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Fünftes Kapitel: Juni

Emmaus

Georg, geblendet, schwer schlaftrunken, riß die Augen auf und kniff sie heftig wieder zu. Große rote Flecken sausten heran, schwebten, hielten still, dazwischen flackerte brennend Grünes, grüne Blätter, Baumwipfel, und Himmelblaues. Er rieb die Augen, merkte, daß er in der Hängematte lag, die Lider fielen ihm schwer wieder zu, in allen Gliedern knackte, sauste und prickelte der jählings abgebrochene Schlaf, der verdampfte. Ringsum brodelte der Juni, und da, seltsam fern, mitten im Sommer, schönem Schatten, Baumstämmen und Sonnenlichtern und herein leuchtendem Himmelsblau stand Egon mit seinem schwarzen Haarwisch in der Stirn und lächelte. Georg gähnte wie ein Löwe und kaute hervor, wie spät es sei? Durch eine Wand von Schlaftrunkenheit hörte er Egons Stimme: Gleich fünf Uhr. Und Herr Bogner sei eben gekommen, und auch ein Telegramm. – Georg brachte die Augen nicht auf im Gähnen, streckte die Hand aus und dachte: Ach, Bogner, – richtig, er brachte das Bild, für Helene … Er zerrte die Füße aus den Maschen der Hängematte, saß da, krümmte die Arme gewaltig, dann den Rücken, reckte und dehnte sich, daß es krachte. Schließlich hockte er im Netz, den Kopf schwer vornüber hangend, in dem es kribbelte und summte; die Schläfen brannten, die linke Wange war wie Feuer von Jucken, und er kratzte sich wütend; eine Mücke mußte ihn im Schlaf gestochen haben. Was träumte ich nur? dachte er. Das war ja sehr sonderbar! Ich ging mit Bogner im Walde, und auf einmal war noch jemand da, ein großer, blasser Fremder, mit dem Bogner eifrig sprach, und ich blieb zurück, es war dämmrig im Walde und sehr grün, und dann, – dann war da, glaub ich, Saint-Georges, den fragte ich: Wer ist denn das eigentlich? und er sagte erstaunt: Das wissen Sie nicht? Es ist doch Christus. – Ja, das war, weil Bogners Bild den Gang nach Emmaus darstellen soll. Und dann gingen wir weiter, und ich dachte, wenn wir jetzt aus dem Walde kommen, muß gleich links Helenenruh sein, aber Helenenruh kam nicht, sondern ein fremdes dunkles Tal, und Bogner und – der Andre entwichen schon fern drüben zwischen den Stämmen, und gleich rechts stieg Renate ganz einsam den steilen Hang hinauf. Aber als ich ganz froh und zitternd zu ihr kam, wandte sie das Gesicht her, und da war es – Helene, – ja, und sie hatte das seltsame Antlitz wie auf Bogners Bild … Sonderbar, wie so alles durcheinanderging, Bogners Bild und Helenenruh, wohin ich – ach, bald – bald fahre, zu Renate, die dort ist …

Immer noch sehr dumpf, und schwer imstande, die Augen ganz zu öffnen, brach er nun das Telegramm auf und las mühsam die Maschinenschrift von dem sonneflimmernden Blatt: Lieber Georg, Ihre Mutter ist eben sehr schwer erkrankt, Sie müssen sofort kommen und auf alles gefaßt sein. In Liebe Renate.

Gott im Himmel, Gott im Himmel, Gott im Himmel … Das Blatt wurde blutrot vor Georgs Augen, die Schriftbänder verbogen sich und zerfielen. Braun und leuchtend stand da der Kiefernstamm, schwarzfleckig; hoch oben breiteten die grünbehangenen Äste sich ins flammende Blau. Schwer erkrankt … auf alles gefaßt sein … In Liebe … Das hieß? In Liebe … Tot, dachte er, tot, – – sie ist tot. In Liebe hätte sie nicht in ein Telegramm geschrieben, sondern es hieß: in Mitleid. Georg bewegte schwer im Mund die klebrige Zunge; die Augenwinkel schmerzten, langsam ward es um ihn klar, er stand auf und ging auf schwachen Füßen, wankend davon, auf das Haus zu. Da war die weiße Tür, Bogners Gesicht. Georg blieb stehn, schnob ein verächtliches Lachen durch die Nase und dachte unter furchtbar aufsteigender Angst: Das Bild, das Mutter zum Geburtstag haben … Sein Kinn zitterte, im Halse würgt' es, seine Augen wurden feucht, beizend. – Da stand er vor Bogner, streckte ihm wortlos das Telegramm hin, fiel auf einen Stuhl und schluchzte zwei, dreimal trocken und würgend.

Aber wenn sie doch noch lebte?! Besinnungslos sprang er auf, taumelte erst, denn es war alles rot umher, und vom Schreibtisch, den Fenstern, der Lampe gab es nur fliegende Bruchstücke. Dann entdeckte er den Telephonapparat, stürzte darauf zu, nahm den Hörer ans Ohr, hörte die weibliche Stimme, wußte im Augenblick die Nummer nicht, erhaschte sie dann, sagte heiser: Achtundneunzig – achtundneunzig bitte! und wartete. Eine schnarrende Stimme schrie ihn an: Hier Adlerwerke! – Nun stammelte er zusammen, er habe neulich schon ein Automobil gehabt, ob er wieder einen solchen Wagen … oder besser einen schnelleren, einen Rennwagen, jedenfalls den schnellsten, der da wäre … Dazwischen nannte er seinen Namen, hörte dann, daß ein Wagen geschickt würde, er bat noch um einen guten Fahrer und um Benzin für sieben, acht Stunden. –

Sieben, acht Stunden, dachte er stumpf, am Schreibtisch hockend. Ohne zu denken, öffnete er die Schieblade und nahm einen Plan auf Leinwand heraus. Da fahr ich wieder zu einem Toten, murmelte er hülflos. Wenn sie nur noch lebte, nur noch … Auf ein Räuspern hinter seinem Rücken wandte er sich um und sah Bogner dasitzen, das Telegramm in der Hand, das er nun langsam zusammenlegte. Dann blickte er auf, sah ihn ruhig an und sagte:

»Sie können trotzdem mein Bild ansehn. Ich will es hereinholen.«

Er sah Bogner aufstehn, zur Tür und auf den Flur treten, wo an der Wand das Bild lehnte, mit einem Tuch verhangen, so hoch wie Bogners Schulter. Er trug es herein, löste die Tücher ab, – es hatte noch keinen Rahmen, – und lehnte es schräg gegen den Pfosten der Schlafzimmertür.

Georg schauderte leise. Da war Nacht, tiefes Dunkel, braun, grünlich, das herunterhing; ganz tief unten zur Linken war Helle und ganz kleine Gestalten. Die Höhe des Raumes schien ungeheuer, er stieg oben in die Nacht auf, undeutlich waren Pfeiler sichtbar, ganz fern, aber kein Gewölbe, nur Nacht und ein, zwei weißliche, gelbliche Flecken von Sternen. Unten links war eine Fensteröffnung, durch die breit ein Lichtstrom hereinschwoll und zerstäubte an einer stehenden Gestalt in der Mitte des Bildes, die einen Arm, vom Schreck betroffen, nach links von sich streckte. Unterm Fenster, im vollen Licht war ein Tisch gedeckt, dahinter, geduckt vor Schrecken, ein Mensch. Und links daneben, hochangelehnt, die Arme leicht ausgebreitet, die flachen Hände auf der Tischplatte, ganz golden von Licht, – der Christ.

Emmaus … zog es fern durch Georgs Staunen. Oh diese ungeheure Nacht! Und Nachtstille und Geschehn. Das Göttliche blühte schweigend aus dem Lichtstrahl auf und sah sich um. In der Nacht draußen war die ganze Welt, Sterne, Raum, Ebene, Getier, das Meer, die Finsternis, in unendlicher Stille.

Von der Gartentür her sagte der Maler:

»Ich sah dies in einer Kirche in Venedig. Die Wölbungen waren nicht so hoch, es war dunkel, nur in einem fernen Seitenschiff ein Lichtschein. Als ich hinging, saßen dort ein paar Priester und spielten Karten. Das alles hat sich im Laufe der Jahre sehr verändert.«

Nach einer Weile hörte Georg des Malers Stimme wieder:

»Und als ich eines Tages zufällig Conrad Ferdinand Meyers Gedicht zu lesen bekam, ›die tote Liebe‹ heißt es, glaube ich, Sie werden es kennen …« Georg hörte die Eingangsverse: Entgegen wandeln wir – Dem Dorf im Sonnenkuß – Fast wie das Jüngerpaar – Nach Emmaus … Und den Schluß: Da ward die Weggesellin – Von uns erkannt – Da hat uns wie den Jüngern – Das Herz gebrannt … und dazwischen die Stimme des Malers weiter: »Da traf mich dies einmal: Da hat uns wie den Jüngern – Das Herz gebrannt … Denn – – es ist so, daß wir wie die Blinden daherwandern, und die Augen gehen uns auf, wenn es zu spät ist, immer hinterdrein, und – wir wissen es nie gut; wir wissen es immer nur besser.«

Da hat uns wie den Jüngern das Herz gebrannt … Immer wieder schlugen die Worte an. Wir wissen es nie gut, – wir wissen es immer nur besser … Und nun war Helene tot, die – Mutter tot, – Mutter, – nicht meine, dachte Georg ratlos und konnte nichts anfangen mit dem Gedanken. Gott sei Dank, sie hat es nie gewußt! mußte er aufatmen. Aber wenn sie doch noch lebte? – In Liebe Renate. Ach, aus diesem Grunde schrieb sie: in Liebe! Georg biß sich auf die Lippen, jagte den Gedanken davon und fragte sich: Warum hat Magda nicht telegraphiert? Warum hat sie nicht telephoniert? Weil sie mich neulich schon zu einem Toten rief. –

Und – ach du mein Gott – nun schon wieder fort von Cordelia! Sein Herz verbitterte sich! Ist man einmal glücklich, so kommt was dazwischen! Ja, dann muß ich alles verschieben, jetzt länger in Helenenruh bleiben und mit Renate, – aber wie kann ich es recht anfangen mit ihr, wenn Trauerzeit ist? Schöne Gedanken, mein Georg, schöne Gedanken! Er biß sich auf die Lippen. –

Sieben Stunden dauerte die Fahrt wenigstens, – oh diese Ungewißheit! – Georg schwankte, ob er nicht in Helenenruh anrufen sollte, – oder in Trassenberg, aber bis die Verbindung hergestellt war, konnte eine Stunde vergehn. Nein, nein, lieber die Ungewißheit! – Er erhob sich und klingelte. Zu Egon, der alsbald eintrat, sagte er, er müsse gleich nach Helenenruh, er habe schon einen Wagen bestellt, seine Mutter … Egon sollte mit den Koffern im nächsten Zuge fahren. –

Unterdes hatte Bogner die grüne Stoffhülle vom Boden aufgenommen. Georg trat auf ihn zu, faßte seine Hand und brachte heiser hervor, der Maler möchte das Bild dalassen, er wisse nicht, was er ihm dafür geben könne, – und da der Maler freundlich und abwesend lächelte, so lächelte auch Georg und meinte:

»Ich hoffe, Sie schenken es mir, – ich werde sehn, – ich finde schon, was ich Ihnen als Gegengeschenk – – wenn erst alles …«

Der Maler nickte und sagte: »Ich weiß ja …«

Georg blickte noch einmal auf das Bild. Ja, – Christus war tot und mußte wieder kommen, damit sie alle glaubten. Eine hielt ihn für den Gärtner, die andern gingen, sprachen, aßen mit ihm, – dann erkannten sie ihn, und – ihnen brannte das Herz. – Er fühlte sein Gesicht glühend, schüttelte sich frierend und wandte sich ab.

