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Siebentes Kapitel: Mai

Klemens

Renate hatte mit Saint-Georges in der Kapelle musiziert; während sie die Noten zusammenlegte, Saint-Georges seine Geige verpackte, meldete das Mädchen Doktor Klemens; Renate dachte, ihm Bogners Engel zu zeigen, und bat, ihn herzuführen. – Saint-Georges putzte bedächtig die Kerzen vor der Orgel und an seinem Notenpult eine nach der andern, damit es hell genug sei. Dann erschien Klemens, blickte sich um, noch dicht an der Tür, verneigte sich, so tief er konnte, und sprach sie an: »Holder Geist! Welch unschätzbare Gnade für mich, Sie in Ihrem eigensten Reich begrüßen zu dürfen!«

»Bitte, reden Sie weiter,« lud Renate ihn munter ein, »Sie sind ja ein Redner!«

Klemens fuhr heiter fort: »Was ich sehe, erstaunt mich ungemein, und ich wähne mich im Traum oder verzaubert. Streitbare Engel sehen mich an oder schreiten auf mich zu, Musikinstrumente wie himmlische Waffen in den Händen. Kerzen! Rötliche Dämmrung! Und vor einer auserwählten Schar Gepanzerter in goldnen Harnischen erscheint mir die himmlische Peri selber, in dunkelrote Seide gekleidet wie in eine runde Glocke aus Abendhimmel. Alles ist äußerst erstaunlich!«

»Bloß von mir«, bemerkte Saint-Georges, »weiß er gar nichts zu sagen und unterschlägt mich schlechtweg. Guten Abend, Meister, was macht die Internationale, schläft sie oder wacht sie?«

Klemens kam nun herbei, reichte Renate und Saint-Georges die Hand, sagte drohend: » Noli turbare …!« stellte sich vor den nächsten Engel und versank in Schweigen.

»Nun hab ich so oft von der berühmten Internationale gehört und gelesen und sehe zum erstenmal ein lebendiges Stück von ihr«, sagte Renate, aber er schien es nicht zu hören. Nach einer Weile sagte er, tief Atem holend:

»Sechs sind es, wie ich sehe, und schon einer überwältigt. Ja, wer hätte das gedacht, als es eines Tages im Lyzeum hieß: Bob Bogner kommt nicht wieder, der ist weggelaufen. Internationale, sagten Sie? Ach,« meinte er abwehrend, »es giebt so viele, in diesem Augenblick weiß ich wirklich nicht, welche Sie meinen.«

Renate verlangte eine Erklärung, allein, in langen Pausen von einem der Engel zum andern gehend, schwieg er sich nach Kräften aus; beim vierten sagte er, die letzten zwei müsse er sich auf das nächste Mal versparen, setzte sich auf einen der Klaviersessel und fing halblaut an zu sprechen:

»Die Internationalen … Eine Vielzahl konzentrischer Kreise, und hier sehen Sie den äußersten. Die Internationale der großen, rasenden Kunst, ungeheuren Einmuts auf der Spur des alleinigen Gottes in aller Herren Länder, wetteifernd seit ewig im geheiligten Kriege, Engelscharen, Geniescharen, Heroenscharen, friedlich sich bekämpfend zum Ruhme Gottes, den zu mehren, den jährlich tiefer zu entflammen die einzig fruchtbare Schlacht seit tausend und tausend Jahren ohne Ende über die Erde dröhnt.«

Er stand auf. »Die Internationale der menschlichen Hoheit, deren Namen ich nicht wage auszusprechen vor ihrem erlauchten Antlitz, das ich sehe.« Sein Blick stand in so gerader Flamme gegen Renate, daß es sie mit seltsamem Schauder durchbohrte, und sie errötete noch tiefer, als schon seine Worte sie erröten machten. Dann nahm er ihr Lächeln auf, wandte sich zu Saint-Georges und fuhr fort:

