mann zog seine Börse. »Da!« sagte er und nahm den Hampelmann an sich.

»Und ich?« schrie der, »werde ich gar nicht gefragt? Das ist ja der reine Sklavenhandel!«

Aber niemand hörte ihn. Sein neuer Eigentümer schlug ihm die Arme und Beine über den Rücken und steckte ihn in seine Brusttasche.

»Das wird ein Hauptspaß!« murmelte er, »ein Hauptspaß!«

›Im Grunde kann ich mich ja nur freuen, daß ich von dem kleinen Hungerleider los bin, der mich geschlagene anderthalb Stunden da draußen frieren ließ!‹ dachte der Hampelmann in der Brusttasche, wo es warm und mollig war. ›Nun bin ich nur begierig, was aus mir werden soll?‹

Als er aus der Tasche herausgezogen wurde, sah er sich in einem strahlend hell erleuchteten Zimmer. Ein riesiger Kronleuchter hing von der Decke herab und goß eine märchenhafte Fülle von Licht über eine große, weiß gedeckte Tafel aus, auf der feingeschliffene Kristallgläser hinter goldumränderten Tellern standen und bei jedem Gedeck eine Rose lag, eine richtige, lebendige, mattgelbe Rose.

»Herrlich!« schrie der Hampelmann. »Hier bin ich ja in den schönsten Frühling hineingeraten!«

»Hören Sie mal!« sagte der Mann, der den Hampelmann trug, zu einem der Diener, die noch an der Tafel ordneten, »ich habe mir einen ganz besonderen Scherz ausgedacht! Hängen Sie den Hampelmann einmal da drüben an der Wand auf, aber schnell, ehe jemand kommt, und hängen Sie das Bild dort darüber, daß man ihn nicht sieht. – Richtig. Nun knüpfen Sie vorsichtig eine dunkle Schnur an die Strippe des Hampelmanns, damit ich von meinem Stuhl aus ziehen kann. Wo werde ich meinen Platz haben? Gut, gut! Nur schnell!«

Da hing er nun regungslos hinter dem Bild an der Wand. Die Augen waren ihm noch ganz geblendet von dem Anblick des strahlenden Kronleuchters und der schimmernden Tafel. ›Ich habe mir ja immer gedacht, daß ich zu etwas anderem bestimmt sein würde, als in der Stube armer Leute zu hängen,‹ dachte er.

Plötzlich hörte er Stimmen, Gelächter.

»Nein, wie entzückend!« klang es durch den Saal. »Wirklich, Herta, die Dekoration ist reizend.«

Langsam füllte sich das Zimmer. Die Herren führten die Damen am Arm herein, die Diener begannen die Speisen aufzutragen, und die Herren fragten ihre Nachbarinnen, ob sie roten oder weißen wünschten, und gossen dann den Wein in die funkelnden Gläser.

›Was mögen die jetzt machen?‹ dachte der Hampelmann, der im Finstern hing und das leise Klappern der Gabeln und Messer vernahm. Ein lieblicher Bratenduft stieg ihm in die Nase, und er wurde so neugierig, daß er am liebsten vor Ungeduld gezappelt hätte.

Da hörte er jemand eine Rede halten. Er erkannte gleich die Stimme des Mannes, der ihn vorher hergetragen hatte.

»Es lebe das Glück und die Freude!« scholl es zu dem Hampelmann hinter dem Bild hinüber. »Es lebe das Leben!«

Und dann klangen die Gläser aneinander. Und alle riefen: »Es lebe das Leben!« Plötzlich kam eine fette Stimme hinterdrein: »Und die Liebe!« und lautes Gelächter folgte darauf.

›Was wird mit mir werden?‹ dachte der Hampelmann. ›Meine Aufgabe wird es sein, eine Überraschung darzustellen, und ich werde mit den Beinen zappeln, daß es eine Lust sein soll!‹

Eine wunderbare Musik begann plötzlich zu erklingen. Dem Hampelmann wurde ganz eigen ums Herz. Ein Zittern und Zucken lief durch seine Glieder. Er war so musikalisch. Am liebsten hätte er getanzt.

Die Unterhaltung der Gesellschaft wurde lauter und lauter. Immer von neuem klirrten die Gläser aneinander, Reden auf Reden wurden gehalten, – der Hampelmann verstand nichts davon.

Da begann eine Dame ein Lied vorzutragen. Es mußte wohl eine Dame sein. Die Stimme war so weich und fein, so lieblich und zart. Dem Hampelmann rann es wie Feuer durch alle Adern. Eine Sehnsucht ergriff ihn, daß er sich kaum zu helfen wußte, und als das Lied zu Ende war und alle »Bravo!« schrien und in die Hände klatschten, konnte er sich wirklich nicht mehr bezwingen. Er begann zu zappeln vor unendlicher Wonne.

