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Achtes Kapitel: Juni

Krank

Georg wachte des Morgens auf und dachte: Ach, nun bin ich auch krank! – Stirn und Schläfen schmerzten, er fror; er schluckte, und es tat ihm weh. Auf den Ellenbogen sich aufrichtend, fühlte er sich zerschlagen und müde, blinzelte gegen den Fenstervorhang, die Sonne schien draußen zu sein, aber dies Draußen, der Garten und alles war merkwürdig weit weg und als ob er nicht dazugehörte, sein Gehör schien dumpf und legte etwas Entfremdendes zwischen ihn und die Welt. Ich kann nicht nach Zinna fahren, murmelte er bitter, vielleicht gehts mit ihr heut zu Ende, aber ich kann nicht. Und er dachte, wie glücklich er sein würde, wenn es wirklich zu Ende … Glücklich, – ja, er ertappte sich, aber es war so, und wider Willen fügte er schon hinzu: Wenn sie nur stürbe! Wenn sie nur stürbe! – Er zog die Decke über die Ohren, glühte und schauderte frostig ineins, wälzte sich herum, lag minutenlang halb dämmernd. Dann rief ein Geräusch ihn zu sich, der Diener mußte eingetreten sein, er drehte sich um und sah einen menschlichen Schatten in der Dämmrung zum Fenster gehn.

»Lassen Sie zu, Egon!« sagte er, »ich stehe nicht auf, ich bin krank.«

Der Diener kam leise ans Bett, Georg richtete sich auf. Die dunklen Augen, das blasse Gesicht des jungen Burschen sahen ängstlich auf ihn herunter.

»Keine Angst, Egon,« sagte er lächelnd, »es ist nur ein bißchen Halsentzündung, oder Influenza,« er räusperte sich, es tat scheußlich weh, »aber ich will einen Doktor haben. Kranksein ist gemein, Egon, ich will sofort wieder gesund werden, wissen Sie einen Doktor?« Egon wußte keinen. »Ich auch nicht, dann fragen Sie, – rufen Sie bei –« Er besann sich. Es braucht ja keiner zu wissen, daß ich krank bin, – »also rufen Sie gegen neun bei Dr. Herzbruch an, im Verlag, und wenn er einen Doktor weiß, – der wird ja Telephon haben, – dann rufen Sie auch gleich an und bitten ihn herzukommen. So, gehn Sie aber erst ins Badezimmer und lassen Warmwasser in die Wanne, und wenn ich drin bin, machen Sie hier Durchzug.«

Der Diener ging. Bald darauf zog Georg die Füße unter der Decke hervor, saß einen Augenblick frierend auf dem Bettrand und fühlte sich aus der Welt herausgenommen und in Krankheit gekleidet. Draußen war alles leicht und natürlich, aber sein Wesen entstellt, verfremdet und peinlich. Er schlürfte hinüber, spülte sich Körper und Mund und war froh, im Zimmer wieder unter was Warmes kriechen zu können. Ach, dachte er, so war es damals genau, als ich die Masern kriegte! Mitten im Tag fings an, ich wurde ins Bett geschickt, und wie ich da auf dem Bettrand saß und fror und alles so weit weg war und Altelinda mir die Stiefel auszog und ich so schwer war am ganzen Leib und unbeschreiblich sehnsüchtig, ins Bett zu kommen und den dumpfen Kopf ganz tief ins Kissen zu stecken, – ja all das war genau wie jetzt; eigentlich war es herrlich. Ach, wie geborgen war man in seinem Bett als Kind! »Ist noch was, Egon? Frühstück? Nein, ich mag nichts, aber die Post, nein, keine Post, aber die Zeitung, ja, und dann – rufen Sie auch gleich, oder – wie spät ist es denn? Halb acht? Also rufen Sie in einer Stunde bei Frau Dr. Schley an: ich hätte, – ach, warten Sie damit, bis der Doktor dagewesen ist!« Egon entfernte sich, Georg rief ihm nach, er sollte die Tür halb offen lassen.

Nun lag er still auf der linken Seite und blinzelte durch die Türöffnung ins Nebenzimmer. Da war ein Stück vom Schreibtisch, mit Aktenstößen, und das Fenster, und die Falten der Vorhänge, und draußen die Sonne und das Sommerliche, ein Stück Teppich unten, und all das so anders als sonst, so ganz für sich und ohne ihn. Er hörte Schritte auf dem Flur, Türen, im Eßzimmer eine Schranktür, deutlich alles und doch ganz dumpf und immer vermischt mit seinem Frostschaudern und Fiebern und dem Herben in der Nase und der Stirnhöhle, und das Ganze wiederum doch nicht unbehaglich. Die Tür ging leise, eine schwere Frauenfigur kam ans Bett und stand still, er öffnete die Augen und lächelte. »Oltsche,« sagte er, »ich sterbe, mit mir hats nun ein Ende, Sie stehen im Testament.«

Die Hausmeisterin schlug die Hände zusammen und sagte: »Nein, sowas! Und wo unsre Prinzessin auch schon –« Georgs Husten übertönte das Übrige, die aufgeregte Alte klopfte ihm die Kissen zurecht, er streckte sich aus und bat sie, ihm die Zeitung zu geben. Sie ging und kam wieder mit dumpfen, weichen Schritten, fragte noch, ob er denn gar nichts essen wollte, und war leise hinaus. Georg setzte sich auf und riß die Zeitung auseinander. Es war fast zu dunkel zum Lesen, er hielt die gedruckte Seite zum Licht hin, fand die fettgedruckte Zeile: Das Befinden der Prinzessin Sigune, – die Buchstabenketten fielen auseinander, er raffte sie herzklopfend zusammen und las:

»Im Befinden der Prinzessin ist seit gestern keine Änderung eingetreten. Eine persönliche Anfrage unsrer Redaktion bei Herrn Professor Dr. Bosse bestätigte uns die traurige Gewißheit, daß es sich nicht um die häufigere Art Meningitis, sondern um tuberkulöse Gehirnhautentzündung handelt. Das Bewußtsein ist seit fünf Tagen nicht wiedergekehrt, die Nackensteife …« Georg konnte nicht weiterlesen. – Sie muß sterben, sie muß sterben, vielleicht ist sie schon tot, sagte er unaufhörlich, krampfhaft bemüht, dabei nichts zu empfinden und Mitleid hervorkommen zu lassen, und er erzwang das Mitleid durch den Gedanken, daß sie fürchterliche Kopfschmerzen gelitten hatte und nun aus irrem Dunkel ins tiefere hinüberschlafen würde. Er sah sie im Bett liegen, steif, das Gesicht hintenübergebogen, bleich und ohne die Augen schon gar nicht mehr kenntlich für ihn, der sie kaum kannte. – Nun ließ er die Zeitung an die Erde gleiten, wickelte sich bis an die Ohren in die Decke, fühlte die glatte Trockenheit und Hitze seiner Beine und zwang sich, nichts zu denken.

Stand jemand am Bett? Egon sagte, er habe im Herzbruchschen Büro angefragt –. »Ja, wie spät ists denn schon?« – Es sei gleich zehn Uhr. – Ach, er hatte geschlafen. – Der Arzt heiße Dr. Birnbaum, am Theaterplatz, er würde gegen Mittag kommen. – Birnbaum? Aber Onkel Salm – Sigurd –, sie hatten doch keine Verwandten in der Stadt … »Haben Sie Herrn Prager Bescheid gesagt?« Ja, und er ließe fragen, ob er herüberkommen sollte. Ja, Georg ließe bitten. – Egon nahm die Zeitung und trug sie weg.