»Damit er sich nicht wieder beklagt, begrüße ich in diesem schlichten Manne die herrliche Internationale des Geistes, der Wissenschaft, die Internationale der wundervoll friedlichen Eroberer in allen Räumen dieser Welt, zu Lande, zu Wasser, im Feuer und im Sturm, im Vogel und im Fisch und im ruhlos schweifenden Atom, Anfüller der unerschöpflichen Arsenale, Herolde, Propheten und Poeten, einmütig heiligen Zornes im unablässigen Grübeln über den Rätseln der unbekannten und der bekannten Welt, Ärzte, Heilmacher des wunden Geistes, der kranken Seele vom Weltgift. – Ich grüße«, sagte er mit einer kreisenden Handbewegung nach oben, »im unbekannten Erbauer dieses Raumes die nächste Internationale, vom Präsidenten Plutus regiert, auf deutsch: das Kapital, eine Internationale von ganz besonderer Einmütigkeit, also daß zum Beispiel, gesetzt es gäbe Krieg, sämtliche Angehörigen dieser Internationale in allen beteiligten Ländern wie ein Mann, Agrarier, Schwerindustrie und Banken, Dampf in allen Kesseln, sich abmühen würden zur Überwältigung des – Friedens.«

Er lachte lautlos. Renate dachte an ihren Onkel, kniff leicht die Augen zu und hörte ihn weiter reden, nachdem er zu der weißen Säule des Ofens in der Ecke gegangen war, dem er die Hand auflegte, während er sprach:

»Und ich begrüße Mittelkreis und Kern aller Internationalen in diesem Ofen und seiner Glut. Ich grüße die Kohle. Ich grüße den Mann im nassen Stollen, den Mann im sausenden Förderstuhl, den Mann in der explodierenden Nacht. Alle Mann grüß ich am bezwungenen Feuer, den Mann am Amboß, den Mann am Schalter, den Mann am offenen Feuerrachen mitten im ruhig fahrenden Schiff, mitten im Ozean, den Mann an der Setzmaschine, den Mann am Gebläse, den Mann am Webstuhl, am Strickstuhl, am Spinnstuhl, den Mann an der Nähmaschine, den ein und tausend Mann, der, schmorend als Kohle im feurigen Ofen, das Lied von der einen, meinen singt: Die Internationale! –«

Er schwieg. »Das war schön«, sagte Renate langsam. »Vielleicht denken Sie, ich sollte nun etwas andres sagen, aber« – sie wandte sich unschlüssig zu Saint-Georges um und schloß: »– ich weiß nichts andres als das. – Ich weiß,« fuhr sie, da Klemens den Mund öffnete, fort, »daß viele Tausend Mangel leiden, damit ich –« sie strich mit den Händen über die Falten ihres Kleidrockes.

»Nein, um Gottes willen, welche Verwechselung«, sagte Saint-Georges. Er ließ die Vorderbeine des Stuhles, auf dessen Lehne er im Stehen die Arme gekreuzt hatte, sich zu Boden senken, drehte ihn um seine Achse und setzte sich reitend darauf.

»Niemand, Renate,« sagte er, das Kinn auf die Lehne legend, »niemand will, daß du nicht bist, weil Andre in Not sind, sondern im Gegenteil bist du und dein Haus die Erfüllung all ihrer zartesten und tiefsten Träume und Wünsche, und sie wollen nichts weiter, als daß sie, wenn ein Haus voller Engel an ihrem Wege steht, hineingehn können, wann der Wunsch sie dazu treibt, und daß, wenn es Gott gefiel, eine Schale voll Musik über die Erde auszuleeren, der irdene Topf so geeignet sei, um sie aufzufangen wie der goldene Becher.«

»Ich glaube,« sagte Renate unbedenklich widersprechend, »Doktor Klemens sprach doch von denen, die Not leiden und –«

