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3.

In dem Hofe hinter Piddls Hause wuchs eine Sonnenblume. Kein Mensch wußte, wie der Same dorthin gekommen war, denn der Hof war dunkel und eng. Düster starrten die hohen, vom Rauch geschwärzten Mauern der Häuser in die finsteren Höfe hinab, die hinter den Häusern in der Winkelgasse lagen. Ob ein Kind das Samenkorn beim Spielen aus den blassen Fingern verloren oder der Wind es über die Dächer hinweg getragen hatte? Plötzlich, wie ein lebendiges Wunder, stand die junge Pflanze da und reckte die Blätter hungrig dem Lichte entgegen. Sie wuchs mit jedem Tage. Man konnte sie beinahe wachsen sehen. Sie hatte solche Sehnsucht nach der Sonne, deren Strahlen niemals in den engen Hof hinabstiegen, in dem sie stand und wuchs und wartete. Hoch oben, an den Gesimsen der Häuser, wanderten die Strahlen vorbei, als scheuten sie sich, in die finstere Schattenwelt der dunklen Höfe hinabzusteigen, wo hier und dort schmutzige weiße Wäsche regungslos auf rostigen Drähten trocknete, alte Kehrichthaufen von zerbrochenen Scherben und allerhand Gerümpel lagen und melancholisch düstere Kellerfenster auf die Höfe hinausschauten.

Als Piddl die Sonnenblume zum ersten Male sah, war er starr vor Erstaunen. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Das war ja ein Märchen! Eine richtige, lebendige Pflanze auf seinem Hofe. Wie rätselhaft schlank die Blume war, wie eine Prinzessin. Und wie schnell sie wuchs!

Täglich ging er hinaus in den Hof, um sie zu betrachten. Nach einigen Wochen war sie schon so groß, daß sie über die Holzplanke in den Hof des Nachbars gucken konnte – aber sie hörte nicht auf, zu wachsen. Es war, als wenn ihren Wurzeln aus dem feuchten Grunde des Hofes immer neue Triebkräfte zuströmten, die in ihren Adern zum Lichte empordrängten, als hätte auch den Erdboden, der so lange in Schatten und Finsternis gelegen, eine unbezwingbare Sehnsucht nach Licht und Sonne ergriffen, als könne er nun in der einsamen, lichthungrigen Pflanze die Erfüllung seiner Sehnsucht finden, und als strömten nun alle Kräfte des Erdreichs, das so lange brachgelegen, in schwellendem Verlangen der blaßgrünen Pflanze zu, die, von all der Sehnsucht um sie her ernährt und getragen, wuchs und wuchs … Aber die Sonne hatte sie immer noch nicht erreicht. Nicht einmal der Wind spielte mit ihr in der modrigdumpfen Luft der Höfe. Regungslos stand sie da, und endlich, als an einem Gewittertage die stickige Schwüle der Gassen auch in die Höfe hinabsank, meinte die Pflanze, die Sonne berühre sie mit ihren warmen Strahlen, und schlug ihr Auge auf, ein großes, goldiges Sonnenblumenauge, das voll verzehrendem Verlangen zu dem blauen Sommerhimmel hinaufsah.

»Sie blüht! Sie blüht!« schrie Piddl und tanzte vor Freude um die Blume herum, seine Blume, die er so lange behütet und bewacht hatte und die nun stolz und aufgerichtet ihre erste Blüte dem Lichte entgegenhielt.

»Klara!« rief er über die Holzplanke in den Nachbarhof hinein. »Klara, meine Sonnenblume blüht!«

Klara war die Tochter des Flickschusters Dinghammer, der in der benachbarten Kellerwohnung hauste. Mit ihr spielte Piddl am liebsten. Sie war ein Mädchen von zehn Jahren, mit einer Fülle schwarzbraunen Haares, das ihr ungeflochten über die eckigen Kinderschultern fiel. Sie besuchte dieselbe Schule wie Piddl, und sie gingen meistens den Schulweg zusammen.

»Sieh nur mal hin, da oben sitzt die Blüte!«

»Ja,« rief Klara erstaunt, »sie blüht!«

»Komm einmal 'rüber in unsern Garten,« rief Piddl. Er nannte den Hofplatz heute einen Garten. Es stand ja eine Blume darin, eine richtige, lebendige Blume!

Klara kam.

Noch einmal wurde die Sonnenblume bestaunt.

»Wie groß sie geworden ist!« sagte Klara.

»Und wie stark!« beteuerte Piddl, indem er den Stengel vorsichtig hin und her bog. »Ich glaube, es kann ruhig 'n Sturm kommen, sie knickt nicht.«

Auch Klara bog ihn ebenso vorsichtig ein wenig zur Seite. Leise schaukelte die Blume oben in der stillen Luft.