Benno kam und benahm sich genau wie die Menschen an Krankenbetten, lächelte, tat hoch erstaunt und sagte, was Georg für Geschichten machte; er war fremd und irgendwie kalt und frisch. Georg bat ihn, sich mit Zinna verbinden zu lassen und anzufragen, wie es stünde. Er hörte ihn nebenan sich mit dem Telephon beschäftigen, ohne Worte zu verstehn, durch das ferne Klingen und Summen in seinem Gehör. Dann setzte Benno sich still neben Georgs Bett und schwieg sich teilnahmsvoll aus. Als er gerade etwas zu sagen anfing, schrillte das Telephon laut auf, Benno ging hin, Georg wollte nichts Unverständliches hören und verschloß die Ohren. Wenn sie schon tot ist, – wenn sie schon tot ist … dachte er. Endlich kam Benno. Es stünde sehr schlimm, sagte er bekümmert, sonst sei nichts zu sagen.

»Ach, Benno,« sing Georg nach einer Weile an, »wie war es doch schön, wenn man krank war als Junge!«

»Ja,« sagte Benno begeistert, »wie gut sie gleich Alle waren! Jeder kam herein und machte einen Scherz, mittags kam Vater, legte einem seine große, kalte Hand um die Wange, faßte mit sonderbar harten Fingern nach dem Puls und sagte, es würde schon werden.«

»Hattest du je Masern, Benno?«

»Masern?« Bennos Stimme überschlug sich, »es war herrlich, ganz herrlich! Man war ganz gesund, bloß im Bett mußte man sitzen, und ich lag mit meiner Schwester in einem Zimmer, die hatte sie natürlich auch, und es war herrlich. Kleine, gebratene Tauben bekamen wir zu essen und alle Tage Apfelmus, so ganz seimig, und eine herrliche Bouillonsuppe, die war aus Sago und ganz goldklar, das war die Krankensuppe, Gott, den Geschmack kann ich jetzt noch spüren und den winzigen Knochensplitter, der drin war.«

»Und die Stille, Benno, weißt du noch? und wie es sang in der Stille, und wie man stundenlang lag und das Muster der Tapete verfolgte, und die alltäglichen Geräusche draußen, die so anders klangen und so weit entfernt, auf der Treppe und nebenan, und man kannte sie doch nicht …«

»Und dann bekam man die herrlichsten Spiele mitgebracht, oh Georg, Geduldspiele aus ganz blanken Klötzen, unbeschreiblich neu und glänzend, grüne Würfel und rote und – nein, das war ja alles gar nichts gegen die Flechtarbeiten! Hast du nie Flechtarbeiten gemacht? Ich will es dir erklären: Erst kam Glanzpapier, das mußte auf der Rückseite liniiert werden und in schmale Streifen geschnitten, aus denen wurde das Muster geflochten, aber dies Glanzpapier, das vergesse ich nie! Es gab silbernes und goldnes, aber das war nicht das Schönste. Das Schönste war tiefdunkelrot, wie Samt, aber dabei war es so himmlisch glatt und knitternd, obgleich es ganz dick aussah; das Hellgelbe war auch schön, aber eigentlich unangenehm; es gab hellblaues und dunkelblaues, das rosa war so beißend, herrlich war auch das Dunkelgrüne; das war wie ein ganzer Tannenwald …« Bennos Stimme verhauchte hingebungsvoll.

»Nein, das hatte ich nicht,« sagte Georg, »aber ich hatte ein Reißbrett …«

»Ein Reißbrett?« jauchzte Benno, »ich hatte auch ein Reißbrett, weißt du noch –«

»Wie es ganz hart war, Benno, und eckig, wenn es in die weichen Kissen gedrückt wurde, über den Schenkeln und gegen den Unterleib, fühlst du das noch?«

»Und wie man nicht dran dachte, und es ganz schief wurde, wenn man die Knie anzog, und alles rutschte herunter!«

»Und der Suppenteller, die Suppe floß über, und das war so klebrig und warm … Oh mein Reißbrett hatte Onkel Salm erfunden, der schleppte es an, es war in Trassenberg, er saß immer bei mir und baute Zinnsoldaten auf, mein Vater hat eine riesige Sammlung, zwanzigtausend sind es, glaub ich, die Schlacht bei Lützen konnte man machen, und die Schlacht bei St. Privat und bei Waterloo.«

Benno lächelte beseligt mit Georg. »Ich hatte auch Zinnsoldaten,« flüsterte er, »jede Weihnachten bekam ich eine Schachtel, sie waren oval und aus Span, auf dem Deckel war ein weißblaues, rechteckiges Etikett, und beim Auf- und Zumachen schnurpste der Deckel wundervoll!«

»Und drinnen, Benno, drinnen lagen sie ganz still und blank, die Fußbretter am Rand, die Gewehre und Fahnen nach innen, ganz kostbar, immer nur drei oder vier in einer Schicht und dazwischen ovale Blättchen aus so einem Papier … einem Papier …«

»Ein herrliches Papier!« hauchte Benno, »es war wie Löschblatt, aber dünner und fester und ganz weich …«

»Ja, ganz weich,« sagte Georg vor sich hin und sah die blitzenden, unbemalten Säbel und Bajonette und die glänzenden braunen, schwarzen und weißen Pferde, die blauen, roten und grünen Lackfarben der Monturen zum Vorschein kommen. Trommler gingen voran und Fahnenträger, schräg nach vorn geneigt, die Fahne hoch in der Hand, die reitenden Trompeter bliesen immer nach rückwärts, sie bliesen das Signal zum Vorgehn, ja, Onkel Salm machte es mit dem Munde, es war völlig natürlich, und es klang so aufreizend: Tötötötö, tötötötö, tötötötö … Und dann wurden sie aufgestellt nach dem Lineal, in der vordersten Reihe die Knieenden, dann die Chargierenden, damals sagte man noch chargieren, genau ›auf Luke‹, und im dritten Gliede die stehend Schießenden. Bei jedem Regiment war ein Gefallener und einer, der grade hintenüberfiel. Oh es gab Schotten in roten Röcken und mit schottischen Unterröcken, mit Dudelsackbläsern, – die Artillerie war immer etwas unangenehm, weil sie im Schritt ritt, die Kavallerie galoppierte mit geschwungenen Säbeln, die Ulanen mit eingelegten Lanzen, und wie war nur alles kostbar und selten, und wenn sie alle aufgestellt waren, mußte man von der Seite gegen die festgeschlossenen Formierungen sehn, und Beine und Gewehre und Arme und Köpfe waren in einer Linie …

Sie sprachen nicht mehr, sie träumten … Abends kam die Lampe, wie sah man sie zum ersten Mal, ihr stilles Licht, sie stand anders im Zimmer als sonst, weit fort von einem, und alles lag im Schatten; das Muster der Tapeten sah wieder anders aus, dann kam die Abendsuppe, die mußte der gute Doktor immer selber machen, Wassersuppe von Sago wars, ganz klar und schön sanft grau. Dann entkorkte er feierlich die Weinflasche, hielt einen silbernen Löffel über den Teller und goß den roten Wein darauf, bis er überfloß in die Suppe, und dann lief das dunkle Rot im Grau aus, es gab einen wunderbaren purpurnen Fleck, dann wurde gerührt, und die Suppe war herrlich rot. Der Löffel war kleiner als ein Erwachsenenlöffel, hatte eine punktierte Linie am Rande des Stiels und hieß: der Kinderlöffel. Georgs Kinderlöffel. Jeden Tag kam Mama für zehn Minuten und erzählte etwas Lustiges …

Die lange schwere Locke an ihrem Hals, – ich durfte sie ganz vorsichtig anfassen. Ich wunderte mich im stillen, wie kühl ihr Hals war, aber die Locke war doch das Schönste auf der ganzen Welt. Magda hatte Puppen, deren Locken faßte ich auch an, aber es war nichts damit. Ja, diese Locke war lebendig; sie ringelte sich um den Finger, und man mußte unendlich vorsichtig sein, daß man ja nicht daran zog, und doch durfte man es. Mama erzählte vom Hühnchen und Hähnchen, vom Ei und der Stecknadel. Wie schön war Mama! – –

Georg fühlte, daß sein Kinn zitterte, und daß es ihm dick im Halse wurde. Damals war ich glücklich, dachte er, und seitdem nie wieder. Damals wußte ich nicht, und heute weiß ich alles, alles.