»Nein,« sagte Klemens, »ihr Freund hat recht. Ich fragte einmal einen Bierfahrer in Camberwell, ob er schon die Sterne gesehn habe, und dieser Bierfahrer sagte, er wollte verdammt sein, wenn ers getan hätte seit Sarah Pedgewoods Tode, denn er hätte keinen Tropfen Ale gesehn seitdem. Aber sehn Sie, doch geht dieser Bierfahrer auf nur zwei Gliedmaßen aufrecht, und daß er es tut, das ist der Beweis, daß er die Sterne sehn möchte, wenn er nur einen Sinn damit zu verbinden wüßte. Die Notleidenden? Nein, verehrtes Fräulein, die gehen mich nichts an. Not wird gelitten zu Lande und zu Wasser, zu Leibe und zu Seele, und wegen Essens, Trinkens und der Liebe brauchten wir keine Internationale zu gründen, sondern das bringt die Welt ganz von selber in Ordnung. Sie leiden nicht Not, sie, die ich meine«, sagte er hart und schlug leicht mit der Faust gegen den Ofen.

»Was dann, Georges?« fragte Renate.

»Ungerechtigkeit leiden sie«, sagte Klemens. »Knechtschaft, das ists, was sie leiden. Sie leiden, daß sie verbraucht werden in den guten Jahren, so daß sie darben müssen im Alter. Sie leiden, weil zehn Menschen in der Welt je tausend Äcker haben, und ihrer zehntausend haben zusammen einen. Sie leiden nicht, weil jener sich Gemälde kauft und dieser jeden Tag eine Frau, weil jener die Zigarre mit drei Mark bezahlt und dieser im Sommer nach Japan reist, sondern sie leiden, sie leiden unauslöschlichen Gram, weil sie keine Zeit haben, um Gemälde zu sehn und um an einem Sommertag im Grase zu liegen, denn weiter wollen sie nichts. Sie wollen und sollen nicht zehn Stunden am Tage arbeiten, auch nicht neun oder sieben, sondern allerhöchstens sechs, und ich sage, daß es dazu kommen wird, wenn nicht heute, dann morgen.«

Renate hatte, da er schwieg, Zeit über seine Worte nachzudenken und sagte nach einer Weile: »Mein Vetter, Erasmus, den Sie kennen, und Ihr Freund Herzbruch und Bogner, Ihr Schulkamerad, wie lange glauben Sie arbeiten die am Tage?«

Klemens lachte, kam bis dicht zu ihr, schüttelte den Kopf und sagte: »Der Geist, Verehrungswürdige, hörten Sie nie vom Geist? Nie, daß er es eben ist, der frei ist allein, und daß ich eben sagte: sie leiden Knechtschaft, sie wollen freien Geistes sein? Und übrigens: wenn ein Fabrikant sich durch seine geistige Arbeit zugrunde richtet, so ist das seine Schuld und geht niemanden etwas an. Sonst hat geistige Arbeit mit der schwersten körperlichen das Erhaltende gemein. Der Arm des Pflügers, des Holzfällers, das Auge des Bergsteigers, der Fuß des Matrosen sind mit siebenzig Jahren noch so scharf und sicher und kräftig wie mit zwanzig, und das Hirn des Forschers, des Erfinders ist es nicht minder. Was zermürbt, ist nicht die Anstrengung; was zermürbt, ist allein die Maschine. Das ist mein Gesetz: Wer eine Maschine bedient, soll dies sechs Stunden im Tag tun und nicht länger, soll es vierzig Jahre seines Lebens tun und nicht länger! Nur der Geist ist frei, und sobald ein Dichter nicht mehr das Recht haben soll, freiwillig zu verhungern oder wahnsinnig zu werden, und sie Gewerkschaften gründen zum Schutz ihres Geistes, sobald kann denn das Ganze zum Teufel gehn. Sie sagen vielleicht, ein Dichter, ein Weiser muß deshalb hungern, weil er zu früh geboren wurde, weil die Welt noch nicht reif sei für seine Werke, seine Erfindungen, seine Lehren. Ach, wie sähe es denn aus in der Welt, wenn jeder käme zur rechten Zeit, wenn alles grade sich einpaßte, wo ein Loch wäre, auch der Pfropfen, wo ein Geber, auch der Nehmer, das wäre so langweilig erstens wie Schwarzer Peter spielen, und zweitens möchte man dann ja wohl anfangen zu verlangen, daß auch Sonnenschein und Regen gleichzeitig auf den Acker fallen, und doch würde das dem Acker gar nichts nützen, sondern es ist wohlweise eingerichtet, daß der Nil nur einmal im Jahre steigt – wenn auch auf Kosten von einem Jahr unter zehnen, wo er gar nicht steigt, und einem, wo er zu hoch geht. Glauben Sie, daß ich die Welt verändern will? Glauben Sie es, Saint-Georges?« Sie lachten Beide, und Klemens lachte mit. Er war aber sehr erregt und fing gleich wieder an, hin und her gehend im Raum:

»Übrigens – Ihnen kann ichs sagen – bin ich nicht in dem Ausmaß international, wie Sie denken, bin ein Deutscher am Ende und sehe, daß die Not hierzulande nicht im entferntesten die Ausmessungen hat wie in andern, in England, in Frankreich. Und was heißt denn Not? Es giebt doch nur Ausbeutung und Arbeitslosigkeit. Arbeitsscheu ist eine Krankheit, oder Anormalität, was Sie wollen, wie Trunksucht. Ausbeutung und Arbeitsmangel bleiben bestehn. Arbeitsscheu und Trunksucht gehören mit Mördern und dergleichen in die Heilhäuser und Arbeitsanstalten; niemand gehört ins Zuchthaus noch aufs Schafott. All das wird nicht heute geändert, aber es wird geändert werden, dafür bürge ich. Tun Sie mir die Liebe und denken einen Augenblick nach. Wann fing das Unheil an? Im Mittelalter gab es keine Armen; es gab Sieche, alte Weiber, Krüppel und Soldaten, in denen sich die gesetzmäßig geregelte Arbeitsscheu verkörperte. Wer arbeiten wollte, hatte immer zu essen. Das Unheil begann mit der Übervölkerung und mit der Maschine. Wie alt ist die Maschine? Knapp hundert Jahr. Nun sehen Sie bloß mal an, seit einem halben Hundert Jahren fing man an, diese Not zu erkennen und zu studieren, seitdem sich alles mit reißender Zeit doch nur verbösert hat, und dabei können wir fröhlich und getrost sein, wenn in tausend Jahren das Blatt sich gewendet hat, dann, wenn man auch im Rächer seiner Ehre, im Totschläger, im Wüstling so wenig mehr einen Verbrecher sieht wie heute im Geschlechtskranken, der Frau und Generationen vergiftet, und im Säufer, der dasselbe tut. Ein Glied faßt ins andre, und keines von den kranken läßt sich für sich allein heilen, sie müssen alle schon im einen ihre Gesundung beginnen.«

Er hörte auf und stand wieder bei seinem Ofen still. Renate, hocherfreut, ihn reden zu hören, fragte, ihn weiter zu stoßen, was er aber damit habe sagen wollen, daß er ein Deutscher sei.

»Ganz einfach,« sagte Klemens, »ganz einfach!