»Ein Sturm? Das glaub' nur nicht!« sagte sie wichtig, mit gerunzelter Stirn. »Stürme können Mastbäume brechen und Häuser abdecken.«

»Vielleicht kommt ein Vogel und baut sein Nest da oben unter der Blüte,« flüsterte Piddl und sah mit versonnenen Augen entzückt an der Blume empor, »'n Märchenvogel müßte es sein, weißt du, so 'n Paradiesvogel mit langen, goldigen Federn in den Flügeln und einer kleinen Federkrone auf dem Kopfe.«

»Wollen wir spielen?« fragte Klara.

»Wir könnten König und Königin spielen,« entgegnete Piddl, »der Garten ist unser Park, und das Schauer da ist unser Schloß.«

Auf dem Hofe stand ein alter hölzerner Kohlenschuppen, der die Residenz vorstellen sollte.

»Nein,« sagte Klara, »ich weiß was Besseres. Ich hab' ein Märchen gelesen von der Prinzessin Konandir, die hat einen Pagen, und alles, was die Prinzessin sagt, das muß der Page tun.«

»Und ich soll der Page sein?«

»Ja, und ich bin die Prinzessin Konandir. Du mußt mir meine Schleppe tragen!«

Mit spitzen, behutsamen Fingern faßt Piddl das Kleiderröckchen Klaras und schreitet gehorsam hinter ihr drein.

»Nun mußt du mir auch fächeln. Es ist eine so schwüle Hitze hier im königlichen Garten.«

»Womit soll ich dir fächeln?«

»Brich doch ein Blatt von der Sonnenblume ab. Das ist dann ein feiner Fächer.

»Eigentlich ist es schade!« meint Piddl und zögert.

»Aber der Page muß alles für die Prinzessin Konandir tun,« beharrt Klara ungeduldig.

Piddl gehorcht. Er bricht eins der großen Blätter von der Blume und bewegt es gehorsam vor Klaras Gesicht auf und ab.

»Nun gehe ich in meine Gemächer!« fährt Klara befriedigt fort. »Es ist Abend. Ich leg' mich in mein seidenes Bett, und du mußt vor meiner Tür schlafen und wachen.«

Sie geht mit zierlichen, trippelnden Schritten zum Kohlenschauer und läßt Piddl vor der Türe stehen, der sich davor niederhockt.

Nach einer Minute erscheint Klara von neuem.

»Du mußt mich fragen, ob ich auch königlich geruht habe,« flüstert sie Piddl zu.

»Hast du auch königlich geruht, Prinzessin?«

Klara nickt voll herablassender Gnade.

»Was für ein herrlicher Morgen es ist. Wir wollen einen Spaziergang durch meines Vaters Garten machen.«

Feierlich machen sie einen Rundgang durch den dunklen Hof. Piddl trägt gehorsam Klaras Schleppe.

»Nun pflück' mir Blumen, Page.«

Gehorsam bückt sich Piddl und pflückt in den dunklen Ecken des Hofes Rosen, gelbe, weiße, rote Rosen, einen vollen, herrlichen Strauß.

»Ah!« sagt Klara, »danke!« und nimmt den eingebildeten Strauß aus Piddls Hand. »Aber die schönste hast du vergessen!« setzt sie hinzu und blickt zu der Sonnenblume hinauf.

Piddl erschrickt. Das kann doch ihr Ernst nicht sein.

»Die Sonnenblume meinst du?« kommt es stockend aus seinem Munde.

»Ja, die!« erklärt Klara.

Piddl schüttelt den Kopf. »Laß sie doch blühen,« sagt er.

»Der Page muß alles für die Prinzessin tun,« entgegnet Klara. »Hörst du, alles!«

Piddl schweigt.

»Ich kann ja auch gar nicht daran!« erklärt er kleinlaut.

»Grade drum!« fährt Klara eifrig fort. »Im Märchen, das ich gelesen habe – du kannst das Buch einmal kriegen, es gehört Heinz Meiners –, da muß der Page eine Rose pflücken, die hoch oben an der Burgmauer blüht! Und unten ist der Abgrund! – Ich glaube, wenn du aufs Schauer kletterst, geht es.«

Piddl rührt sich nicht.

»Weißt du,« fährt Klara fort, »dafür hat der Page dann auch einen Kuß bekommen, und die Prinzessin hat ›Geliebter‹ zu ihm gesagt, und sie ist seine Braut geworden. Erst hat es der König nicht haben wollen, aber nachdem, als er gehört hat, daß der Page auch ein Königssohn gewesen ist, sind sie doch König und Königin geworden.«

Piddl ist glühend rot geworden.

»Krieg' ich auch einen?« fragt er, mehr um überhaupt etwas zu sagen, als aus Verlangen.

»Erst mußt du doch die Blume pflücken,« beharrt Klara. »Dann sage ich ›Geliebter‹ zu dir, und dann – ja!«

Sie bricht ab und sieht ihn aus ihren braunen Mädchenaugen unschuldig an.

Es geht nicht anders, er muß die Blume pflücken, wenn er ein Page ist, der seiner Prinzessin treu ergeben.

Gewandt wie eine Katze klettert er auf das morsche Bretterschauer, dessen Dach unter seinen Füßen verdächtig knistert und knackt und jeden Augenblick zu brechen droht.