Minuten später stand er vor einem flachen grauen Wagen, mit Radreifen und Benzintanks beladen, und hörte zu, wie ein Mensch ihm dies und jenes erklärte. Dann saß er am Steuer, riß den Hebel an, der Wagen stieß von unten, brauste auf, rollte, er drehte das Steuer, der Wagen, gehorsam, wandte sich mit ihm um und rollte die weiße Straße hinab in den grünen Sommer. Bald lag schon das heftig durchkreuzte Getümmel der Stadt, Plätze, Lärm und Getöse, Menschen, Automobile und Pferde hinter ihm, vor ihm, schnurgerade, die Chaussee, zwei Baumreihen, in der Ferne zusammenschmelzend, unterm glühenden Himmel, und der Wagen schnurrte darüberhin, daß Georgs Körper und sein Herz erzitterten. Verschwommen kreisten die Flächen der Haide, braun, dann Moore, wieder Haide, die Straße senkte sich und stieg so schnell, daß es kaum zu sehn war, wundervoll ruhig tuckte der Motor im Innern, Georg sah in der Glasröhre neben seinem linken Fuß das schwärzliche Öl langsam tropfen und undeutlich den beweglichen Zeiger des Manometers; sein Gesicht kühlte sich wohlig im eisigen Wind, ihn packte die Lust, hinzustürmen über die sich drehende Erdkugel, schnarrend wie ein Uhrwerk. Automatisch, wenn ein Pferd, ein Wagen fern sichtbar wurde, sah er die Hand des Mechanikers nach unten greifen und den Auspuff schließen. In der Ferne dröhnte hin und wieder die eigene Huppe. Ehern, rein blau, feurig blieb das Gewölbe des Himmels. Gehöfte unter Eichen, beschnittene Hecken, Hoftore, Eggen, Dämmerblicke in Kuhställe, Geranien vor Fenstern, heranlaufende Kinder, mitflüchtende, endlich querüber jagende schneeweiße Gänse, flatternde Hühnerscharen, locker vorbeischwebende, riesige fahrende Heuberge, der fliegende blaue Schleier einer vermummten Frau in einem Automobil, das überholt wurde, – all das flackte und spritzte in Fetzen auf und herum, und verflüchtigte sich in Augenblicken immer wieder in den stabgraden weißen Strich der Chaussee, die niemals endete, im Endlosen immer wieder aufgebrochen wurde, soviel sie in der Ferne zusammenzulaufen schien. Als die Flächen umher sich abendlich beschatteten, überließ Georg das Steuer dem Mechaniker, setzte sich in den Wagen und schloß die Augen.

Er verfiel alsbald in einen unruhigen Halbschlaf. Der Mückenstich auf seiner Wange brannte und juckte wiederum, er rieb und kratzte ihn und träumte dazwischen, so leicht, daß er selber wußte, er träumte. Er träumte, daß er im Automobil fuhr und in Helenenruh ankam, aber es kam nicht ganz dazu, er wachte wieder auf, schlief wieder ein und fuhr wieder, gelangte auch nach Helenenruh, aber es war alles dunkel, kein Mensch zeigte sich, und das Haus war ein ungeheurer, niedriger Langbau, an dessen Fenstern zu ebener Erde er hinunterging; hinter einem von ihnen sah er Menschen in einem Zimmer, die ihm etwas Liegendes verdeckten, und er dachte: Sie wollen es mir nur verbergen … Seine Wange juckte wieder, er war wach, scheuerte sich und sah, daß es dunkel war, und daß die Chausseebäume, von den Scheinwerfern weithin beleuchtet, voraufeilten, kalkbleiche Gestalten zu Hunderten; dann tauchten drei Radfahrer auf und glitten dicht an ihm vorbei, zuletzt eine Frau in roter Bluse, die halbumgedreht einem kleinen weißen Hunde etwas zu schrie, der kläffend gegen den Wagen ansprang.

Georg ging nun an einer langen Mauer hinunter, er wollte zum Begräbnis seiner Mutter, es war schon spät, und er konnte den Eingang zum Friedhof nicht finden, der hinter der Mauer lag. Auf einmal kamen dunkel gekleidete, ernste Leute von allen Seiten, die sonderbare Gegenstände, unenträtselbare, in den Händen hielten, und er dachte bei sich: es sind die Leid Tragenden. Dabei merkte er, daß er selber nichts hatte, er mußte seines zu Hause vergessen haben, suchte vergebens und mit großer Verzweiflung an sich, aber es war nicht zu finden, – es zu holen, war es viel zu spät, er war auch schon mitten unter den Leuten und hielt sich beschämt dicht hinter den vor ihm Gehenden, immer besorgt und beklommen, daß es gemerkt würde. Nun sah er aber, daß sie gar nicht Alle etwas hatten, – nein, es hatte überhaupt niemand etwas, er atmete auf und schalt sich, daß er sich eingebildet hatte, man müsse etwas haben, und indem verschwanden die Letzten durch ein kleines Mauerpförtchen. Als er dort anlangte, kam gerade Benno von der andern Seite, unbegreiflich gekleidet, und fragte ernst: Willst du auch zum Grabe? – Ganz erleichtert wußte Georg nun, daß nicht seine Mutter tot war, sondern Christus, aber das war schon lange her, und hier war sein Grab zu sehn, es war in Jerusalem. Als sie nun durch einen großen Garten gingen, wo unter weitstehenden, mächtigen Bäumen hohe, gelbe Narzissen, einzeln und in Gruppen, aus dem niedrigen Grase ragten, sagte er zu Benno: Sonderbar! so hatte ich mir Palästina gar nicht vorgestellt. – Ja, so ist es in Okrodia, sagte Benno, und Georg verstand nun alles, nur war es jetzt nicht Benno, mit dem er ging, sondern einer der beiden Jünger von Emmaus, und er selber war der andre. – Nun war da vom weiten ein Gebüsch zu sehn, große, dichte Hügel von blühendem Rhododendron, rot und auch etwas weiß, und daneben kniete Maria Magdalena, Menschen in langen Kleidern standen um sie herum, auch andre in Gruppen anderwärts, und durch diese hindurch sah Georg die Tür des Grabes an einer Felswand offen, und Benno sagte: Das Begräbnis ist doch schon vorüber, wir können aber hineinsehn. – Georg geriet im Weitergehn an eine Gruppe von Menschen, die sich unterhielten, er dachte: sie beratschlagen wegen Pilatus, aber als er zuhören wollte, sprachen sie gar nicht, sondern standen bloß da, und keiner sah ihn an, er stand bei ihnen und schwieg und dachte: Das dauert ja endlos … Zwischen den Beinen der Leute wurde Maria sichtbar, es war Cordelia, sie kniete und suchte auf der Erde, weinte heftig und sagte: sie haben ihn fortgetragen … Ja, weiß sie denn nicht, daß er auferstanden ist? dachte Georg verwundert und wollte es ihr sagen, aber nun war er am Grabe und sah hinein. Stufen führten hinunter, ein großer, fremder Mann lehnte halb sitzend unten an einem Tisch, vor ihm stand Bogner und sprach unaufhörlich, und der Fremde war Josef von Montfort. Georg dachte enttäuscht: so habe ich es mir nicht vorgestellt! und ging an der andern Seite zur Tür hinaus, wo er Magda und Renate ganz eilig in ein kleines, dunkles Tal hinuntergehn sah; er folgte ihnen, indem er dachte: Sie wissen den Weg ja gar nicht, nach Emmaus geht es doch auf der andern Seite! aber er konnte sie nicht einholen, da seine Knie sich nicht bewegen ließen, er blieb immer auf der selben Stelle, stöhnte und ächzte verzweifelt, konnte endlich die Füße einen um den andern sehr langsam vorbringen, aber nun waren die Beiden verschwunden, ihm war sehr beklommen, daß er sie hatte falsch gehen lassen, er bewegte sich mit qualvoller Anstrengung weiter, wußte, daß er viel zu spät kommen würde, sah aber nun ein helles Licht aus der Ferne nahn, einen Menschen, der einen strahlenden Silberkelch vor sich trug. Das Gesicht war das seines Vaters, aber der Mensch war sein Vater nicht, es war Christus, und Georg brach in Tränen aus vor unsäglichem Glück, daß er ihm hier entgegenkam, er legte den Kopf an jene Brust und weinte endlos lange, in namenloser Wonne, zu weinen.

Als Georg erwachte, war ihm die ganze Brust noch so voll von Tränen und Schmerzensglück, daß er die Trockenheit seiner Augen nicht begriff. Es war Nacht, der Fahrtwind umsauste kalt sein Gesicht, im mächtigen Licht der Scheinwerfer bog sich die Doppelreihe schimmernder Stämme vor ihm auseinander und gleichfalls die Doppelreihe von hohen und aufrechten, kalkweißen Steinen, ähnlich Leichensteinen, die zwischen den Bäumen am Grabenrand standen; dahinter war die erst dämmrige, dann dunkle Grotte der Wipfel, auf die der Wagen zuschoß, ohne sie je zu erreichen.