»In Frankreich, sehen Sie, wenn ich da eine Rede halten will, muß ich anfangen: La gloire! – In Deutschland, wie muß ich da anfangen? Ich muß mit der Faust aufs Pult haun.« Er lachte: »Ha, ha, ha!« und freute sich königlich. »Was ich dann sage, ist schon gleich, ich muß erst mit der Faust aufs Pult haun. Deshalb nun,« sagte er verschmitzt, »deshalb wäre es nun doch ein Fehler, anzunehmen, daß in Frankreich der Geist herrsche und in Deutschland nicht. Sondern das Gegenteil ist der Fall. In keinem Lande der Welt ist noch der schäbigste Bierfahrer so durchdrungen vom Geist wie in diesem sonderbaren Land. Er hat die fremdartigsten Formen. Er geht in Potsdamer Grenadierstiefeln sehr häufig, übertrieben häufig. Aber er waltet, unsichtbar, jedoch er waltet. Vielleicht nicht die Kultur, aber der Geist ist tiefer hierzuland als anderswo. Deshalb, sehen Sie, beschränke ich mich auf dies Land. Wer schaffen will, kann seine Kreise nicht eng genug ziehen. Mißtrauen Sie meiner Behauptung? Soll ich Ihnen den Geist der Gewerkschaften nennen, noch einmal nennen? Die Internationale, das ist ihr Geist. Der Geist der Geistlosen. Der Geist der Geistigarmen. Und dies ist ihr ganzer, strahlender Reichtum; die Internationale ist ihr Reichtum. Ausgeschlossen vom Nabob, von den Betten der Reichen, träumt jeder sich weich im Arme einer Heerschar von Brüdern, sich reich im Bewußtsein seiner ungeheuren Kraft, im Gefühle, im Glauben, in der Erwartung der Stunde, wo der Riesenarm aus hunderttausend Armen zum Schlage ausholt. Die Internationale ist die große Romantische, die Cherubsarmee, der selbsteigene Trost, die dauernde Zuflucht, das große Asyl aller Obdachlosen, strahlend und gewaltig wie das Junifirmament über eine nackte Erde gewölbt.«

Eine Weile blieb es still im Raum; Klemens stand, die Hand gegen den Ofen gestützt, den Kopf gesenkt. »Ja,« sagte er aufschreckend, »ich muß nun aber fort, es wird höchste Zeit, ich muß noch zu meiner Schwester, heut abend geht mein Zug.«

Renate wollte eben verwundert fragen, ob er sie denn wirklich nur, um sich zu verabschieden, besucht habe, als Irene in Pelzjacke und Barett in der Tür erschien, während Klemens durch die Kapelle zum Podium kam, wo sie sich vom Stuhl erhoben hatte.

Irene verwurzelte sich im Eingang mit einem solchen Blick auf Klemens, daß Renate den Ausruf ihres Namens unterschlug. Klemens schüttelte ihr kräftig die Hand, indem er umherdeutend sagte: »Sonderbare Reden, die wir hier gehalten haben.«

Indem drehte er sich zu Saint-Georges um, sah Irene und fuhr mit den Schultern zurück. Dann biß er sich auf die Lippen, sagte: »Guten Abend, Frau Herzbruch!« und gab Saint-Georges die Hand.

Er ging zur Tür, Irene wich nun zur Seite und neigte den Kopf grüßend. Er blieb stehn. »Sie wußten vielleicht nicht, daß ich Otto bat, mich bei meiner Schwester zu treffen?« fragte er.

»Doch, ich wußte es«, sagte sie.

»Entschuldigen Sie nur,« rief er leicht, »ich dachte, Sie wären aus Zartgefühl hergekommen« Und ging hinaus.

Irene nahm eine Hand aus dem Muff und schob den Schleier hoch, ohne etwas zu sagen.

»Guten Abend, Irene!« rief Renate, während Saint-Georges zu ihr ging. Da stampfte sie plötzlich mit dem Fuß auf und schrie: »Gott sei dank! Gott sei dank, daß er weg ist! Lange genug hats ja gedauert!«

Unter der dreieckigen, fest um den Kopf gezogenen Mütze sahen ihre Augen diamantschwarz unter den Schleierfalten hervor. Sie ging mit harten Schritten zum nächsten der beiden Flügel, warf ihren Muff darauf, zerrte den Knoten ihres Schleiers am Hinterkopf auseinander, warf den Schleier auf den Flügel, riß die Pelzkappe ab und warf sie dazu und fuhr sich mit den Händen in die festgedrückten Locken, um sie aufzurichten; danach ließ sie die Arme fallen, machte einen Schritt, stützte die Hände auf die Hüften und blieb so stehn, mit hängendem Kopf, an der Unterlippe nagend. Renate sah alles mit an. Irene warf den Kopf zurück, trat rückwärts an den Flügel, legte eine Hand auf die Platte, trommelte mit den Fingern, sagte endlich:

»Ja, Renate, jetzt ists also aus. Nun hats eine Ende mit Schrecken genommen, das soll nicht schaden. Gott sei dank, ich habs durchgekämpft und brauche mir keine Vorwürfe zu machen.«

Was aus sei, fragte Renate unzufrieden.