Da saß Bennos Schattenriß, nah, dunkel und hoch vor der gelblichen Helle des Fenstervorhangs. Georg schob sich tiefer im Bett, steckte die kalt gewordenen Arme unter die Decke, zog sie fröstelnd hoch; sein Kopf schmerzte heftig, er wollte sich einwickeln und eindämmern wie als Kind. – Als er nach einer Weile die Augen öffnete, sah er Benno auf den Zehen an der Tür, ihm fiel ein, seinem Vater Bescheid sagen zu lassen, daß er heute nichts … »Sei so gut, Benno, und sage in Trassenberg Bescheid. Du kannst dich ja vom Hausmeister verbinden lassen. Dr. Birnbaum sollte heut nicht kommen. Ich könnte heut nichts Geschäftliches besprechen, wenn Unterschriften wären, könnten sie vielleicht mit einem Kurier geschickt werden, und sonst auch was Wichtiges …«

Nun war alles still. Vom Schreibtisch her tickte die Uhr sachtsam vor sich hin. Gunny, sagte die Uhr, Gunny, Gunny … Jetzt starb sie vielleicht. Kein Mensch wußte mehr, was in ihr war.

Ein helles Klingen sprang in seinem Ohr auf, er fühlte, daß er geschlafen hatte, dann merkte er, daß nebenan die Korridortür geöffnet und jemand die Stufen herabkam, der aber nicht sichtbar wurde. Dort waren jetzt die Vorhänge geschlossen, eine Wand von Sonnenstäubchen stand golden vor dem Schreibtisch, darin erschien Egon und meldete: »Herr Doktor Birnbaum.«

Georg setzte sich auf, ließ sich Kamm und Bürste geben, ordnete sein Haar und ließ den Doktor hereinbitten. Da fühlte er wieder dies Andre: im Bett zu liegen am hellen Tage und jemand von draußen hereinkommen zu sehn, frisch und luftig und kalt, den Doktor, der ein kleiner zierlicher Mann war mit rundlichem Kopf. Als er vor Georg stand, zeigte er ihm ein rechtes Arztgesicht mit einem kleinen borstigen Schnurrbart, etwas quellenden, gelblichen Augen hinter einem goldenen Kneifer und dünnem, gescheiteltem Haar, an der gebogenen Nase als Jude kenntlich, und wenn er sprach und lachte, wurde sein Gesicht ein wenig eulenhaft. Hin und wieder kniff er nervös die Augen zusammen, freundlich sprechend, ein bißchen witzelnd, er freue sich ja sehr über Georgs Krankheit, nun würde seine Praxis noch mal so groß aufblühn, denn sterben würde er ihm ja wohl nicht. Georg lachte, er hätte nicht die Absicht. »Na, denn wolln wir mal sehn«, sagte der Doktor, Egon mußte den Fenstervorhang öffnen und einen Löffel besorgen. Der Doktor fühlte den Puls, sagte: »Zwischen acht- und neununddreißig«, ließ sich von Georg sagen, wo er Schmerzen habe, dann kam der Löffel, Georg mußte den Mund aufsperren, der Löffelstiel fuhr kalt und bitter schmeckend hinein, Georg krächzte: Oh oder Ah! Der Doktor kratzte mit dem Löffel im Hals, Georg konnte sich wieder hinlegen und zudecken.

Ja, es wäre eine kleine Mandelentzündung, ganz ungefährlich, Diphtheritis sei nicht zu erwarten, der Belag sei leicht zu entfernen, in ein paar Tagen könnte es schon vorbei sein. Ob das Herz in Ordnung sei? – Da Georg verneinte, verlangte der gründliche Doktor, daß er die Jacke auszöge, und klopfte ihn mit größter Sorgfalt ab. Es wäre alles halb so schlimm, meinte er dann, aber er sollte doch lieber nur eine Aspirintablette nehmen, dreimal täglich. Tscha, und einen Strumpf um den Hals, wenigstens nachts und mit Wasserstoffsuperoxyd gurgeln. Da Georg betonte, daß er so schnell wie möglich gesund werden müßte, meinte er, das hinge ganz von ihm ab; Ruhe, wenig essen, leichte Sachen – Sagosuppe mit Wein, sagte Georg – ja, auch Gebratenes – kleine Tauben, dachte Georg – und solange er sich krank fühlte, sei er eben krank, und wenn er sich gesund fühle, sei er wieder gesund. Egon stand all die Zeit daneben, seine dunkle widerspenstige Haarwelle in der Stirn, und sah alles besorgt und genau mit an.

Das war erledigt. Um noch etwas zu sagen, fragte Georg den Doktor, ob er vielleicht mit dem Studenten Sigurd Birnbaum verwandt sei. Der Doktor lachte, daß sein Schnurrbart zitterte, kniff die Augen zusammen und sagte:

»Pirnbaum, Durchlaucht, Pirn, mit hartem P, nein, mit Sigurd bin ich nicht verwandt, aber ich kannte die Beiden schon als kleine Kinder. – Ja, die arme Esther, das war ein böses Ende!« Ob er von Sigurd noch hörte. – Jetzt seit langem nicht; er sei in Rußland, in Odessa.

Der Doktor schien zum Gehn bereit, sagte dann aber: »Darf ich noch was fragen?« »Ja, aber bitte!« »Ach, Sie haben so eine wunderschöne, so eine wunderschöne Miniatüre auf dem Schreibtisch, wenn ich die einmal sehn dürfte?«

Georg winkte Egon. – Aber gerne! ob er sich dafür interessierte? – Der Doktor rückte an seinem Kneifer und lächelte, – Georg dachte: als hätte ich ihn gefragt, ob er was von Diphtheritis versteht. – Egon brachte die Miniatüre von Georgs Mutter. Der Doktor nahm den Kneifer ab, rieb die etwas geschwollenen Lider, brachte die runden Augäpfel ganz dicht an das kleine Bildnis und betrachtete es ungemein sorgfältig.

»Es ist meine Mutter,« sagte Georg, »als junges Mädchen.«

Das sei wunderschön, ausgezeichnet gemalt, wie man es gar nicht mehr zu sehn bekomme. Er habe eine kleine Sammlung von Miniatüren, so hundertundfunfzig Stück, ja, er sei ein Kenner davon, lachte er.