Georg suchte nach seinem Traum, aber es zerstob alles vor ihm, nur das sonderbare Wort, das Benno gesagt hatte, schwebte noch eine Weile vor ihm, hieß aber dann richtig Arkadien, worauf ihm einfiel, daß sein Korpsbruder Schwalbe ihm einmal die Birken seiner Heimat so beschrieben hatte. Seltsam, daß auch Montfort, dieser Träumedeuter, hineingeraten war … Und so blieb ihm schließlich nur sein Weinen unvergeßlich. Ach, dachte er, wo gäbe es eine Brust, an der sich so weinen ließe! – Renates gedachte er, nun würde er sie sehn, aber wie war alles anders! Er würde wohl für eine Weile mit seinem Vater nach Trassenberg gehn müssen, wenn der nicht etwa in Helenenruh blieb, aber seine Mutter würde doch jedenfalls in Trassenberg beigesetzt. – Da merkte er, wohin seine Gedanken voraufgeeilt waren, schalt sich erbittert, der Vers fiel ihm ein: Da hat uns wie den Jüngern das Herz gebrannt … aber das seine brannte nicht, ihm war kalt vom Winde und heftiger Erregung vor dem Kommenden. Frierend zog er seinen Mantel an, hockte vorgebeugt und trieb innerlich mit wilder Ungeduld Fahrer und Motor an, schalt halblaut, wenn immer wieder gebremst wurde, da ein Dorf durchkreuzt werden oder der Fahrer eine Wegtafel lesen mußte. Gottseidank! er erhaschte von einem Wegweiser das Wort Böhne und die Buchstaben km, aber die Zahl entging ihm. Nun wartete er in immer kälterer Erregtheit, endlich tauchten die ersten Häuser von Böhne auf; der Wagen rauschte laut und langsam durch dunkle Straßen mit wenig Laternen, an erleuchteten, großen und gardinenverhangenen Scheiben der Restaurants vorüber, über den schräg ansteigenden Marktplatz, wo innerhalb der Lorbeerbäume und Efeuhecken in Kästen vor dem erleuchteten Ratskeller noch Menschen saßen, dann in enge Gassen hinein, um eine Ecke, wo Georg durch eine offene Tür mit geriffelten Gläsern über drei Stufen die Ecke eines Holztisches sah, einen Kutscher in blauem Fuhrhemd vor der Theke, dahinter die blanken Messingkrahnen und unter einem bunten Öldruck der Kaiserin den Wirt, ein rotes Gesicht, der von drei Gläsern mit hellem Bier mit einem kleinen Brett den Schaum niederstreifte. Nun über die Brücke, das Wasser war von schwarzen Bäumen und Zweigen verhangen, der Wagen warf sich hin und her auf dem Kopfsteinpflaster der Gartenstraße, wo in der Tiefe der Gärten, hinter Bäumen und Gebüschen die weißen Landhäuser schliefen, und nun endlos die Eisenbahnstraße neben dem Plankenzaun hinunter; eine Rangiermaschine schnaufte roten Funkenregen, da flog der gelbe, häßliche Bahnhof mit erleuchtetem Zifferblatt links vorbei, sie waren auf der Landstraße, der Wagen ruckte an und schoß davon wieder in die Nacht, zwischen den Stämmen der schwertragenden Apfelbäume auf die dunkle Laubgrotte der Ferne zu.

Noch fünf Minuten, sagte Georg. Eigentlich mußte es eine schöne Fahrt sein durch die Nacht, aber er empfand es nicht, saß eiskalt und zitternd, die Uhr, deren Zeiger er nicht sehn konnte, in der Hand, an der Aufziehkurbel drehend, ganz heiß war die Uhr. Plötzlich tauchten Rampe und Fensterreihen und der vorderste weiße Turm von Helenenruh aus der Nacht, hell sichtbar im Scheinwerferlicht, es ging die Rampe empor, der Wagen stand vor dem erleuchteten Portal, aus dem ein Diener eilte, der den Schlag aufriß, und Georg sah Magda im Innern über der Stufenreihe, blaß und viel verweinter, als nach dem Tode ihres Vaters. Sie kam herunter, Georg verwickelte sich mit den Füßen im Aussteigen in die Reisedecke, strauchelte und fiel Magda in die Arme; er atmete den wohlbekannten Duft ihres Haares, als sie die Stirn an seine Schulter drückte, stammelnd unter heftigem Schluchzen: »Alle – – Alle – gehn fort! Esther, – und Papa, und nun –«

Also tot … tot …

Ja, es war furchtbar für sie, furchtbar … Georg streichelte ihren Rücken, sie machte sich los, trocknete ihr Gesicht, nahm seine Hand und führte ihn über die Treppen in den Klaviersaal, wo ihm Renate entgegenkam, schwarz gekleidet und mit verweinten Augen. Er warf den hellen Mantel ab und ging in seiner kalten, schrecklichen Beklemmung durch all die hellerleuchteten, fremd anmutenden Zimmer, voll steifer Möbel und großer, reicher Schränke mit Schnitzwerk oder Einlegearbeit, bis zum Zimmer seiner Mutter. In der Tür blieb er stehn.

Es roch stark nach Rosen. Der große und hohe Raum war mit Nacht gefüllt, in der Tiefe brannten zwei silberne Armleuchter mit vielen, rötlich strahlenden Kerzen; unter ihnen war ein weißes Lager, davor Rücken und Hinterkopf von Georgs Vater, der gebückt saß. Im Schatten hinter den Lichtern sah Georg die runden Wipfel von Lorbeerbäumen. Zu seiner Rechten sah er an einem, vor langer Zeit einmal erblickten, dunklen Empireschreibtisch unten die vergoldeten Löwenfüße schimmern, aus denen die Säulen wuchsen, dann auch das Gold an Eckenbeschlägen und den Knäufen kleiner Schiebladen; rötlich glänzte die Politur. – Georg stand furchtsam, hülflos, traurig und gelähmt. Endlich zwang er sich vorwärts zu gehn.

Sein Vater bewegte sich nicht. Georg blieb hinter ihm stehn, – es ist ja nicht meine Mutter, dachte er verstört und sah über einer goldenen Decke zwei steife, gelbliche Hände mit den Fingerspitzen gegeneinander gelegt; darunter kam ein Lilienkelch hervor. Dann steifes Leinen und Spitzen, eine Halskrause, und nun ein Gesicht, ganz klein, gelblich mit sehr hagrer und gebogner Nase, – mein Gott, wer ist das? – fragte Georg sich tieferschreckt und gewahrte nun die große, dunkle Locke, die unter der Ohrmuschel hervorquellend vorn auf den Spitzen am Halse lag, und sie erinnerte ihn an seine Mutter. Aber das Haar war in der Mitte gescheitelt, – nein, es war ein ganz fremdes Gesicht! und wie war dieser Mundwinkel seltsam gebogen! wie – hülflos …

Georg sah und konnte es nicht verstehn. Es ist, sagte er sich, es ist – ja, – es ist ein Gebilde, was ist es nur? Es lebt ja nicht, Gott, es ist ein Mensch, aber sie lebt ja nicht! Es kann sich nicht bewegen, und wie gelb es ist, – es ist ja gar nicht wie – wie von Natur, es ist – – erstarrt, aber – – das giebt es doch nicht … Ein Leichnam … dachte er schwer und fühlte sich fast erleichtert, da die Tote nichts wahrnehmen konnte. Oh Gott, dachte er zerknirscht, dies ist ja nur zum Begraben, was soll man damit, wo ist denn die Seele? –

»Vater –« sagte er leise.

Der Herzog bewegte sich, nahm das Gesicht aus den Händen und wandte es. Undeutlich sah Georg die vom Licht abgekehrten Züge, Augen, einen starrenden Bart und darüber, vom Licht durchsickert, das zerrüttete Haar. Eine Hand ergriff seine Linke und preßte sie schmerzhaft, dann stand er dicht vor der Toten, hörte eine rauhe Kehle etwas hervorstoßen und sich räuspern, dann die Worte: »Wohl ist ihr – – wohl – – und –«

Es brach ab; Georg sah, wie sein Vater den Kopf in die Hände stieß und sich schüttelte und so maßlos schluchzte, daß ihm selber die Tränen in die Augen stiegen, und er legte zaghaft eine Hand auf die Schulter unter ihm.

Wie sie Alle weinen, dachte er bekümmert und fremd. – Ach, sie weinten über das, was sie verloren hatten, – ja, freilich, – ich habe nichts verloren, dachte er bitter und vorwurfsvoll gegen sich selber. – Irgend etwas ward ihm plötzlich zuviel, er drehte sich um und ging leise wieder hinaus.

Im Klaviersaal fand er Renate und Magda am Harmonium. Renate saß, Magda lehnte müde, halb sitzend am Deckel. Sie sahen sich schweigend an, dann fragte Renate etwas leise, das er nicht verstand. Unfähig gegenzufragen, sagte er:

»Wie, wie kam es denn?«

»Gestern«, sagte Renate, zu Magda aufsehend, »ging es ihr so viel besser, nicht wahr? sie sagte noch, sie fühlte sich ordentlich jung. Den ganzen Nachmittag und Abend war sie mit uns zusammen. Heut morgen kam sie auf einmal zum Frühstück herein, – ich sehe sie noch, in ihrem gelblichen Morgenkleid, ich stand am Fenster, du warst noch nicht im Zimmer. Dann – dann frühstückten wir zu dritt, und auf einmal – sah sie uns groß an und sagte – ihr würde so sonderbar …« Renate schwieg. Ganz leise sagte sie dann: »Plötzlich – – plötzlich sagte sie: Ich glaube, ich –, senkte den Kopf und legte die Stirn auf den Tisch. Und dann – – dann fiel der eine Arm herunter.«

Renate schluchzte plötzlich auf und stammelte, das Gesicht im Taschentuch.

Georg hätte gern den Arm um sie gelegt, verbot es sich heftig und dachte: Darüber weint sie nun? Seltsam, worüber Frauen weinen.