»Na was! das mit Klemens!« Oh, Renate sollte schon wissen, wie sie gekämpft und sich erniedrigt habe! »Erst sollte es eine Probezeit auf acht Tage sein, damals –«

»Was sollte?« fragte Renate kurz, gestört von dem unverständlichen Hin und Her.

»Daß er im Hause blieb! Dann ist ein Monat draus geworden, aber hassen habe ich ihn gelernt, ach gehaßt habe ich ihn vom ersten Augenblick an, diesen Zerstörer, diesen Schönredner, diesen – Tanzenden! Herrgott, wie er mich verwundet hat, wie ich hab frieren müssen! Ich möchte wohl wissen, wie er gegen dich gewesen ist, eben! Auch so höhnisch und so metallen? Hat er das wohl gewagt?«

»Georges hat Hunger,« sagte Renate, »komm, wir wollen zum Essen gehn.«

Irene nahm wortlos ihre Pelzsachen auf, während Renate die Kerzen löschte, brauchte eine halbe Minute, um ihren Schleier zusammen zu raffen, folgte dann Renate, während Saint-Georges schon an der Kurbel der kleinen Glühlampe stand, die den Raum jetzt erhellte.

 

Während des Abendessens verhielt Renate sich schweigsam, innerlich unfriedlich, da der gestörte Nachhall von Klemens sich in ihr kreuzte mit Irenens drohender Entladung. Irene verhielt sich schweigsam, innerlich vermutlich bemüht, der vollen Schale ihrer Verdrießlichkeit, oder was es nun sein mochte, jeden Tropfen zu erhalten. Saint-Georges und sein Bruder schwiegen aus Zartgefühl; Erasmus schwieg wie immer. Jasons Kommen unterbrach die Stille nicht weiter, als daß die Begrüßungsworte laut wurden; er kannte ja kein eigentlich selbständiges Verhalten, stets entsprach nur das seine dem der Andern, und auch wenn er etwas Mitgebrachtes allsogleich hervorzog und dartat, schien es wie etwas Erwartetes so natürlich. Nur als Renate eben den Mund auftun wollte, um die Tafel aufzuheben, öffnete er den seinen, schüttelte unmerklich den Kopf und sagte, die stillen, glänzenden Augen auf Renate gerichtet:

»Weißt du, Irene, was Cervantes sagt?« Und nach einem flüchtig und leidend fragenden Blick Irenens, fuhr er fort: »Cervantes in seinem berühmten Buche Don Quichote de la Mancha, gemeinhin der Donkischott genannt, sagt: Ein Mensch ist nicht mehr wie ein andrer, wenn er nicht mehr tut wie ein andrer. – Es fiel mir grade so ein, als ich euch Alle so schön um den Tisch sitzen sah.«

Erasmus sah ihn an, wie Renate bemerkte, mit dem sonderbar heftig nachdenklichen Blick, den Jason ihm öfters entlockte. Sie hatten, soviel Renate sich erinnerte, noch nie miteinander gesprochen, doch schien Erasmus eine gewisse Ehrfurcht vor ihm zu haben. Jetzt blieb er an der Tür stehn, die Stirn wie immer leicht gesenkt und fragte zurück: »Wie sagten Sie? Ein Mensch ist nicht mehr –«

»– wie ein andrer,« fuhr Jason fort, »wenn er nicht mehr tut wie ein andrer. Sie sagen aber besser ›als‹ statt ›wie‹, ich habe die Übersetzung zitiert, und dann sagte ich es eigentlich nicht zu Ihnen.«

Erasmus nickte und ging hinaus. Die Andern standen still hinter ihren Stühlen, lösten sich nun, Saint-Georges sagte, er brächte seinen Bruder auf sein Zimmer und ginge dann nach Hause. Sie verabschiedeten sich, und Irene, Renate und Jason gingen in die Halle hinunter.