»Miniatüren«, sagte Georg, »könnte ich auch sammeln, es ist eine wundervolle Art Kunst und wieviel schöner, im Grunde doch wieviel lebensvoller als unsre farblose Photographie trotz des Reizes des Augenblicks. Aber so ein Bild kann ich immer ansehn, es hält den Blick so ruhig aus, und sehen Sie nur die feine, durchsichtige Spitze auf der Brust, und die Locke, wie sie gemalt ist!«

Der Doktor sagte, er habe eine ganz ähnliche aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, deshalb sei ihm diese auch aufgefallen. – Georg hörte ihn noch einiges sagen, jedoch von fern, ohne zu verstehn; sein Traum regte sich in ihm, er fühlte sich wieder weinen mit Cordelia – oder war es Esther gewesen? –, sah die sonderbaren dunklen Zimmer voller Menschen und dann Renate, nein, Dora Vehm, aber auch deren Gesicht war nicht ganz das Doras, sondern fremde Züge waren darin … Da sah er den Doktor sich vom Stuhl erheben, reichte ihm die Hand, bedankte sich und bat ihn zu erlauben, daß er sich einmal seine Sammlung ansehe, später, jetzt sei ja …

Ach, ja der Prinzessin gehe es ja so schlecht, aber es sei wohl noch nicht alle Hoffnung verloren … Georg murmelte irgend etwas, der Arzt ging.

Hatte sie nicht diese Locke gehabt im Traum? Aber wie seltsam sein Herz erregt war von dieser Frau! Ich muß sie geliebt haben im Traum, ich empfinde noch ganz diese Süße … Die Träume machen aus uns, was sie wollen, murmelte er und verkroch sich frierend.

Egon erschien mit Fragen wegen des Essens. Er sagte ihm Bescheid, trug ihm dann auf, bei Frau Dr. Schley anzurufen, zu sagen, daß er mit einer leichten Mandelentzündung zu Bett liege, und zu fragen, ob sie nicht kommen könnte.

Die Augen fielen ihm wieder zu, aber im Eindämmern störte ihn Egon mit der Meldung, es täte der gnädigen Frau ganz schrecklich leid, aber Herr Doktor käme am Nachmittag aus Berlin, und sie würde nicht vor fünf, halb sechs da sein können. – Ach, das war elend! Schlafen, dachte Georg, schlafen! Seine Schläfen glühten, die Gedanken fingen an, rasend zu arbeiten, er träumte oder phantasierte, er war an hundert Orten, sah Menschen über Menschen, Gesichter, die er nie gesehn, schwebten auf ihn zu, bewegten, verzerrten sich, manchmal nur Gebärden, Begriffe von Gebärden, ein wüstes Wirrsal, aus dem er in ein andres von Versen, Versstücken und Gedichten stürzte, erhitzten Gehirns, stumpf daliegend, aber aus diesem erlöste ihn plötzlich Jason al Manachs freundliche Gestalt. Wie er ihn einmal am Abend im Park getroffen hatte, sah er ihn wieder: er saß, einsamer anzusehn als andre Menschen und doch nicht so verschlossen in sich, nicht so belastet mit Einsamkeit, sondern ganz leicht, auf der Bank auf der kleinen Anhöhe, über die niedre Böschung und die Hecke zu seinen Füßen in die Wiesengegend hinüber schauend, aus denen Abend dunkel und Nebel weißlich aufstiegen. Und auf Georgs gedankenlose Frage, was er tue, hatte er wieder gefragt, ob er Libussa von Grillparzer kenne, und da Georg verneinte, fing er gleich den wundervollen Eingang des Stückes an, – Georg entsann sich wieder:

Ihr Götter! ist es denn wahr und wirklich so?
Daß ich im Walde ging … am Gießbach …
Und nun ein Schrei in meine Ohren fällt,
Und eines Weibes leuchtende Gewande,
Vom Strudel fortgerafft, die Nacht durchblinken.
Ich eile … und trage …
Die Beute, kalte Tropfen regnend,
… und ich löse
Von ihren Füßen selbst die goldnen Schuhe,
Und breite aus den schwergesognen Schleier,
Und …

Ach! Jason! sieh! da saß er ja auf dem Stuhl am Bett und sah kühl und angenehm aus. »Eben dachte ich noch an Sie,« sagte Georg erfreut – »erinnern Sie sich noch, wie Sie mir einmal Libussa vorgesprochen haben? Wir haben uns lange nicht gesehn, wo kommen Sie her?«

Jason, die schwarzen Augen mit großer Ruhe auf ihn gerichtet, sagte:

»Man sage nicht, das Schwerste sei die Tat,
Da hilft der Mut, der Augenblick, die Regung;
Das Schwerste dieser Welt ist der Entschluß.
Mit eins die tausend Fäden zu zerreißen,
An denen Zufall und Gewohnheit führt,
Und, aus dem Kreise dunkler Fügung tretend,
Sein eigner Schöpfer zeichnen sich sein Los.«

Im nächsten Augenblick war er völlig verschwunden.

 

Georg erwachte. Der warmen, sonnigen Dämmerung nach mußte es schon Nachmittag sein; er fühlte sich leichter und freier und sah zu seiner Verwunderung auf dem Nachtschrank eine Medizinflasche und eine Glasröhre mit Aspirintabletten liegen, in der beim Nachsehn eine fehlte; da auch die wasserhelle Flüssigkeit in der Flasche angebrochen war, mußte er gegurgelt und Aspirin genommen haben, konnte sich aber durchaus nicht entsinnen. Auf sein Klingeln erschien statt Egons Frau Vögelein, mütterlich verhaltenes Zufriedenheitslächeln in den Augenwinkeln, weil er so gut geschlafen habe; es sei schon drei Uhr durch, ob er denn nun etwas essen möchte. – Georg mochte, und richtig bekam er zwar keine ganze Taube, aber die fein zerlegten Bestandteile davon, Keulen, Flügel und zarte, weiße Brustschnitzel; er hätte viel um ein Reißbrett gegeben, – der Stuhl, von dem er essen mußte, war recht kümmerlich.

Danach ließ er von Egon und dem Hausmeister sein Bett ins Arbeitszimmer stellen, an die Wand des Schlafzimmers, das Fußende an dessen Tür entlang, die ausgehängt werden mußte. Das war nun sehr angenehm. Der große Vorhang konnte ein wenig gerafft werden, er sah den sinnenden Borgia dunkel sitzen, sah die nachmittägliche, sonnige Juniwärme im Garten, hörte die Spatzen lärmen und fühlte sich äußerst behaglich in der leichten Dumpfheit seines Gehirns.

Das Schwerste dieser Welt ist der Entschluß …

Woher stammte das? Hatte das Jason gesagt? – Sie hatten von Libussa gesprochen, richtig – vielleicht war die Zeile aus Libussa. Da fiel ihm ein, wie er vor langer Zeit einmal in Musäus' Volksmärchen Libussa nachgelesen hatte, Renates wegen, und – jetzt hab ichs! frohlockte er, jetzt hab ich meinen Festzug und das Spiel! Er dachte, wie er sich den Kopf zerbrochen hatte, um für den üblichen historischen Festzug am Tage der Regierungsübernahme etwas Andres zu erfinden; Renate mußte dabei, mußte Glanz und Zentralsonne des Ganzen sein. Also Libussa! Nun schossen Szenen und Ideen von allen Seiten herbei. Libussas Wahl zur Herzogin von Böhmen, dann die Aussendung des weißen Rosses, ich werde Primislaw – nein, das wird nicht gut gehn, ein Schauspieler muß ihn in meiner Maske darstellen, zuletzt werde ich an seine Stelle treten und mit Renate zusammen die Huldigung des Volkes an uns vorüberziehn lassen, Gilden, Zünfte, Wagen, Söldner, oder Ritter – ja, welche Zeit war denn das eigentlich? Um tausend oder so – und wo sollten die Szenen gespielt werden? Ein altes Schloß konnte auf dem Gehrdener oder Benter Berge leicht gebaut werden, – herrlich, wenn das weiße Pferd über die Sommerwiesen bergauf kommt, zwei Reiter müssen es an langen purpurnen Riemen unmerklich lenken, – dann Renate, auf hohem Festwagen, an der Spitze des Zuges in die Stadt hineinrollend, und die Huldigung – vom Schloß aus – unmöglich, es hat keine Terrassen, das Theater hat eine schöne, aber die Anlagen davor – –, die werden beseitigt – und es sieht ja wie ein griechischer Tempel aus – dorische Säulen – ah, die werden mit Rabitzmauern verbaut und in ein Schloß verwandelt, und Renate – – und Sigune?