»Gott! Es spukt hinter dem Bilde dort!« schrie jemand in den Aufruhr hinein.

Ein paar Damen kreischten, und es wurde plötzlich still im Zimmer.

»Ich habe eben ganz bestimmt gesehen, wie sich das Bild bewegte,« sagte eine ängstliche Stimme.

»Aber nehmt es doch einmal von der Wand, damit wir sehen, was dahinter ist,« rief eine andere.

Das Bild wurde weggenommen, und da hing nun Piddls Hampelmann und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und war sprachlos vor Verwunderung über all die weißgekleideten Damen, die in tief ausgeschnittenen Kleidern sich um ihn drängten und in kreischendes, jubelndes Lachen ausbrachen.

»Ein Hampelmann! Ein Hampelmann!« schrien alle.

Der junge Mann aber, der ihn vorher hergetragen hatte, rief zu der jungen Dame hinüber, die vorher gesungen hatte und noch mit ihrem Notenblatt in der Hand dastand: »Sehen Sie, Miß Edith, selbst der Hampelmann an der Wand ist vor lauter Entzücken über Ihre göttlich schöne Stimme aus Rand und Band geraten. Er zappelt wie einer, sehen Sie doch nur!«

Dann wandte er sich zu dem Hampelmann und sagte: »Na, Kleiner, was hast du denn? Hat Miß Edith es dir angetan?« In diesem Augenblick zog er an der Schnur, daß der Hampelmann einen wahren Hopser an der Wand machte.

Die Damen kreischten wieder vor Lachen, und einer von den Herren rief: »Falk hat doch immer etwas Neues, immer irgendeine Überraschung.«

Falk fuhr fort: »Ja, siehst du, kleiner Hampelmann, wenn man eine Dame verehrt, so wie du augenscheinlich, so muß man es ihr auf eine recht manierliche Weise zu verstehen geben. Also! bitte. Zeige deine Kunst!«

Damit begann er wieder leise an der Strippe zu ziehen, ruckweise und schnell hintereinander. Und der Hampelmann schaute nach der schönen Sängerin hinüber, die ihn mit ihren blauen Augen anlächelte, daß ihm der Atem vergehen wollte. Aber er tanzte so zierlich, als hätte er Pepita als Partnerin, schlug die Beine bald rechts, bald links und zuckte mit den Armen, daß es eine Lust war.

Dicht gedrängt standen die Damen und Herren um ihn herum und lachten mit weingeröteten Gesichtern. Aber niemand dachte daran, daß ein armer Junge den Hampelmann in einer finsteren Souterrainstube für zehn Pfennige zurechtgekleistert und ausgeschnitten und ihn dann anderthalb Stunden bei der schneidenden Kälte feilgehalten hatte, da draußen an der zugigen Straßenecke, wo der Wind freie Bahn hatte …

Dann ging man in den anstoßenden Saal zum Tanz. Der Hampelmann konnte jedesmal die Paare sehen, die an der offenen Tür vorbeitanzten. Ach, er hätte so gern mitgetanzt, aber es kam niemand und zog an seiner Strippe. Vergessen hing er an der Wand und sah in den strahlenden Schein der elektrischen Lampen hinein und auf die weißschimmernde Tafel, die die Bedienten jetzt leise abräumten.

›Gott, nein, wie herrlich es hier ist!‹ dachte der Hampelmann, und aus lauter Freude schrie er laut: ›Hurra! Es lebe das Leben!‹ Aber es hörte niemand. –

Zur selben Zeit schrie auch in Frau Hundertmarks Stube jemand: »Hurra!«, und das war Piddl.

Als nämlich seine Mutter heimkam, fröstelnd von der Kälte, und ihr Umschlagetuch von den Schultern nahm, überraschte Piddl sie mit dem blanken Groschen, den er für seinen Hampelmann erhalten hatte und den er nun, mit einem Kranz aus Papierschnitzeln umgeben, auf dem Tische vor dem Platze seiner Mutter hingelegt hatte.

»Nanu?« fragte sie, »woher haste denn den Groschen?«

»Verdient!« antwortete er lakonisch, sichtlich von Stolz erfüllt.

»Womit denn?«

»Ich habe mir für die zwei Pfennige, die du mir neulich geschenkt hast, 'nen Hampelmann heim Buchbinder gekauft, aufgeklebt, ausgeschnitten und auf der Straße verkauft.«

»Das ist fein,« sagte die Mutter, von seiner Freude gerührt. »Was willste denn mit dem Groschen anfangen?«

»Na,« sagte Piddl, »das kannste dir doch denken!«

»Verwahr' ihn dir nur, Piddl! Wenn der Jahrmarkt da ist –!«

»Hurra!« schrie Piddl wieder, »in vier Wochen ist schon Jahrmarkt!«


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