Der Kamin brannte hell, niemand machte Licht. Renate setzte sich ans Feuer und wartete ab; auch Jason setzte sich, nahm den Blasebalg, hielt ihn gegen die Flammen und ließ ab und an einen kleinen Seufzer in die Glut stöhnen. Irene, die hinter seinem Stuhl stehn geblieben war, schien nach einigen Minuten von der Wiederholung dieses Verfahrens nervös zu werden und sagte: »Aber Jason, was machst du denn?«

Jason versetzte still: »Ich unterhalte das Feuer.«

Renate lachte leise. Irene drehte sich um und fing an, im Dunkel des Hintergrundes auf und nieder zu gehn. Endlich trat sie hinter Renates Stuhl und sagte halblaut:

»Weißt du noch, wie ich früher zu dir gekommen bin und mein Herz verglichen hab an deinem? Meins war Angst und Sorge und deines Fülle und Sicherheit. Nun ja, wenn man so schön ist wie du … Seitdem bin ich lange ausgeblieben, und nun bin ich wieder da.«

»Ein Mensch«, sagte Jason, »ist nicht mehr wie ein andrer, wenn er nicht mehr tut wie ein andrer.«

Renate sah zu Irene auf; ihr rötliches Gesicht, eben noch vom Feuerschein erreicht, blickte mit durchsichtigen Augen ratlos gegen die Flammen. Renate sagte:

»Kind! Ich finde es ja sehr lieb von dir, daß du wieder zu mir kommst –«

»Jag mich nur wieder weg«, murmelte Irene.

»Ich dächte aber eigentlich: du hast doch nun einen Mann; oder kommst du vielleicht seinetwegen?«

Nach einer Weile wurde Irenes Stimme wieder aus dem Hintergrunde hörbar, tonlos: »Auch.«

Dann wars wieder still. Renate war des ziellosen Herumredens und Stehens schon ziemlich müde, aber Irene fing nun zu sprechen an, so daß Renate schon am ersten Wort merkte, sie würde so bald nicht wieder aufhören.

»Er nimmt mir meinen Mann weg«, sagte sie. »Ja das ist nun so.« Hastig redete sie weiter. »Erst sollte es eine Probezeit auf acht Tage sein, denn – ich sagte Otto gleich noch am ersten Abend, – ach, es war alles so sonderbar! –« Sie schwieg, fing aber nach Sekunden von neuem an. »Ich lag noch nicht im Bett, am ersten Abend, da hörte ich, wie die Beiden sich an den Kamin setzten und dann an zu reden fingen. Und nun dauerte das Stunden. Immer in Pausen. Viertelstundenlang sprachen sie unaufhörlich, am meisten Klemens. Dann wurde es still, ich wollte einschlafen, – da fings wieder an. Schließlich redeten sie immer weniger, Minuten und Minuten konnte ich sie förmlich schweigen hören und lag und wartete und wartete, und richtig: da fingen sie wieder an. Es war zum Verrücktwerden. Endlich macht ich Licht und saß mit der Uhr in der Hand, eine geschlagene halbe Stunde war kein Laut zu hören, ich dachte, am Ende sind sie doch leise weggegangen. Da zog ich meinen Kimono an, ging zur Tür und öffnete leise. Richtig waren sie noch da. Das Feuer brannte kaum noch, aber ich sah Ottos hellen Anzug, er lag längelangs im Sessel, hörte mich nicht, und auf dem Sofa lag Klemens. Nun fragt ich denn, was sie bloß machten, und warum sie nicht schlafen gingen, und Otto, halb im Schlaf, sagte glaub ich, er hörte zu, wie Klemens sein Bart wüchse, oder so was. – Aber nun ging Klemens doch, und – ja, dann stellte Otto mich zur Rede. Es war herrlich, er stellte mich –! Er hätte ihn doch jahrelang nicht gesehn –«