Er ging wieder durch die Zimmer zurück zu seinem Vater und fragte ihn leise, ob er sich nicht niederlegen wolle, er selber würde wach bleiben die Nacht. – Eine Zeitlang blieb sein Vater unbeweglich, erhob sich dann, Georg reichte ihm seine Stöcke und fühlte sich plötzlich von ihm an die Brust gerissen und heftig geküßt. – Nun hat er nur noch mich, dachte er beschämt und angstvoll. – Er sah seinen Vater hinaushumpeln, stand noch eine Weile, ging dann durch die Zimmer zum Klaviersaal, löschte dort und zurückkehrend überall das Licht und setzte sich auf den Stuhl neben die Tote; aber bald schon stand er behutsam auf, fühlte Müdigkeit und ging zum Schreibtisch seiner Mutter. Im Stehen zog er diese und jene kleine Lade auf, sah Briefbündel darin, ein Medaillon, kleine Stöße alter Photographien, und öffnete endlich die breite Schieblade unter der Platte. Sie war unordentlich gefüllt mit hineingeschobenen Briefen, mit und ohne Umschlag, zusammengefalteten und ausgebreiteten Blättern. Obenauf lag eine Mappe, mit einem alten Brokatstoff überzogen. Georg nahm sie heraus, die Bänder hingen offen, er schlug die Deckel auseinander und sah, daß es die Verse waren, die er seiner Mutter zu Weihnachten abgeschrieben hatte, mehrere große Bogen ineinander. Auf der Titelseite stand in gemalter Lateinschrift der alte Sonnenuhrspruch: Vulnerant omnes, ultima necat. – Alle verwunden, die letzte tötet. Georg übersetzte es sich, an den Anfang eines Gedichts erinnert, das er nach dem Uhrspruch gemacht hatte. – Darunter stand: einige Gedichte für meine Mutter zu Weihnachten von Georg. –

Er setzte sich nun traurigen Herzens und dachte, die Gedichte zu lesen, warf einen Blick, halb andächtig, halb bittend auf die Tote zurück und las das erste Gedicht:

Jetzt bin ich jung, und es läßt mir der sanftere Abend
Oft die Beruhigung schmeichelnder Lieder zurück.
Sonst die Gedanken in alternder Schwermut begrabend,
Find ich in ihnen ein seltsam befremdendes Glück.

Werde ich alt sein, so möcht ich das Wunder am Morgen
Gerne erfahren, wenn Rosen das Zwielicht durchsprühn.
Daß mir doch einmal aus Feldern der kindlichen Sorgen
Lächelnd durch Tränen die Blumen der Freude erblühn.

Er sah noch eine Weile auf die stark geschwungenen, sehr ornamental gezogenen Buchstabenreihen und wagte nicht recht, eine Meinung von dem Gedicht zu haben, da er es gleichsam wie ein Totenopfer las. Er schlug die Seite um, – da sah er auf der, von ihm leer gelassenen Rückseite des Blattes Schriftzeilen von der Hand seiner Mutter, ein Gedicht, und es war dasselbe, das er eben gelesen hatte. Er schlug die nächste Seite um und hatte denselben Anblick, nur daß dort: Elegie stand, die Überschrift des zweiten Gedichts, und so fort durch die Blätter bis ans Ende, alle die Gedichte hatte sie sich abgeschrieben, sie hatte ja zuweilen über die Schwierigkeit geklagt, seine Handschrift zu lesen, – jetzt krampfte Georgs Herz sich zusammen, er dachte noch, welche Mühe das Abschreiben sie gekostet hatte, – sie, die überhaupt nur eine Stunde am Tage zu solcher Arbeit fähig war – denn sie hatte die Abschrift immer auf die Rückseite des Gedichts geschrieben, hatte also fortwährend hin und her blättern müssen … Georg fühlte seine Kehle zugeschnürt, es jagte ihm glühendheiß in die Augen, – so hat sie mich geliebt! dachte er noch, schlug die Hände vor das Gesicht, und im Bemühen, nicht laut zu sein vor der Toten, erstickte er fast vor Schluchzen in seinen Händen, rang mit sich, warf Kopf und Arme über die Schreibtischplatte, schluchzte laut, stand auf, wankte blindlings zu der Toten hin und fiel bei ihr nieder, stammelte, verbrennend in Scham: »Vergieb mir, o vergieb mir doch, Mutter, daß ich so schlecht –« und fand kein Ende mit Weinen, immer wieder von innen sich mit Anklagen und Vorstellungen ihrer Liebe, ihrer Einsamkeit, ihrer unsäglichen Verlassenheit und Armut emporstoßend, bis er erschöpft, heiß überströmt und aufgelöst in Schmerz sich im Stuhl wieder fand, am Schreibtisch, und begann weiter zu lesen. Er las die Schrift seiner Mutter, zuerst die Elegie und in ihr zuerst die mit Bleistift unterstrichenen Worte: Heiliges Kindheitsland, wo bist du? – und tiefer die ebenfalls unterstrichenen:

Aber es ist uns gegeben kein Raum uns zu ruhn, als zu Füßen
Hinzubetten uns dort, wohin wir abends gelangt …

– die ihn wieder zittern machten vor Mitleid, da sie ihm wie für sie geschrieben schienen. – Einige Zeilen unterhalb dieser Worte hatte sie eines nicht lesen können und eine Lücke gelassen; ›sicher‹ mußte es heißen; er wäre fast wieder in Tränen ausgebrochen bei dem Gedanken, daß sie immer eine Lücke hatte lesen müssen … Dann sammelte er sich und las:

Einer vergänglichen Welt entsproßt und seit alters leibeigen,
Seh ich entgleiten die Zeit, Sand in verrieselnden Sand.
Was ich empfange als Gold in die mühsamen Hände, es rinnt als
Staub, unfruchtbarer Staub auf den entfliehenden Weg.
Vor mir leuchtet der Pfad und erreichbar himmlische Landschaft,
Städte und Wälder, der Strom, Berge zum Äther getürmt,
Berge, beladen mit Wolken gleich Ballen voll göttlicher Schätze,
Hinter mir dämmert aus Nacht trostlos zerfallende Welt.
Finster im Zwielicht der Sterne, der ruhigen, kühlen, erheben
Sich die Ruinen, einsam, Mauern, ein Baum oder Turm.
Heiliges Kindheitsland, wo bist du? – ach, und mich fröstelt!
Stets auf der Wandrung, wie gern möchte zurück man, das Haupt
In dem Vergangenen ruhn, in bekannte, erleuchtete Räume
Treten, wo Wand auch und Bild grüßt und ist freundlich gesinnt.
Wo vor dem Schlafengehn man sicher sich fühlt und erleichtert
Nickt zu den Sternen hinauf, gütiger Müdigkeit froh.
Aber es ist uns gegeben kein Raum uns zu ruhn, als zu Füßen
Hinzubetten uns dort, wohin wir abends gelangt.
Ja, auch das Fremde ist gut; das Weib auf eigener Schwelle
Schenkt von dem Überfluß liebreicher Mienen auch uns.
Freundliches Wort gedeiht ja auf Erden, – die Züge auch Fremder
Scheinen nicht achtlos, und nur innen ist jeder für sich.
Innen tönt immer die Mühle, die eherne, welche die Körner
Mahlt der stürzenden Zeit: Immer gefüllt von dem Schwall,
Stehen wir tönend und rauschend im Ewigen, mahlende Mühlen,
Schwarz auf den dämmrigen Kreis der Horizonte gestellt.

An Lornsens Mühle dachte ich dabei, erinnerte Georg sich dumpf und drehte langsam das Blatt um. ›Klage‹ las er; in diesem Gedicht war nichts angestrichen.

Wir sind heimatlos, wir sind heimatlos,
Unsre Welt ist viel zu groß.
Unsere Lampen brennen viel zu grell,
Alle Wege enden schnell.

Dunkel schäumt in uns das Blut und läuft,
Sehnsucht, die nach innen träuft,
Hebt mit Geisterhänden aus der Bucht
Schwer empor des Lebens Frucht.

Oft – verfinstert sich ein Nachmittag –
Harren wir gewitterzag,
Schwüle drückt an unsrer Stirnen Rand,
Heiß und hastig seufzt das Land.

Doch, hier waren zwei kleine Striche seitwärts neben ›Rand‹. Seine Mutter hatte das Gedicht zuweit rechts angefangen, nun kam sie mit dem Raum nicht aus, – Georg betrachtete wehmütig ihre ein wenig englisch aussehende, sehr vorwärts flüchtende Schrift, mit langen, darüber fliegenden t-Balken, d-Haken und u-Strichen, die sehr weit und flach hingezogenen Verbindungsstriche zwischen den kleinen Buchstaben, die dem Ganzen einen Schein von straffer Flüchtigkeit gaben, und diese Art, die letzten Worte der Zeile, wenn der Raum nicht reichte, umzubiegen nach unten, so daß in diesem Gedicht fast alle Zeilen wie mit Haken am Seitenrand festgekrallt hingen. – Nun las er weiter:

Doch es wird nur Nacht und tot und dicht,
Fortgezogner Wetter Licht
Zeigt die Flur, ein bleiches Nachtgesicht,
Das umdunkelt und verweint
Fremd wie eine ferne Heimat scheint.

Neben den ersten beiden Strophen des folgenden Gedichts waren starke und lange Bleistiftstriche; Georg las:

O schwarzer Himmel in mir! und giebt es nichts
Denn, nichts, zu schmelzen mich? keine funkelnden
Azure glühender Sommer? und die
Bäume und Quellen und Vogelstimmen

Sind ganz umsonst? nur tiefer im feurigen
Gewoge voller Strahlen bewahrst du die
Furchtbare Starrheit und die Schwere
Schwärzer und drohender mir im Herzen …

– und erschrak, so sehr brannte sich jedes Wort, als sei es für sie geschrieben, in sein Herz, aber er hatte an sie nicht gedacht, nicht einmal, als er dies abschrieb für sie, hatte den Gram seiner so leichten Seele dahingesungen, und sie fühlte, ja, sie fühlte den schwarzen Schmerz im eigenen Kopf und die Blindheit und – – Verzweifelt und mit umdunkelten Augen las Georg weiter, fast aufschreiend, als er eine zitternde Linie, voraufeilend mit dem Blick unter den Worten: gekühlten Windes Balsam – fand:

O Gott der süßen Früchte und Amselschlags,
Der sanften Regen träufelt und schmelzenden,
Gekühlten Windes Balsam schüttet
In die geduldigen Völker der Ähren:

O senke einen kühlenden Strahl, nur ein
Aufküssend Säuseln über mein Heimatland,
Und tausend Ernten duften, tausend
Lerchen entschwirren, geblähten, feuchten

Gefieders, Tau und Schimmer und Blütenstaub
Dir auszuteilen, singendes Blau der Welt,
Und an die ewige Erde preß ich
Schluchzend den Mund und die Brust und weine.