Sigune lag im Sterben. Sie mußte sterben, jeder sagte es ja, wenn auch nicht mit Worten. Ließ sich denn leugnen, daß es gut sei, für sie und für ihn? Konnte sie je glücklich, je zufrieden werden neben ihm? Mußte sie ihn nicht täglich … ach, wozu, wozu das denken? Sie blieb leben, dann mußte es ertragen werden, oder sie starb – sie starb …

Und recht behielten die Sterne …

Georg fuhr zusammen, dicht über ihm, noch ihm ungewohnt, wurde die Tür geöffnet, Egon kam eilig die Stufen herab und flüsterte: »Seine Durchlaucht …« Georg warf sich im Bett herum und schrie: »Halloh!«

Wahrhaftig, da kam sein Vater den Gang herauf, er ging ja immer aufrechter und leichter! – stand gleich darauf riesengroß und hoch über Georg in der Tür, lachte und sagte: »Was sind denn das für Geschichten?« Er war auch schön frisch und kühl und hatte pikfeine, hellgelbe Schwedenhandschuhe angezogen. Georg schimpfte nun aus Leibeskräften, der Herzog wurde ganz verlegen und entschuldigte sich vielmals. Es sei ja aber ein Katzensprung im Automobil herüber … Georg versicherte, wie glänzend es ihm schon wieder ginge, bloß das Schlucken täte noch weh, und überdies sei es köstlich im Bett zu liegen. »Heute morgen«, sagte er, »habe ich mir mit Benno erzählt, wie es war, wenn wir als Jungens krank waren, er hatte Flechtpapier, und ich hatte Zinnsoldaten, aber ein Reißbrett hatten wir Beide, und das war das Schönste. Nein, das Schönste« – Georg stockte innerlich – »war Helenes Locke, nein, die werde ich nie, nie vergessen …«

»Die arme Helene …« sagte der Herzog.

Sie schwiegen und sahen aneinander vorüber. Aber Georg wußte, sie brauchten sich nicht anzusehn, ihrer beider Hände lagen wie an einem dehnbaren, festen Reifen an dem gleichen unnennbaren Gedanken, und – so war alles gut.

»Und Sigune?« fragte der Herzog. Georg, innerlich die Zähne zusammenbeißend, sah seinem Vater in die Augen und sagte: »Ich fürchte – es geht zu Ende.«

Der Vater antwortete nicht; aber was sie dachten, war wohl wieder das gleiche …

»Und wie ist es … giebts etwas Neues, Papa?« begann Georg nach einer Weile.

Von Wichtigkeit nichts Besonderes, meinte sein Vater. Von der guten alten Beuglenburgschen Sippe habe nun auch der Letzte sich entfernt, der gute, uralte Amtshauptmann Wahrendorff; er habe ihm selber, da sie sich ja lange kannten, geschrieben, daß er sein Entlassungsgesuch eingereicht habe. Im ganzen handle es sich nun also um fünf neue Männer, die zu beschaffen wären, denn Kultus und Landwirtschaft müßten ja nun vom alten Ministerium des Innern abgespalten werden.

»Birnbaum übernimmt die Finanzen, ich will es so,« sagte der Herzog, »ein Strohmann, der den Titel und die Orden umherträgt, findet sich überall.«

Ob er schon für den Amtshauptmann jemand in Aussicht habe? Sein Vater meinte, er hätte genug, immerhin sei die Auswahl schwierig. Georg lachte plötzlich und meinte:

»Wer wird denn nun eigentlich hier der Großherzog und wer der Strohmann mit Orden und Titel und so? Ich sehe mich schon in den Krankenhäusern und bei Grundsteinlegungen umherfahren und verbindlich lächeln, während im Hintergrunde der Papa ›am sichern Schreibtisch sitzend Opus hinter Opus aufs Papier wirft‹, wie unser Morgenstern so herrlich sagt.«

»Ich verbürge mich dir,« schwor der Herzog, »nach spätestens einem Jahr ziehe ich mich nach Lesum zurück und veredle Schafe und Hühner.« Georg lachte, bis er heiser wurde. – Jawohl, Georg würde schon sehn, wie ihm im Beuglenburgschen Saustall Nase und Atem vergingen. Ob er schon irgend etwas von Kalibohrung verstünde! Ob er eine Ahnung hätte, wie die Kaliförderung in Wiedehopf und Zainhammer sich wieder hochbringen ließe? Wie viele neue Eisenbahnlinien er – etwa – im Auge habe. Und was er von Eisen-, Kopfstein- oder Holzpflasterung denke für Beuglenburg? Wie viele und welche Kanäle er zu ziehen gedenke? Und die Deiche, die alten, hundertmal geflickten Deiche? Und Raschwege, das Gestüt, das einmal berühmt war?

Georg ließ alles fröhlich über sich ergehn und sagte, er wüßte einen Amtshauptmann. »Schley heißt er, das heißt seit gestern; vorgestern hieß er Freiherr von Schley-Schleyenburg, sein Vater hatte eine Wagen- und Pumpenfabrik und kaufte den Adel von Beuglenburg für eine Kleinkinderbewahranstalt oder dergleichen. Es ist ein Korpsbruder von mir, hat den Adel fortgelegt, war Assessor und ist jetzt fortschrittlicher Abgeordneter. Wir haben uns seit einiger Zeit sehr angefreundet, das heißt, eigentlich bin ich mit seiner Frau befreundet, aber wir haben uns in endlosen Nachtgesprächen ungemein schätzen und kennen gelernt. Ich war auch einmal auf die Dörfer mit ihm zu einer Wahlversammlung, und da habe ich das gesehn, weshalb ich ihn dir vorschlage, nämlich die wundervolle Art, wie er mit den Leuten umzugehn weiß; weder leutselig, noch so grob auf du und du, sondern fein teilnehmend und – nun, das läßt sich eben nicht beschreiben; er hat die Gabe – du hast sie ja auch –, aus jedem Menschen gleich das Beste herauszuholen, und ist überhaupt unwiderstehlich. Genügt das? Den Reichstag hat er satt, also –?« Sein Vater stand auf und setzte sich an den Schreibtisch, um Namen und Daten aufzuschreiben.