»Jetzt bist du an der Burgmauer! Jetzt kommt der gefährliche Augenblick!« ruft Klara.

Piddl sagt kein Wort. Innerlich schwankt er noch. Die schöne, große Blüte! Wie sie leuchtet mit ihrem Kranze gelber Blumenblätter.

»Du bist wohl bange!« ruft Klara von unten herauf.

Da beugt er sich hinüber, um die Blume zu fassen.

»Der Abgrund ist unter dir!« ruft Klara, nun wieder ganz begeistert von der Situation. »Da oben hängt die Blüte. Nur an dem schmalen Felsrand kannst du noch einen Halt finden.«

Nun! Jetzt! Er hat sie gebrochen. Klara stößt einen Freudenschrei aus. Ihm ist, als hätte er ein Verbrechen begangen, wie er nun die große, tellerförmige Blüte in den Händen hält.

Kleinmütig und bedrückt klettert er vom Schauer wieder herunter.

»Nun bist du mein Geliebter,« sagt Klara und nimmt die Blüte entgegen. »Geleite mich in meine Gemächer.«

Mit Tritten, so zierlich, wie nur eine Prinzessin gehen kann, geht sie ihm voran in das Kohlenschauer.

»Du, es tut mir doch leid, daß wir die Blume abgebrochen haben,« sagt er leise, als sie beide im Dunkeln stehen.

»Ach was,« entgegnet Klara, »warum denn?«

»Nun hat die Blume kein Auge mehr,« flüstert er bedrückt.

»Tu doch nicht so,« sagt Klara, »wir haben doch so schön gespielt.«

»Ja,« sagt er, »schön war's wohl. Aber wie geht's nun im Märchen weiter?«

»Nun gebe ich dir einen Kuß, und dann bin ich deine Braut.«

»Aber,« stottert er leise – »du mußt nachher auch noch meine Braut sein, wenn – wenn wir nicht mehr spielen!«

»Ja, ist gut,« sagt sie.

»Weißt du,« tuschelt er, »eigentlich mag ich dich auch am liebsten leiden, und es paßt ganz gut, wenn du nun meine Braut bist.«

»Du mußt es aber niemand sagen,« flüstert sie.

»Du auch nicht.«

»Nein.«

»Auch Karl Langenberg nicht und Heinz Meiners auch nicht.«

»Nein, ja nicht.«

Dann ist es einige Augenblicke ganz still.

»Nun muß ich auch den Kuß kriegen, wenn du meine Braut sein willst,« fängt Piddl wieder an. »So ist das doch, wenn jemand eine Braut kriegt.«

»Ja,« bestätigt sie und gibt ihm einen.

»Na, dann wär' das abgemacht,« sagt er und tritt wieder in den Hof hinaus.

»Ja,« sagt sie und kommt auch mit gebücktem Kopfe aus der niedrigen Tür des Kohlenschuppens wieder heraus.

Verlegen stehen sie noch einige Augenblicke da, und dann geht Klara nach Hause.

»Adieu, Piddl!« sagt sie.

»Adieu, Klara!« antwortet er. – – –

Am anderen Tage ließ die Sonnenblume alle Blätter hängen. Schlaff und verwelkt hingen sie an dem hohen Stengel, der sich, halb umgesunken, schief an das Kohlenschauer lehnte.

Höhnisch standen die schwarzen Mauern und starrten auf die arme Pflanze, die sich so nach Licht und Sonne gesehnt hatte.

Piddl hatte Tränen in den Augen, als er es sah.

›Das ist meine Schuld,‹ dachte er. ›Ich hätte die Blüte nicht brechen dürfen.‹

Am Abend erzählte er es Klara.

»Ach was,« sagte die, als sie neugierig mit ihm auf den Hof trat, »siehst du denn nicht, daß eine Ratte da ihr Loch gemacht hat?«

Piddl schüttelte den Kopf. »Wir hätten die Blüte nicht abbrechen dürfen,« sagte er leise und scheu. »Sie hat die Sonne nicht mehr sehen können, und wenn einer Blume das Auge ausgebrochen wird, muß sie sterben.«

»Komm, laß uns lieber wieder auf die Straße gehen und spielen,« sagte Klara, der es bei Piddls Worten ordentlich ein wenig unheimlich wurde, »hier ist es so düster und still.«

Und dann lag der Hof wieder wie früher da. Drüben bei Riedemanns hing schmutzige weiße Wäsche auf der Leine, und die rauchgeschwärzten Hauswände starrten wie sonst langweilig und öde in die Höfe hinab. Oben aus dem offenen Fenster einer Etage drang das Schreien eines Säuglings kläglich in die Stille hinaus, und leise begann von dem niedrigen Abendhimmel, der grau über den Dächern hing, ein feiner Regen herabzurieseln, der in perlenden Tropfen an den welken Blättern der Sonnenblume niederrann, die den Kampf ihres Lebens aufgegeben hatte und müde und welk an dem schwarzen Kohlenschauer lehnte.


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