Georg eilte hastig zur nächsten Seite, oh es war grausam, hier fand er die Worte unterstrichen: der Kranke seufzt, und seiner Stirn Gewicht drückt ihn zurück, – zu meiner Strafe! knirschte er sich an und las:

Aus dumpfen Wolken taucht der trübe Mond
Wie eines Kranken Antlitz aus den Kissen,
Die er schon viele Jahre lang gewohnt.

Mit müdem Blick, der nur begehrt zu wissen,
Ob noch im Nachbarhaus der Kranke wohnt,
Der näher schon als er den Finsternissen,
Daß ihn sein Anblick tröstet und belohnt.

Im Hause drüben glimmt herauf ein Licht,
Das wie mit Fingern, fahlen, leichenblassen,
Zitternd durch dunkle Fensterscheiben bricht.

Der Kranke seufzt, und seiner Stirn Gewicht
Drückt ihn zurück. Er seufzt und weiß es nicht,
Daß dort der Schimmer in der Nacht der Gassen
Nur Widerschein vom eigenen Gesicht.

Angstvoll schlug Georg die letzte Seite um. Nur noch ein Gedicht, – nein, hier war nichts unterstrichen, und er las, immer noch argwöhnisch:

Tod und Zweifel

Aus dem Haus der Freude ausgeschlossen
Jag ich mit den beiden schwarzen Rossen
Durch die finster schweigenden Alleen
Tief hinunter, wo kein Ende dämmert.

Auf den beiden nassen Rossensrücken
Stehend wie auf schwanken Nachenbrücken,
Hör ich ihren Atem schnaufend gehn
Und den Hufschlag, welcher dröhnt und hämmert.

Niemals kommt ein Ruf aus meinem Munde,
Bleich und stumm und traurig ist die Stunde,
Wo kein Stern und keine Lampe flämmert,
Nur die Ebnen seh ich, die sich drehn.

Plötzlich stehn sie keuchend still und zittern,
Und statt ihrer rauscht der nächtige Regen.
Einem Morgenrot, das sie nur wittern,
Schreien ihre Häupter dumpf entgegen.

Georg starrte auf die letzten Zeilen. Freilich –, etwas, das sie damals auf sich passend finden konnte, stand nicht darin, aber wie hörte er den dumpfen Schrei in dieser Nacht, aus der ganzen langen Lebensnacht seiner Mutter! – – Aber da standen ja noch Gedichtzeilen mit Bleistift auf einem Blatt, das unter die langen Heftfäden geschoben war, mit denen der Stoff des Umschlags innen zusammengehalten war, eine rohe und hülflose Arbeit, die sie selbst gemacht zu haben schien. Georg zog das Blatt hervor, es waren auch Verse, er las:

Mein Sohn war klein,
Mit schwacher Hand,
Warf alles um
Und nichts verstand.

Nun ist er groß
Und weiß genau.
Ich blieb im Haus,
Ich lahme Frau …

Ja, so sprach sie von sich, so sprach sie …

Doch weiß er wohl,
Wie's um mich steht!
Er giebt mirs zart,
Macht zu –

Vor Georgs Augen verschwamm alles, es würgte ihn im Halse, er ließ das Buch fallen, sagte stumpf das letzte Wort der Zeile »– und geht«, stand auf und ging durch die finstern Zimmer hinaus, trat an ein Fenster im dämmerhellen Klaviersaal, sah die Mondsichel glimmend und undeutlich über den Parkbäumen, glitt langsam auf die Erde nieder, schlug die Stirn gegen die Wand und stöhnte: Emmaus! – Er lag stundenlang am Boden bis zum Morgengrauen, aufbrennend in entsetzlicher Scham, in Verzweiflung, in Ohnmacht, bis er todmüde wurde, sich erhob, in das Sterbezimmer ging und, ohne einen Blick auf die lächelnde Tote zu wagen, sich auf ein Ruhebett ausstreckte und entschlief.

Rubinglas

Georg, als wäre brennendes Feuer hinter ihm, jagte aus Helenenruh zurück, wie er hingekommen. Langausgestreckt im Fahrsitz, das Steuerrad auf der Brust, die verengten Augen hinter den Brillengläsern stur gradaus gerichtet, vor sich her einschlingend das stabgerade oder eifrig sich windende Band der weißen Straße, konnte er doch keine Minute lang in dieser Lage aushalten, mußte sich aufsetzen, die Füße heranziehn, sie wieder von sich strecken, wieder liegen, – lag und ächzte leise vor sich hin, den Chauffeur neben sich vergessend, auf unerträgliche Weise gefoltert von dem einen Wort Renate, das in ihm herumrannte wie eine Quecksilberkugel im Spielzeug.

Oh lieber sterben, lieber sterben, als noch einen Tag, eine Stunde länger den Wahnsinn ihrer Gegenwart ertragen! Was das ist mit meinem Blut, weiß ich nicht, aber es muß wohl vergiftet sein, oder habe ich sie nicht vor einem Jahr fast täglich gesehn und sie ertragen? War ich blind damals? Geblendet von Esther? Warum ists denn jetzt, als wäre sie eine lohe Fackel von Wollust und Würde – oh satanisches Gemisch! – und ich griffe beständig hinein und brennte? Renate, ah – oh Renate! – In ihrem weißen Kleid, die lange schwarze Kette um den Hals, aber an Hals und Wangen, den schon bräunlich sich dunkelnden, in den blauen Lebensfeuern ihrer Augen, in dem unsterblichen Haar von zaubrischem Braun, in ihrer ganzen, von Süße, von Anmut, von Seligkeit, von hundertfach ausschmelzendem Dasein leuchtenden Gestalt – nichts von Trauer, – so war sie überall, erscheinend, im Grün der Wiesen, im Dämmergrün des Parks, als doppelte Phryne gespiegelt im Teich, auf der Terrasse, im Saal, bei Tafel, gegenüber zum – oh zum Sterben, zum Sterben! – Und dazu Magda, blaß, schwarz, ganz Jammer und Stille, und dazu Tod und Begräbnis und die Erinnerung an die Stunde der Scham, die Nacht und die hülflose Tote mit dem verzogenen Mundwinkel, jener Stelle, wo alles, was ohnmächtig, verzweifelt und ratlos in ihr gewesen sein mochte, entwichen war und seine Spur hinterlassen hatte … Es war mehr, als ein Mensch ertragen kann.

Cordelia, süße, gute, nun hilf mir du, ja, nun mußt du helfen! Ich verspreche dir, an keine andere will ich denken bei deinem Leib, – oh verdammt will ich sein, wenn ichs tu! – Sein Fleisch zuckte wütend nach Umarmung. Das runde, bleiche Antlitz im düster braunen Haar – wie einer elfenbeinenen Nonne in Eichenholz – die dunkelbraunen Augen in süßen Verwandlungen, die sie spielte mit ihrer zierlichen Kunst, lockten ihn unleugbar trotz des Feuers hinter ihm dieses – ah, dieses Dämons. – Nein, Georg, stöhnte er, nein, so wäre das nicht gegangen, wie du's dachtest. Dein Plan war ganz unsinnig. Giebs zu, Georg: was stelltest du denn vor – in ihren Augen? Ein halbes Nichts von einem jungen Mann, mit dem sich geistreich plaudern ließ. Eh du nicht mindestens etwas vorstellst, das innere Leistung zu verbürgen scheint – ist nicht an sie zu denken. Ja, aber nun bin ich fest. So gehärtet bin ich in diesem Glutofen immerhin, daß mich nun nichts mehr anbröckeln kann, und – innen umschließ ich mein Ziel. Das erreicht, dann – Platz da, der Heuwagen! Oh Teufel, diese Bauern sitzen auf ihren Ohren! Wollt ihr euch zum Henker scheren auf die andere Seite, ihr Sch –«

Der Wagen jedoch, haushoch beladen mit Heu unter Leinwand, wich und wankte nicht. Die Hupe brüllte, Georg schäumte vor Wut, aber sein eigener Wagen kam fast zum Stillstand, eh der Berg vor ihm sich zur rechten Seite der schmalen Straße hinüber bewegte. Aufschnarchend nahm der Motor die frühere Geschwindigkeit wieder auf, die Landstraße krümmte sich wie getreten, Fahrtwind brauste eiskalt, und zu beiden Seiten fächerte sich gelassen die schöne Weite des grünen Landes aus, sich ziehend und dehnend unter der großen Schattenbewegung des wolkengrauen Himmels, im kühlen Licht, von Sonnenbalken selten zu überraschender Lieblichkeit unterbrochen. Die Obstbäume an den Grabenrändern, vom seitlichen Windesansturm getroffen, taumelten und überbrausten sich, allmählich ward Georg ergriffen von der gierigen Lust des Vorwärtsstürmens, dem herzlichen Beben im Zwerchfell beim Lauschen auf die so innerlich ruhige, ehrenfeste Arbeit der vernünftigen Maschine, und dem geschmeidigen Freudegefühl am Mitwinden der Straßenbeugen im unmerklichen Drehen des Lenkrads. Sein Herz begann wieder ruhigen Schlag, er atmete eben und tief, schwermutvoller ward sein Empfinden zurück, zärtlicher, häufiger das Zucken voraus in der Vorstellung der Liebenden, im immer hastiger zerdrückten Gedanken der kommenden Lüste, denen er sich vergrößert zustürzen sah wie einen rädrigen Riesen von Metall. Wenn sie bloß im Hause ist! dachte er bänglich. Und also stob er dahin, vom Magneten schienenglatt hingezogen, gewaltig im Wagen, als wälze er selber sich den Weg, Dörfer spaltend, daß es krachte, Wälder zerfurchend, Dörfer wieder, und wieder hinknatternd über das endlose Band, das unter ihm hervorfliehend sich windende, aufseufzende Band der Straßen.

Da sprangen Takte in ihm auf. Worte alsbald:

Stürme an den Wäldern hin,
Donnre übers Brückenjoch …

Was war das? Ihm erschien, entgegenkommend auf hohem Damm, die Maschine eines Schnellzugs, vornübergeneigt in kolossaler Rüstigkeit, stämmig, ein Kentaur:

Eisenroß, das Morgen roch,
Mitten schon im Morgen drin …

Morgen? woher der Morgen? Ah, es war nicht der Anfang des Gedichts. Weiter:

Eisenhengst im Radgestampf …

Nein, so: Rase … Ja, mit hellem a-Aufklang:

Rase durch das Morgenland,
Eisenhengst im Radgestampf,
Glutgefüllt und lustentbrannt …

Ich vergesse den ersten Vers! Also – wie wars? Donnre – nein:

Stürme an den Wäldern hin,
Donnre übers Brückenjoch,
Eisenroß, das Morgen roch,
Mitten schon im Morgen drin.