Georg blickte verträumt ins Freie hinaus. Dort, in greifbarer Ferne, lag sein Großherzogtum, so fest, so schwer und massig wie hier der Rücken und Kopf seines Vaters am Schreibtisch, und es würde eine herrliche Zeit anbrechen. Keine Träume brauchte es mehr zu geben, zwischen allen Fingern spürte er schon das Gewimmel der tausend großen beweglichen Gegenstände, – wie der Odem eines Tieres, heiß und wild, schnob ihn der neue Atem gesammelter Handlungen an, Land brodelte, im unterirdischen Raum stampfte die geheizte Maschine, durch ihren unsichtbaren Dampf blickten die gesicherten Sterne, einverstanden und wohlgefällig …

Wenn aber Virgo kommt, muß Papa fort sein, durchfuhrs Georg. Ich will ihn zu Renate schicken, er scheint sie ja sehr zu lieben und kann dort eine schöne Rede auf mich halten. »Ja, wie ist es nun, Papa,« sagte er, als sein Vater sich mit dem Stuhl herumsetzte, »glaubst du nicht an die Möglichkeit, daß du mir jetzt im Wege sein könntest?«

Der Herzog kniff das linke Auge zu. »Eine Dame«, sagte er und nickte langsam und voll Verständnis mit dem Kopfe. »Ich verschwinde«, sagte er, »und gehe zu Fräulein von Montfort.«

Georg sagte, das hätte er sich im stillen schon gedacht, er würde dort vermutlich eine schöne Rede auf ihn halten. – Sein Vater stand eilig auf, humpelte zum Bett und ergriff seine Handschuh. »Ich komme nachher noch einmal herein. Leb wohl, mein Junge«, sagte er plötzlich sehr warm und legte ihm die Hand auf den Kopf. Georg, die Augen schließend, fühle die warme Schwere, fühlte sich kindlicher als in allen Erinnerungen des Morgens, wohl beschützt und recht frohen Mutes …

Als sein Vater hinaus war, rief er Egon und ließ den Vorhang wieder schließen, legte sich auf die Seite, schloß die Augen und verirrte sich liebevoll in bunte Szenen und farbige Trachten. Daß Virgo nicht würde dabei sein können, betrübte ihn, aber um jene Zeit erwartete sie ihr Kind. Virgo, meine liebe, kleine Schwester, dachte er zärtlich, und ohne sein Zutun schlossen sich die Worte an: Weißt du noch, wie wir uns Blumen brachten? Und die lieben, kleinen Vogelnester, die das Herz so zittern machten, und … und im Park der Teich im runden Rahmen gelber Iris, blank wie … Mond … Und … und wie klangen, wenn wir riefen, unsre Namen, durch die Stille ungewohnt? … Er fing an, die Unregelmäßigkeiten in den Zeilen auszufüllen, neue kamen hinzu, er sammelte und legte fort, langsam schloß Strophe sich an Strophe, um nichts zu vergessen, sagte er sie sich unaufhörlich wieder vor und schlief allmählich darüber ein.

Die Augen öffnend, wußte er, daß jemand vor ihm stand; er fühlte sich wieder heißer, es war tiefe Dämmrung und nahe über ihm etwas Großes, Weißes; auf seiner Stirn lag etwas Kühles, eine Hand, er schloß die Augen wieder und dachte, noch halb im Schlaf: Sie ist da … Ganz leise lief hoch über ihm ihr Lachen silberflüssig durch dunkle Luft. Er schlug die Augen auf und sah die ihren, groß und schwarz unter den dicken Brauen, ihr kleines Gesicht, ganz weiß auf dem kleinen, leichten Hals; sie hielt einen riesigen Armvoll weißer Narzissen an die Brust gedrückt und ließ sie nun, sich überbeugend, auf sein Bett, auf sein Gesicht fallen, naß, kühl, feierlich duftend.

»Ja, was machst denn du für Geschichten, Schorse?« fragte sie. Sie liebte ja nun diese jungenhaften Ausdrücke.

»Jeder einzelne,« sagte Georg, »der hereinkommt, fragt, was ich für Geschichten mache. Nun setz dich aber!« Er drückte auf die Klingel. Sie raffte ihre Blumen vorsichtig wieder zusammen, Egon kam und holte eine Vase, die allergrößte, einen dunkelgrünen Topf; er wurde auf den Schreibtisch gestellt, das war kostbar anzusehn.

»Wolfgang läßt vielmals grüßen«, berichtete sie. Halbtot sei er angekommen und habe gebrüllt, daß die Wände gezittert und der Kanarienvogel gezetert hätte. Er wollte lieber sterben, als sich noch ein einziges Mal mit einem Agrarier boxen. Daß der Teufel ein Agrarier sei, das stehe felsenfest.

»Er soll nun Amtshauptmann in Beuglenburg werden,« sagte Georg, »Papa war da, wir haben es schon abgemacht.«

Virgo war hochentzückt, aber nun mußte Georg auf das genaueste erzählen, was und wo es ihm fehle, wie er den Tag verbracht habe, was er haben wollte, – wobei Georg das Gedicht einfiel, das er vor dem Einschlafen zustande gebracht hatte, und sie mußte sich auf den Bettrand nahe zu ihm setzen, er nahm ihre Hände und sagte leise und langsam, den dichten, weißen Strauß der zarten Sterne mit rötlichem Herzen vor Augen:

»Virgo, meine liebe kleine Schwester!
Weißt du noch, wie wir uns Blumen brachten,
Und die lieben, kleinen Vogelnester,
Die etwas in uns so zittern machten,
Süß und gar so ängstlich, daß sich fester
Unsre Hände schlossen im Betrachten?

Und im Park den Teich im starren Rahmen
Gelber Iris, rund, ein blanker Mond,
Wenn wir durch den stillen Mittag kamen
In den Kleidern, die wir sehr geschont …
Und wie klangen rufend unsre Namen
Durch die Stille fremd und ungewohnt …

Kleines Schwesterlein, es ging so bald …
Ach, wie kam es, Süße, Traute, sage,
Daß so früh sein Stimmlein ist verhallt?
Und wie kommt es, daß ich um es klage,
Da es doch – o Armut meiner Tage! –
Niemals Odem hatte und Gestalt.«

Sie strich leise mit der Hand über seine Stirn. »Nun haben wir uns ja doch gefunden …« sagte sie mit ihrer tiefen Stimme.

»Und denken, wie es hätte gewesen sein können …«

»Ich war so sehr allein«, sagte sie ganz wenig klagend. »Meine Mutter ließ mich so herumlaufen, das war nicht bös gemeint, im Gegenteil, sie sagte es mir auch später, ich hätte vor allem Freiheit haben sollen, und sie war doch damals schon eine alte Frau …«

»Wenn ich an deine Kindheit denke,« sagte Georg, »sehe ich immer dein kleines blasses Gesicht mit den übergroßen Augen an eine Fensterscheibe gedrückt, eben dicht über dem Rahmen, und du standest vielleicht auf den Zehen an einer Verandatür, drücktest die kleine Nase platt am Glas und sahst ganz still auf der Terrasse die Spatzen sich um ein paar Krumen zanken.«

»Ja, das mag wohl gewesen sein,« lächelte sie, »wie schön du das beschreiben kannst! nun seh ich es auch, und es sieht gar nicht so traurig aus.«

»Erzähl mir doch, wie warst du als Kind!« bat Georg. »Benno Prager und ich haben uns heute morgen vorerzählt, wie es war, wenn wir krank waren als Jungens.« Da Georg von Flechtpapier und Zinnsoldaten schon seinem Vater erzählt hatte, fuhr er fort: »Er bekam eine Bouillonsuppe, und ich Sagosuppe mit Rotwein: herrlich war das, wenn der rote Wein im grauen Sago zerfloß!«

Sie lächelte und sagte, unaufhörlich mit den Fingern durch sein Stirnhaar streifend:

»Wenn ich krank war, wurde mein Bett in das Zimmer meiner Mutter gestellt, das war ziemlich beängstigend. Sie schlief in einem Saal mit vielen Fenstern und in einem riesigen, uralten Himmelbett mit geschnitzten und so gewundenen Säulen, an denen kleine Tiere liefen, Eidechsen oder Molche, und ganz unten, als Fuß, hockte ein Igel und machte listige Augen. Wenn ich fieberte, liefen die Tiere auf meinem Bette herum, und meine Mutter mußte immer hinter ihnen her sein. Wenn mirs wieder besser ging, setzte sie eine Brille auf, und wir spielten Leben und Tod zusammen mit ganz alten deutschen Karten, so groß wie Postkarten. Dabei hatte sie so putzige Ausdrücke, die mich begeisterten, und ich machte sie kräftig nach. Spielte sie Cœur aus, sagte sie: Cœur du dir an gar nichts! Pikaß war ein Kettenhund, hieß es, und: Trefflich schön singt unser Küster! Wenn aber eine Neun kam, unterließ sie nie, zu murmeln: Neun mal neun sind einundachtzig … Kannst du dir vorstellen, wie ich so ganz klein im Bett saß mit meinen großen Karten und die alte Frau betrachtete?«

»Ach, erzähl mehr,« bat Georg, »wie bist du sonst gewesen, was hast du gespielt?«

»Ein Spiel,« sagte sie nachdenklich, »das weiß ich noch, spielte ich, wenn ich schon im Bett lag. Dann stieg ich wieder heraus, zog mein Hemd aus, faltete es schön zusammen und kniete ganz nackt und klein auf dem Bettvorleger hin. Dann war ich ein ganz armes Kind, das gar nichts mehr hatte, aber nach einer Weile kam eine mitleidige Person, die schenkte mir ein Kleid, das war das Hemd, das durft ich nun wieder anziehn, da war mir schon wärmer, und dann kam meine Mutter in einer goldenen Kutsche vorbeigefahren und nahm mich mit auf ihr Schloß, da durft ich wieder ins Bett steigen und mich ganz warm einmummen, o das war herrlich! Ja, da hatt ich nun ein ganzes Zimmer voll Spielsachen, aber diese selbsterfundenen waren die schönsten. Und einmal weiß ich, da hatte ich mir das Schaukeln verboten. Ich hatte irgend etwas Strafbares getan, keiner wußte es aber, und da bestrafte ich mich selbst und sagte: nun darfst du einen ganzen Tag lang nicht schaukeln. Was das für Qualen waren, kannst du dir gar nicht vorstellen! Alle halbe Stunde ging ich ganz langsam zur Schaukel und faßte sie an, oder ich strich mit der Hand über das Sitzbrett und stand und sah nach dem Balken oben – ja, und dann, als ich am andern Tag wieder schaukeln wollte, da mocht ich nicht mehr. Weißt du, es ging einfach nicht! ich hab nie mehr geschaukelt seitdem.«

Sie schwiegen Beide. Es war dunkler geworden, Georg fühlte sich wieder fiebrischer, die Dinge entfremdeten sich von neuem, Virgos Dasein verschwamm und wurde traumhaft, er warf sich hin und her, fühlte bald ihre Hand auf seiner Stirn, aber alles verwirrte sich, sein Vater war wieder da und auch nicht da, Virgo war fort, Dora Vehm, Benno, Magda und Andre gesellten sich zusammen und führten unvorstellbare Dinge aus, er ermannte sich am Ende, richtete sich im Bett auf und sah wie in weiter Ferne den Schattenriß von Virgos Schultern, Hals und Profil im Dunkel. Von ihrer tief tönenden Stimme hörte er seinen Namen, dann deutlicher: »Georg ist solch ein schöner Name …« Ihr Profil verschwand, er sah die dunklen Flecke ihrer Augen, wollte etwas sagen, räusperte sich und schluckte und spürte heftige Schmerzen im Hals. »Du bist so gut, Georg«, flüsterte Virgo.

Er erschrak, lachte rauh und krächzte: »Um Gottes willen!« was für ein Unsinn, wollte er sagen, mußte aber husten, fühlte, wie sie seine Hand ergriff und an die Wange drückte, und hörte sie sagen: »Du hast ja wieder Fieber!«

»Nun, das kommt so abends«, meinte er, aber sie erregte sich, schalt über sich selbst und über ihn, er habe weder gegurgelt, noch Aspirin genommen, klingelte nach Egon und drückte ihn in die Kissen zurück. Georg schloß die Augen, verlor plötzlich den Zusammenhang mit sich und Allem, fühlte eine Berührung und sah vor sich einen Eßlöffel, dann Virgo, die ihn hielt und seinem Mund näherte; er schluckte den Inhalt hinunter, trank Wasser und setzte sich auf. Nun mußte er auch gurgeln, Egon stand mit einem Waschbecken, Virgo hielt das Glas, und er gurgelte ein paarmal. Er sah eine Platte mit Weißbrotschnitten und einem Ei dastehn, mochte aber nichts essen. Geräusche und Stimmen waren schon unendlich fern und unhaltbar; ihm schien, als sei Virgo jetzt in seinem Schlafzimmer, jedenfalls hörte er sie fragen, wo seine Strümpfe seien, und nach einer Weile aus ferner Tiefe seltsam sagen: Seide! alles Seide! – so daß er lächeln mußte. Einen Augenblick später fühlte er ihre Hände an seinem Hals, fröstelte, als sie den Halskragen öffnete, – und wie kalt waren ihre Fingerspitzen! – sein Kopf schmerzte wüst, etwas Warmes wurde um seinen Hals geschlungen.

Schmetterlinge … bunte … Georg hörte sich laut sagen: »Sieh doch mal die Schmetterlinge!« – Sie schwebten durch das Zimmer, leuchtende, dunkle Farben, einer nach dem andern; plötzlich verkleinerten sie sich und hingen still im Kreis, ein leuchtender Ring wars, wunderbar anzusehn. Sieh, da saßen Esther und sein Vater in einer dunklen Zimmerecke zusammen und sprachen, er wollte zu ihnen gehn, konnte es aber nicht, und merkte, daß er, an allen Gliedern gelähmt, auf einem Bett lag, sonderbar verkrümmt und verzerrt, die Arme ausgebreitet, das linke Knie hochgezogen, es war qualvoll, sein Vater lachte und scherzte mit Esther, von nebenan tönte Gläserklirren, Stimmengewirr und Lachen, es war auf einem Dampfer, sie fuhren, er hörte das Rauschen der Schaufelräder, nun trat sein Vater zu ihm, Georg beklagte sich heftig, daß man ihn festgebunden hätte, aber sein Vater sagte, ob er denn nicht wüßte, das sei doch Mamas wegen, sie dürfe nicht so viel gehn. Georg murmelte etwas Ärgerliches, und dies hörte er plötzlich, merkte auch seinen Mund, den er bewegte, wie etwas Fremdes und sonderbar groß, und öffnete die Augen. Fern im Dunkel schimmerte die flache grüne Kuppel der Schreibtischlampe, darunter hängend leuchtete tief Esthers Schmetterlingskranz, den sie ihm gearbeitet hatte, auf lichtem, grünem Streifen ein dunkelroter, ein gelber und ein ganz bunter Falter. An seinem Bett standen zwei Gestalten, eine sehr große, sein Vater, und eine kleine, Esther; nein, Virgo wars. Er versuchte zu lächeln und setzte sich auf, fragte: »Bist du schon lange da, Papa? Entschuldige, daß ich dich nicht vorgestellt habe …«

Sein Vater lachte und beugte sich zu ihm; indem sah Georg und sah auch sein Vater, scheinbar erst jetzt, die mütterliche Rundung von Virgos Leib. Seinen Vater schien das zu verwundern; sie senkte unter seinem Blick langsam die Stirn und sagte unsicher: »Ich bin eine Mutter …«

Georg rührte das sehr, und es schien ihm natürlich, daß sein Vater auf einmal ihr Gesicht vorsichtig in die Hände nahm und sie auf die Stirn küßte.