Nun der Anfang … Doch indem klangen andre Worte:

Feld und Wiesen farbig lohn,
Hügel wandern – Hügel spenden blauen Rauch …
Hügel wandern blau im Rauch,
Silberblitzend winkt dir schon
Weißdorn und … strauch.

Ja, aber der Anfang, wie war …?

Rase durch den …

Und richtig: nach der zweiten Strophe umarmte der äußere Reim den innern, also:

Rase durch das Morgenland,
Jage durch den Nebeldampf,
Eisenhengst im Radgestampf,
Glutgefüllt und lustentbrannt.

Stürme …

Georg befand sich mitten in einer kleinen Stadt, die er für Altwedel hielt, bei langsamer Fahrt über Kopfsteinen. Vorübergehende, die sich umdrehend stehen blieben, Kinder, sah er noch glasig und verständnislos durch die inneren Gesichte, dann deutlicher düstere Läden, eine enge, aber augenscheinlich die Hauptstraße, jetzt zur Rechten ein Ungetüm von alter, gotischer Backsteinkirche, nur plumpes Schiff mit Dachreiter, – und indem gab es hinter ihm einen scharfen Knall. Ein Reifen war geplatzt.

Georg lenkte den Wagen an den Gossenrand und hielt, der Chauffeur sprang ab. Also Mittagspause, die ohnehin einmal hätte gemacht werden müssen. Daß ich bloß meine Verse nicht vergesse! – Eisenhengst im … »Welcher ists, Dietrich? Der Linke? Also eine halbe Stunde dauerts wohl?«

Kalt und ein wenig zittrig kletterte Georg aus dem Verschlag in einen Haufen schon vorhandener Kinder, löste den Halsschal und ging auf der Suche nach Speisegelegenheit, aber bei innerer Beschäftigtheit ohne etwas zu sehn, die Straße hinunter. Vor einem Schaufenster stehen bleibend, dachte er, abirrend plötzlich:

Es ist doch wundersam: alles ist nur Rhythmus. Wie mußte ich bei meinen Gedanken und Gefühlen vorher auf diese Verse verfallen? Der Rhythmus stanzte die Worte heraus. Und vor allem dies: daß man, ob das Gedicht nun schwermütig sei oder heiter, solange es sich hervorarbeitet, weder das eine sein kann noch das andere, denn da ist für kein eigenes Empfinden mehr Raum, nur die Form wirkt sich, dehnt sich und glüht und bewirkt in dem Stoff, in meinem Dasein, meinem ganzen Ich – dies absonderliche Gefühl von Angst – ob ich es richtig mache –, von Quälerei und etwas Lust, Angstlustquälerei … absonderlich …

Ratskeller, las Georg, den Kopf auf die linke Schulter geneigt, in schräger Schrift von unten nach oben jenseits eines rechteckigen, von Kugellinden umsäumten Platzes, auf dem Türpfeiler eines Kellereingangs. Ja, das getünchte Haus mit Säulen war vermutlich das Rathaus. Also wanderte er zum Wagen zurück, wies den Chauffeur an, ihn nach getaner Arbeit dort aufzusuchen, wo er Essen bekommen würde, und fand sich gleich darauf, nach zerstreuter Bestellung von irgendetwas an einen Kellner, wieder bei seiner Arbeit an einem runden Tisch, jetzt schreibend auf einem Blatt aus seinem Checkbuch, weiter hastend, zitternd im Schwung:

Immer riesiger flammt der Tag,
Tobend, jauchzend, hingerafft,
Spaltest du mit Götterkraft
Eichenwald und Tannenschlag.

Wirfst die Dörfer hart zur Seit,
Und die Ebne staunt und schwillt,
Wie dein Atem heiser schreit
Und du lärmst durch das Gefild.

Worauf er unverzüglich anfing, das Ganze von vorn durchzuarbeiten, jedes Wort aufzuheben, umzudrehn und wieder hinein zu prüfen, andre einzuwechseln, streichend, wieder streichend, hineinklammernd, endlich das Ganze noch einmal schreibend und nach mehrmaligem Streichen ein drittes Mal, worauf er, zum ersten Entwurf zurückkehrend, lauter Unwählbarkeiten fand und, erschöpft ins Leere aufschauend, nach einer Weile bemerkte, daß Schüsseln mit Essen vor ihm standen. Er aß, aber die Versworte, freiwillig gegeneinander weiter hadernd und sich versitzend, ließen nicht ab, ihn zu peinigen, er stand endlich auf, während eben der Chauffeur hereinkam, bestellte eine Mahlzeit für ihn und trat wieder ins Freie.

Ein leichter Regen wehte nieder. Die Kirche war protestantisch und daher geschlossen. Um sie herumgehend, fand er eine gebogene kleine Gasse, in deren Hintergrund er etwas wie die Auslage eines Antiquitätenhändlers zu entdecken glaubte und hinzuging.

In der Tat – es sollte etwas dergleichen sein, jedoch enthielt ein, das Schaufenster füllendes Regal fast nur Sachen von heute.

Ja – fiel ihm ein – und gesetzt, es wäre so, das einzige Empfinden eines Dichters beim Bilden des Gedichts wäre ein solches Mischgefühl von gequälter Lust und verzückter Qual – was wäre die Folge für das Gedicht, seine Farbe, die sogenannte Stimmung? Ein wahrhaft reines Gedicht könnte, das wärs, weder die Farbe der Trauer noch der Freude haben, sondern – sondern? Ein Mittel zwischen beiden, oder – mit einem Worte: Ernst. Und das würde – klassisch sein, weil harmonisch; das andre, das Zwiespältige dagegen wäre romantisch, – haben wir nicht einmal darüber gesprochen, Benno und Sigurd? – Ja, wo ist wohl Sigurd?

Ältliche Stehlampen sah Georg, schlechte Gipsvasen mit herausragenden Italienerköpfen, blindes Silberzeug in verstaubten Kästen – dick mit Staub überzogen voll Fingerabdrücke war alles –, ein paar Zinnteller, Steinkrüge, die übliche Perlentasche, ein Bündel Pfeifen mit Porzellanköpfen und schlechte Figürchen, ausgestopfte, ruppige Vögel, Pistolen und derlei Zeug, – und als er ins dunkle Innre spähte, ließ sich zwischen Tischen, Schränken und Kommoden aus den achtziger und neunziger Jahren noch eine hübsche Kirschvitrine bemerken, die unerkennbare Dinge enthielt.

Georg trat unter einem wimmernden Glockenlaut der Türe ein und erhielt Muße, sich umzusehn, bis aus dem hinteren Düster weiche Schritte hörbar wurden und aus einer niedrigen Tür eine bleiche und dunkeläugige Frau trat, ein Tuch um den Kopf, die Hände in der Schürze trocknend. Ein kleiner Junge, der an ihr hing, hatte das ganze Gesicht mit einem ekelhaften roten Schorf voll gelber Eiterränder bedeckt und wurde hart fortgejagt.

Einen Anfall von Ekel unterdrückend, fragte Georg nach der Perltasche, entdeckte, während die Frau dorthin ging, hinter dem Porzellangeschirr und den Tafelgläsern der Vitrine im untersten Fach etwas Dunkelrotes, öffnete und holte, freudig erstaunt, ein rotes Glas hervor, das ein wahrhaftig echtes Rubinglas war, ein grader Becher mit Fuß, ohne Verzierung, dick, hart und schwer wie Stein, nur wenig angeschrammt am Fuß, – ein Fund. Ja, war nicht etwa ein echtes Rubinglas das Kostbarste von der Welt? Und wie er nun ans Licht vortrat, den Becher hochhielt und das helle Blutrot im dunkleren, schwärzlichen aufglühte, inbrünstig, mächtig, wie der düsterrote Blick der ewigen Lampe im schwarzen Kircheninnern – er atmete den Weihrauch –, hatte er sonderbarerweise die starke Empfindung, so und nicht anders müsse Cordelias Blut sein.

Ich nehme es ihr mit, – oh – ah ja! aus diesem Kelch will ich dein süßes Blut trinken, dachte er begierig und überlegte, an den kranken Knaben erinnert, vor sich die ärmliche und verbitterte Frau, die ihr Kopftuch vor der Brust kreuzte, was ein Rubinglas für Cordelia wohl wert sein dürfte. Auf seine hingeworfene Frage, wie denn ein solches Geschäft ginge an diesem Ort, fing die Frau heftig an zu klagen, – er hätte ja wohl gesehn, was mit dem Jungen sei, der Vater sei seiner Wege gegangen und nicht aufzutreiben, das Geschäft habe sie geerbt, im Sommer ginge es ja wohl – Altwedel wäre doch Kurort –, aber im Winter komme fast niemand, sie verstehe auch nicht viel von den Sachen, und mehr dergleichen, was Georg zu peinlichem Mitgefühl und der Erwägung bewog, daß hundert oder tausend Mark für ihn dasselbe, tausend jedenfalls für ein Rubinglas Cordelias ein Preis sei.

Mantel und Rock aufknöpfend, um sein Checkbuch und den Füllhalter hervorzuziehn, murmelte er etwas beschämt, er habe zwar kaum so viel bei sich, wie er für das Glas zahlen möchte, aber sie würde ja wohl … und begann ein Blatt auszufüllen, was die Frau stumm abwartend geschehen ließ. Als sie dann den Zettel in Empfang genommen und gelesen hatte, fuhr sie los: »Ja, das wäre sowas! Sone Checks, da ist schon mancher drauf reingefallen! Und denn gleich Prinz, nee, da bilden Sie sich bei mir man nichts ein! Nee, mein Herr –« Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und stellte es hin – »das Glas kost fuffzehn Mark, wenn Sie nich zahlen können, denn lassen Se's ebent, denn bleibt das Glas hier.«

»Aber – aber mein –« Georg stand verdonnert, kümmerlich, und fing vor Aufregung wunderlich an zu zittern, während die Frau ihm seinen Schein in die Hand drückte. Nein, sie war gar nicht nett, die Frau, sondern sie war gemein. – Georg holte zitternd das Gold, das er bei sich zu tragen pflegte, aus der Hosentasche, legte ein Stück davon neben das Glas, nahm das an sich und ging hastig zur Tür, dieweil die Frau, die sein Gold in der Hand wohl bemerkt hatte, sich nun auf ihren Irrtum verbiß, erst murmelnd, dann lauter hinter ihm her schimpfte: »Wolln Se Ihre fünf Groschen denn nich raus haben? Son Schwindel! Erst wolln se einen beschuppen, un denn haben se'n ganzen Sack voll. Na wenn Se nich wollen …« Die Tür fiel wimmernd zu.