Nun war eine sehr lange Zeit alles fort. Plötzlich fuhr Georg empor; sein Vater saß, ein breiter Schatten, im Stuhl, den Rücken am Schreibtisch; es war undeutliche Bewegung im Zimmer, dann stand da ein Mensch, Georg erkannte den Grafen Badenbach, dachte: Ach, richtig, er kommt wegen der Verlobung! – und fühlte fröstelnd die beruhigende Anwesenheit seines Vaters. – Aber wie still es war!

Georg setzte sich mit einem Ruck auf und starrte den Kammerherrn an. Der stand da in seiner Nähe, die Hände zusammengelegt, wie – wie an einer Bahre; sein Gesicht war sehr bleich mit roten Flecken, aber er sah sehr würdig aus.

»Ist sie tot?« fragte Georg entsetzt.

Der Kammerrat neigte zweimal langsam das Haupt. Georg nahm alle Kraft zusammen und setzte sich grade aufrecht. Sein Kopf wollte schwer nach vorn überhangen, er bezwang sich, dachte: Gott sei Dank! Gott sei Dank! und ein leises Mitleid mischte sich flüchtig in die Erleichterung, die er aber nicht nur für sich, sondern auch für die Tote mit empfinden konnte. Eine hauchende Stimme sagte: Tröstherzeleid … Er hörte den Grafen sprechen.

»Sie ist erlöst, ihr ist wohl. Aber sie litt unsägliche Qualen zuvor. Die Schuld daran trifft zunächst mich. Ich werde –«

»Und wen außerdem?« fragte der Herzog mit gedämpfter Stimme.

»Außerdem den Fragenden«, versetzte der Kammerrat ruhig. »Den Eingriff in die zarteste, verletzlichste aller Seelen Ihnen, durchlauchtiger Fürst, zum Vorwurf zu machen, habe ich kein Recht. Die Folge liegt sichtbar vor Augen. Die Sonnenblume dreht sich zur Sonne unabänderlich, so stand ihre Seele zu mir gerichtet, und Sie griffen zu, um sie herumzudrehn. Sie blieb bei der Richtung, die ihr gelehrt, die ihr innerster Sinn und eigentliches Leben war, aber sie litt unsagbar, sie verzehrte sich, sie ward schwach, und eine Ohnmacht verursachte dem armen Hirn die Erschütterung, der sie nun erlag. Die ganze Größe der Schuld ist aber mein.«

Die Worte dröhnten und rauschten stromhaft durch Georgs kranken Kopf, und jeder Satz brannte in lichter Flamme hoch, ehe er einem neuen wich.

»Zu meiner Verteidigung«, fuhr er fort, »habe ich nichts für mich selbst und vor Gott als die Vasallenpflicht, die mir gebot, das Geschlecht meines königlichen Herrn zu erhalten. Nun es erlosch, bin ich frei, diese dumpfe und traurige Welt mit einer stilleren zu vertauschen, wo sich meine sündige Seele unter unablässigen Kasteiungen und inniger Reue …«

Wenn er noch etwas sagte, so vernahm Georg es doch nicht mehr. Er fühlte, daß irgend jemand zu ihm trat, er wurde aufgehoben, fortgetragen und sehr tief niedergelegt. Dann war dichte Finsternis, in die er verlöschend hineinglitt.

 

Im Finstern wachte Georg auf und fühlte sich schwach, jedoch klar im Kopf. Ganz fern schien ein winziges Lämpchen zu brennen. Er lag wohl in seinem Bett, konnte es jedoch nicht mit Sicherheit feststellen. Er faßte nach seinem Puls, bekam ein glühend heißes Handgelenk von ungeheurer Größe zu fassen und wußte gleich darauf schon nicht mehr, ob er träume oder schlafe. Er hatte Angst, der Kammerrat könnte kommen, und auf einmal wußte er, daß Sigune tot sei. Ja, sie war tot, und er selber konnte sterben. Sterben war schrecklich. Er sah, ohne deutliche Vorstellung, aber er fühlte sich irgendwo unter der Erde liegen, und die ganze Welt ging ihren Gang weiter. Das war das Schreckliche, das war unerträglich. Da war der Platz am Café, Trambahnen fuhren, Menschen eilten hin und her, aus dem Gewühl kam Renate und ging an den Läden hinunter, blickte seitwärts gegen eine Spiegelscheibe und faßte nach ihrem Hut. Er aber lag begraben, und alles dies hörte keinen Augenblick auf, oh, es war entsetzlich! – Da fühlte er, wie das Fieber in ihm schwoll, er wehrte sich, er wollte es nicht, lag, glühendheiß übergossen, und stöhnte schnaufend: O dies entsetzlich Pausenlose! – An dieses schlossen sich deutlich die Worte an: Könnte man doch, könnte man einmal nur, für keinen Tag, für keine Stunde, ach, für Augenblicke nur befreit von diesem Dasein sein! Nichts sein als Aufatmen! Und daß man hinziehn könnte einmal nur, Betrachtung nur und Geist und Seelenfriede! Erleichterung der Brust, Bewußtsein nur des unzerteilten Seins, leicht wie ein sommerliches Rauschen in den Bäumen, wie Blumen leicht, wie Wiesenhalme, die im Winde stehn, jedoch es wissen, wunschlos wissen, reuelos es wissen, – ach, sodann verlöre wohl der Tod den Stachel, mit welchem Ernst, mit welcher Ruhe würden wir von neuem alles Dasein auf uns nehmen, wieviel würden wir geübter, williger und tapferer sein! O dies entsetzlich Pausenlose! Marter, Kette dieser Tage, dieser Stunden, dieser Atemzüge, wo nicht eine, eine Lücke, keine Leere, keine Leere, kein Sichausruhn uns begütigt, Schlaf selbst Unrast nur und Traum und Fieber, nirgend Aufenthalt, kein kleinster Stillstand, Neues immer, Neues immer, hingerissen, fortgeschoben, ohne Ende, – sondern ewig, ewiglich, schon vor uns längst im Gang, und durch uns weiter, weiter dröhnt das pausenlose Pochen der Sekunden …

Ihm stand der Angstschweiß auf der Stirn. Die Worte fingen von vorn an, wickelten sich wie Stricke umeinander, schallten stets von neuem auf, nicht niederzudrücken, so schnellten sie empor, nicht abzuschneiden, sie wuchsen geradewegs weiter, – er röchelte, sein Hals glühte, er faßte danach und ritzte sich an einer Nadel. Nachfühlend, glaubte er eine Brosche zu fassen, die er unter unsäglicher Mühe aufmachte, dann faßte er das Heiße, das um seinen Hals lag, zerrte daran, es war lang, – ein Strumpf, ein langer Strumpf, – endlich war sein Hals frei, er ließ ihn wonnig die Kühle atmen und fühlte sich erleichtert. Jetzt den Strumpf abtastend, wußte er plötzlich, daß es ein Strumpf von Virgo war. Er lächelte erst, – dann hob er ihn an den Mund, fühlte den weichen Flor, preßte ihn wütend an die Lippen, grub sie und Stirn und Augen in das glühende Kissen, schluchzte herzbrechend auf und stammelte weinend und unaufhörlich: Ich liebe dich doch! ich liebe dich, ich liebe dich! –

Danach kam Dunkel, kam Schlaf, kamen andre Träume.


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