Schade! dachte Georg und erreichte, alles weitere Denken, aber nicht dies sonderbare Zittern unterdrückend, seinen Wagen. Alles war in Ordnung, er stieg ein und fuhr ab.

Ach so, dachte er dann, ich bin ja auch kein Prinz!

Und dann: Komisch! wie sie das gleich gemerkt hat!

Aber er kam nicht los von der Szene, sah sie immer wieder von vorn, und es fiel ihm auch ein, daß es vielleicht besser gewesen wäre, er hätte sie nicht beschämt mit seinem Gold, sondern ganz im ersten Glauben gelassen, indem er sie nun sah, wie sie sich zwar keine Vorwürfe machte, wie aber ihr Gemüt noch verbitterter wurde, und der Junge –, Georg sah ihn gegen eine Schrankecke fliegen und …

Mit dem Gedanken an den Becher in seiner Tasche tröstete Georg sich langsam, der kalte Fahrtwind kühlte sein erhitztes Gesicht. Es wird mich doch ewig verfolgen! seufzte er höhnisch. Aber Cordelia – ihr sage ichs heute. Es muß einmal sein.

Sogleich sah er mit angeregter Phantasie sich im Wohnzimmer auf dem Roßhaarsofa sitzen, sie am Fenster, wie sie gern saß, den Ellenbogen zwischen den Blumenstöcken auf der weißen Bank. Er hörte sich: Ich wollte dir schon immer etwas sagen, Cordelia, höre einmal zu … Ihre Antwort blieb undeutlich, etwas zu erfinden gelang ihm nicht gleich, – sie lachte wohl und sagte: Ich höre, mein Prinz. – Ja, und nun sagte er: Eben das ists, Cordelia, du sagst und du glaubst: Prinz, aber – du mußt wissen – ich bin das gar nicht. Ich bin …

Wie ungläubig war ihr Gesicht! Natürlich hielt sie es für einen Scherz, lächelte und – aber da, auf einmal, sah er ihr Gesicht deutlich, auf dem das Lächeln erlosch! Sie wollte das verhindern, allein – wieder sah ers: das Erlöschen der Freude, das Schwinden des Besitzes, den sie mit solcher Andacht umfaßt hatte, die Armut, die Traurigkeit … Sollte er sie wirklich berauben dürfen, sie, die an Glück doch wohl – was wußte er? – sehr arm gewesen war?

Aus den innern Gesichten aufblickend, fand Georg die Breiten der Viehweiden, ein nahes Gehöft, gelbe Haferstreifen und entfernte Wäldchen sonnevergoldet unter wimmelnden Schatten des Nachmittags. Der weite Himmel war ein leicht durchbrochenes Getümmel von Blau und weißem und grauem Gewölk. Wie schön! der Abend würde klar sein …

Ach, nun wieder das! Nun will wieder Mitleid mich stören und hindern, und schon weiß ich nicht mehr: Soll ich – soll ich nicht? Und: wenn ichs lasse, lasse ichs wirklich aus Gefühl für sie oder aus Furcht für mich?

Man müßte es auf die Gelegenheit ankommen lassen, vielmehr auf eine Gelegenheit passen. Warum so plötzlich erschrecken? Es kam eine ernste Stunde, ein Gespräch der bekümmerten Seelen, wo die schmerzlichen, aber auch die schönen Tiefen des Daseins sich öffneten und zur natürlichen Form des Lebens wurden, – wie wog dieses dann leicht, Geständnis und Sache selbst ging auf im großen Strome der Leiden, auf im schwesterlich natürlichen Verstehn, und ließ ein solches Gespräch sich nicht herbeiführen, leichter als leicht, mit ihr, der Bereitwilligsten, der so unsäglich Wandelbaren?

Ach, wenn ich sie nur erst habe! – Sein Mund sank ein in den weichen Marmor ihrer immer kühlen Brüste, seine Hand tastete nach dem Süßesten, seine Augen … Er riß sie krampfhaft auf, starrte durch Schleier auf ferne Punkte von Menschen oder Wagen zwischen den Baumzeilen, hörte den Motor donnern, setzte sich auf und schnob: Glutgefüllt und wutentbrannt! muß es natürlich heißen, nicht lustentbrannt …

Und es erschienen die Türme und der dunstige Häuserberg von Altenrepen …

*

Als Georg, eiskalt am ganzen Leibe, steif und zittrig dem Wagen entstiegen, durch das Gittertor spähte, gewahrte er gleich Hesekiel; Hesekiel mit seinem Höcker in einer wunderschönen, glänzend rot- und schwarzgestreiften Dienerweste, der sicherlich wieder etwas Merkwürdiges vorhatte. Er stand im gelben Kies oben auf dem Hügel vor dem Hause, einen langen roten Wasserschlauch zwischen den Beinen, und bemühte sich, die Petunien, die über der halbkreisförmigen kleinen Vorhalle vom Balkon hingen, von unten zu sprengen, was sehr schwierig war, denn der verfluchte Strahl ging immer darüber hinaus gegen die Wand und die oberen Hälften von Glastür und Fenster, und die Blumen selber, wenn sie getroffen wurden, warfen sich so gewaltig und wild nach oben, daß es schrecklich anzusehn war. Georg, der mittlerweile den Hügel mit seinem schönen, grünsamtenen Rasenbelag, mit Rosenstöcken, Gebüschgruppen und einer prachtvollen Blutbuche zur Hälfte erstiegen hatte, blieb stehn und rief: »Hesekiel, was machst du denn da?«

Ach Gott, das hätte ich nun wieder nicht tun sollen, dachte er dann, denn nun geriet Hesekiel, sein verkümmertes, spitzes und heißes Gesicht mit der wehmütigen Mundschnirre herwendend, in abscheuliche Verwirrung. »Ach, der Herr Doktor!« – es war unbekannt, ob Hesekiel sich diesen Titel ersonnen hatte oder vielleicht überhaupt nur Doktoren kannte – lächelte er freudig – allein was nun? Die Spritze hinlegen, deren Strahl sich triumphierend über ihm in die Lüfte bohrte, und zur Begrüßung hergerannt kommen, wie's ihm gelehrt worden war? Oder den Strahl erst abdrehn? oder zur Meldung ins Haus davonlaufen? – Das war zuviel für ihn, und so tat er von jedem den Anfang in wirrem Durcheinander; tastete nach der Schraube, lief ein paar Schritte gegen Georg vor, streckte die Hand mit der Messingtrompete gegen die Erde aus, wollte davonlaufen, ehe sie lag, und blieb endlich zwischen allem, geduckt, erschöpft und ratlos sich selber verlächelnd stehn.

»Na komm, Hesekiel,« sagte Georg, dem der Strahl jetzt knatternd entgegensprang, »leg mal die Spritze hin.« Hesekiel tats gehorsam und erleichtert. »So ists schön! Und nun kommst du und giebst mir die Hand.« Hesekiel kam glücklich und verklärt. »Ist die gnädige Frau denn zu Hause?« Hesekiel nickte und deutete mit dem Daumen. »Ja, sag mal, wie kommst du denn auf die Idee, die Blumen da oben zu sprengen?«

»I wollt halt so gern der gnä Frau – gnä Frau bissl Arbeit erleichtern.«

»Das ist brav, Hesekiel, denn man weiter!« Georg verließ den eifrigen Bediener der Natur und ging leise, nach den Fenstern spähend, zur Rückseite des Hauses, dessen grauer Stein und rotes Dach heiß glühte im starken Abendlicht, dieweil er dachte: Ach, Hesekiel! du hast eine schöne, dienende Seele im Höcker, – kannst du mir vielleicht sagen, warum die Frau so gemein war? Ach ja – ach! – du kennst nur Doktoren und weder Prinzen noch Nichtprinzen …

Georg blickte zu dem breiten Schiebefenster empor, hinter dem drinnen sein Bett stand, und siehe da, zwischen den weißen Geranien, die im grünen Gitterwerk drunter hingen, erschien die lange Tülle einer kleinen grünen Gießkanne mit gelben Reifen, und gleich darauf Cordelias Hand, Stirn und die beschäftigten Augen, die nach den Blumen spähten, und –

»Na?« sagte Georg.

Sie warf vor Schreck die Gießkanne herunter. Dann war sie verschwunden. Georg hörte ihre Absätze drinnen auf der Treppe und wartete glückselig, bis sie ums Haus gelaufen kam, aber zehn Schritte vor ihm anhielt, die Hand gegen die Hausecke stützte und ihn tief und inbrünstig anblickte.

Wie schön sie ist! dachte er stumm in diesem Blick. Das Kleid, das sie trug, von dunkelvioletter Seide, war auf unkenntliche Weise ihrem Körper umgewunden; es war eine Art Empire, jedoch fast geschlossen um die Füße, und eine ganz kurze Schleppe lag am Boden. Der schöne Busen atmete sichtbar mit beiden Wölbungen und hob auf der bloßen Brust das goldne Medaillon, in dem sein Bild und Haar war.

Im nächsten Augenblick hielt er sie umschlungen, ihr Gesicht an sich pressend, den Mund in ihrem Haar, flüsternd in flutender Erlöstheit: »Da bin ich wieder! Ach, ich konnte nicht mehr!«

»Ja, bist denn meinetwillen gekommen, Georg, wirklich meinetwillen?«

»Ja doch, Cordelia, warum denn sonst?«

»Aber – dein Vater?«

Sie sah ihn an durch Tränen unsäglicher Liebe und konnte nur die Lippen bewegen. Endlich fragte sie dann nach seinem Befinden; ob er nicht Ruhe brauche.

»Ja, ich würde mich gern etwas hinlegen. Und – sag mal – hast du was zu essen?«

»Ich werd schaun. Eier sind da. Und Salat. I werd halt schaun.«

Also wandelten sie umschlungen ums Haus, Cordelia verschwand in die Küche, Georg stieg ins obere Stockwerk hinauf. –

Die weiße Türe öffnend, mußte er den Atem anhalten, so erschreckend trafen ihn Glanz und Feierlichkeit, die der niedrige, kleine Raum vor ihm auftat.

Die tiefstehende Sonne flutete in vollem, glühendem Strom zu den Fenstern herein; Georg konnte zwischen den lodernden Gardinen und grünen Fuchsienstöcken – diese waren wie aus grünem Golde gehämmert – ihre brennend goldene Scheibe sehn. Der Raum, von güldener Woge erfüllt, glitzerte, funkelte und glänzte überall, die tiefe Lebendigkeit seines Alters, seine vielgenützte Würde und den Stolz der kunstvollen Erzeugung hier leise, hier vernehmlicher ansagend. An der rechten Wand, in den sehr dunklen Spiegelscheiben des holländischen Kastenschranks, der bis an die schweren Balken der weißgetünchten Decke reichte – Messinggriffe und Schlösser an den Schubladen blitzten wie reines Gold – dort war alles noch einmal, vertieft und dunkler zu sehn, geheimnisvoller: Sofa und Sofatisch gegenüber unter den Silhouetten in glänzenden Goldrähmchen und verblichenen Kreideporträten, von denen die dunkelblaugemusterte Tapete fast zugedeckt war, und daneben am Fenster – Georg wandte den Blick vom Gespiegelten hin und folgte dann selber hinüber – dieser Glanz war erstaunlich! Das flüssige Feuer lief in den vergoldeten Blätterleisten des hohen Spiegels, aus dessen Oberstück die arkadische Landschaft bläulich schimmerte, und, ein wenig vorgeneigt in der verschleierten Spiegelung des alten Glases wiederholte sich stiller, was auf der kleinen, goldhellen Platte des dünnbeinigen Birkentisches davor stand: der Abendmahlskelch, eiförmig aus dunkelblauem Glase, in silberne Rispen gefaßt, nach oben verlaufend vom Fuß wie die langöhrig ausgezogenen Henkel, zwischen denen der flache Deckel ruhte; dazu links und rechts von ihm starke, dunkelgelbe Kerzen in Messingleuchtern, – was alles flammte in seiner Ruhe und Heiligkeit.

Georg drehte sich um. Da überragte in seiner Ecke drüben der schmale weiße Ofen – stiller als alles übrige, weil vom vollen Leuchten nicht mehr erreicht – den Ofenschirm, dessen quadratischen Grund eine satte Schicht von grünem Feuer überzog um die roten und blauen Flügel seiner flatternden Papageien.

Georg blieb auf der Sofalehne hocken, fast schwermütig gestimmt; wovon? Von soviel Anmut, Lauterkeit und feurigem Leben? Womit habe ich das doch verdient? fragte er sich still.

Der Saum weißer Stifte, von dem die schwarze Roßhaarbespannung des Sofas gehalten wurde, war ebenso vergilbt wie an den breiten Stühlen, die den Tisch umgaben. Am kleinen Sekretär mit schräger, eingelegter Platte zwischen den Fenstern war die Fournierung hier und da gesprungen, eine Kante gesplittert, das Schloß war locker, ein Griff fehlte an einer der unteren Laden. All das gehörte sich so; es waren ehrsame Narben. Hatte Jason al Manach nicht einmal von den ererbten Dingen gesprochen? Georg wußte die Worte nicht mehr, allein hier redeten sie ja selber ihre gedämpfte, aber wie vernehmliche Sprache: daß sie hervorgegangen waren, einzeln wie die Könige aus einzelner Hand, die einsam von Grund aus sie gefertigt, liebevoll, verständnisvoll für ihr Ganzes, für unendliche Zeiten bestimmt zu dauern; und da waren sie wie damals, gealtert, viel genützt und unverbraucht, nur stattlicher in ihrer alten Erinnerung, ihrem Bewahrtsein, in der schlichten Gebärde, mit der sie um sich den Hintergrund schrieben, der zerfallen war: Menschen und Geschicke.

Ja, – und ich? dachte Georg.

Glänzend mit mächtigem Antlitz von Messing in ihrem die Decke berührenden Haupte stand die Älteste neben der weißen Tür, die standfeste Riesin, die englische Dielenuhr, die auch die Monate zu zeigen verstand; sie schlug langsam, wie im Geburtsjahr 1727, den selben gemessenen Pendelschlag, auf den hinhorchend Georg für lange Sekunden sich verlor. Sie tickt den Schritt der Sekunde, sagte er sich dann; das macht es so geruhig und wohltuend. Und wie vornehm, wie zurückhaltend war das gedämpfte Rücken im Gehäus! Ja sie war die Älteste.

Georg lächelte bitter. – Eigentlich sollte ja ich es sein. Ich, der sich einmal einbildete, mit Friedrich Barbarossa vor Akkon gelegen, bei Benevent für deutsche Sehnsucht gefochten und vielleicht das Leben verloren zu haben … Ihm zogen Georges Verse aus den Romfahrern durch den Sinn:

›Freut euch, daß euch ein fremdes Land geworden …
… Wie einst die Ahnen, denen dürftig schien
Die kalte Treue vor dem Fürstenstuhle:
Wunder der Welt und Sänger Konradin!

Durch euer Sehnen nehmt ihr ewig teil
An froher Flucht der silbernen Galeeren,
Und selig zitternd werfet ihr das Seil
Vor Königshallen an den Azurmeeren.‹

Durch euer Sehnen … Georg zitterte, er glühte von der triumphierenden Schönheit der Strophen. Durch euer Sehnen nehmt ihr ewig teil …

Ja, sein Teil war das. Sehnen – nach was? Nach oben doch, nach – nach sich selber zu immer höherer Geburt, besser zu werden, reiner zu werden, edler, tüchtiger, wissender … Was wollte er denn auf einem Thron?

Bin ich nicht glücklich hier? Hilfst du mir nicht, süße, teure Seele, mein Auge immer wieder nach innen zu lenken? Wohnt nicht vielleicht doch ein Gott dort innen und pocht ein ewiges Werk, pocht bei mir und wirkt bei dir in immer strahlenderen Farben das Gewebe unsäglicher Liebe? Habe ich nicht genug, ernst zu sein, unruhig zu sein im unaufhörlichen Verlangen nach Besserem? Wenn es denn schon keinen Gott giebt, das Ahnen des Göttlichen, den Zwang des Göttlichen, den Hauch von Jenseits in der Brust? Habe – ja, habe ich nicht etwas Neues für mich allein, dachte er erleichtert in der Erinnerung an seine eigenen Verse, Neues – nein, sondern Uraltes, Anfängliches, älter und edler und reicher sogar an Ahnen, abertausend Ahnen in unablässig geistiger Zeugung? Und mag mein eigenes Handeln als Bürgschaft solchen Ahnentums noch so bescheiden sein: der alte Geist hat doch Leben in mir und Bewußtsein. – Da stieg strahlende Heerschar vor seinen sinkenden Augen auf, Heroe gereiht an Heroe, Erzengel an Erzengel, unübersehbar, von George hinab zu Dante, zu Pindar, zu Homer, und wieder herauf im gewaltigen Schwung über unsterbliche Häupterschar zu Hölderlin, zu Novalis, zu George.

Georg legte nicht ohne Demut in der gedämpften Bewegung seinen Mantel ab, denn es trieb ihn, bei aller Abgespanntheit, seine Verse jetzt nicht unvollkommen zu lassen. Dabei schlug ein schwerer Gegenstand in einer Tasche gegen die Stuhllehne, er faßte, im Innern schon murmelnd und sich erinnernd: Hügel wandern blau im Rauch, – danach und holte geistesabwesend das Rubinglas hervor, lächelte flüchtig und wußte vor geistiger Abwesenheit, gleichzeitig nach Schreibpapier ausblickend, längere Zeit nicht, wohin er damit sollte. Endlich hatte er die Platte des Sekretärs herunter und auf die ausgezogenen Leisten gelegt, stellte das Glas nun ins Innere vor die kleinen Laden, öffnete Cordelias Schreibmappe, fand zum Glück einen Briefbogen, holte seine Niederschrift hervor und begann, das Ganze sorgfältig durchprüfend noch einmal zu bilden. Im Schreiben der letzten Zeile hörte er hinter sich die Tür gehn und sah im zerstreuten Sichwenden Cordelia, die ganz erschrocken schien, ihn nicht schlafend zu sehn.

»Komm nur, ich lese dir was vor«, sagte er. – »Wie du nur aussiehst!« erwiderte sie näher kommend, »ganz überwacht!«

»Schadt nichts, setz dich nur!« Sie blieb stehn, an den Kastenschrank zurücktretend, und er las, kräftig Takte herausfördernd und Reime:

»An den Schnellzug

Rase durch das Morgenland,
Durch den weißen Nebeldampf,
Eisenhengst im Radgestampf,
Glutgefüllt und wutentbrannt.

Stürme an den Wäldern hin,
Donnre übers Brückenjoch,
Eisenroß, das Morgen roch,
Mitten schon im Morgen drin.

Feld und Wiesen golden lohn,
Hügel opfern blau im Rauch,
Silberblitzend winkt dir schon
Hagedorn und Holderstrauch.

Immer voller flammt der Tag,
Tobend, wiehernd, fortgerafft,
Spaltest du mit Riesenkraft
Eichenhain und Fichtenschlag.

Schleuderst Dörfer hart beiseit,
Wo die Ebne staunend schwillt:
Wie dein Atem eisern schreit,
Wie du rasselst im Gefild.«

»Das ist ja großartig, Georg!« Beschämt ließ er sie ihm um den Hals fallen. »Wirklich, Georg, das gefällt mir! Das ist wieder gesund und beflügelt, nicht so wie die letzten, die warn auch schön, aber so wie kranke Blumen, weißt. Ja, nun mußt du schlafen, pascholl! – Aber was ist denn das hier?« – Sie sah das Glas.

»Ach, dein Glas, Cordelia, da hab ichs hingestellt! Hier, das hab ich dir mitgebracht.«

Still, während er sich entzog und zwischen Stuhl und Tisch hindurch sich ins Sofa zwängte, nahm sie das Glas an, trat zum Fenster und hielt es empor, so daß es augenblicks aufloderte wie ein Juwel, blutrot.

»Ach, Georg ist das schön!«

»Dein Herz, Cordelia,« sagte er, plötzlich taumelnd von Schlafverlangen, »dein Herz – mußt ich denken …«

Er hörte nicht mehr, was sie sagte. Noch vernahm er Schritte, leise, dann das Niederrollen der Rulos, Schritte, das leise Zudrücken einer Tür. Die Augen noch einmal öffnend, sah er, daß es dunkler im Zimmer war, goldbraune Luft, und daß vor ihm das rote Glas stand. Eine zärtliche Wallung verging, kaum sich regend, im schweren Rieseln der Umnachtung.


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