Renate dachte: Was erzählt sie mir da? Sie hat eine Nacht nicht schlafen können und – Irene hastete weiter, klagend und eintönig:

»– und – ja, ich weiß heut auch nicht mehr, was er sagte, und ich entschuldigte mich auch, denn ich weiß ja, ich bin im Unrecht, er ist sein Freund, und sie kennen sich lange, und sie sind Männer, und ich bin nur eine Frau, und ich kann nur sagen: ich mag ihn nicht!«

»Ein Mensch ist nicht mehr als ein andrer,« sagte Jason ruhig, »wenn er nicht mehr tut als ein andrer.«

»Hab ich denn nicht mehr ein Recht zu sein, wie ich will?« begehrte Irene auf. »Hab ich kein Recht als deine Frau? sag ich zu Otto. Und da, – ich sprach grade noch von seinem rodomontierenden Wesen, seinem breiten Bart, und wie er die Worte setzt, alles, was mir so – so – ich weiß nicht! – und seine unsichtbaren Augen … Auf einmal steht er wieder in der Tür und muß wohl gehorcht haben, es war ja auch nur der Vorhang dazwischen und sagt, – ja, was sagte er doch noch …«

»Ein Mensch,« sagte Jason, »ist nicht mehr wie ein andrer.«

»Jason! – Er sagte: weil ich von Rechten geredet hätte … Er wollte auch von Rechten reden. Meine Ehe, die wäre eine Jammerleistung, ich hätte nicht mal Kinder, und sie wären zwanzig Jahre Freunde, und ich bloß zwei Jahr verheiratet. Ja, und es wäre zum Tollwerden, sagte er, und ich sollte doch erst mal lernen, was eine Ehe ist, ehe ich mich an einen Mann hängte. Oh, es ist uner–, unerhört ist es!«

Renate hörte sie aufgeregt hin und her laufen. Jason hatte es sich im Sessel bequem gemacht, die Hände vor dem Magen gefaltet und schien jetzt aufmerksam zu lauschen.

»Wie gings nun weiter, Irene?« fragte er, »du erzählst sehr anschaulich. Was hat Otto denn nun wohl gesagt? Sagte er nicht, daß Klemens weder Vater noch Mutter gehabt habe und nicht einmal wüßte, wer sein Vater ist, ein Student zum Beispiel, oder ein Großherzog? Sicher hat er etwas Ähnliches gesagt und wahrscheinlich auch, daß Klemens gehungert hätte für drei und gearbeitet für zehn. Nun, ein Mensch ist nicht mehr als ein andrer.«

Renate sah Irene hinten auf einer Sessellehne sitzen und die Achseln zucken. Jason wüßte ja alles, sagte sie, es sei schon so gewesen. Ja, sie hätte auch gesagt, daß sie ihn, Otto, nicht so lieben könnte, wenn Klemens daneben stünde, aber sie sei schon müde gewesen, und da habe er denn diese Probezeit von acht Tagen verlangt, aus denen dann Wochen geworden wären, und sie hätte ihn ja auch wenig gesehn, nur bei den Mahlzeiten, da er sonst im Zimmer ihres Schwagers gearbeitet hätte …

»Ja, Albert Vehm,« sagte Jason, sich aufrichtend, »gut, daß du den Namen nennst. Ein Mensch ist nicht mehr als ein andrer, aber was ist mit ihm?«

»Er ist weg. Wir wissen jetzt, wo er haust; bei einem Bauern aus seiner Praxis, aber niemand bekommt ihn zu sehn.«

Da sah Renate ihn wieder am Zaun stehn und hörte ihn fragen: Und die Kinder …? Renate schreckte leicht auf, da Irenes Stimme auf einmal dicht über ihr fragte: »Bist du abergläubisch?«

»Nun ja, wie man so ist,« gestand sie halb lachend, »Katzen und Sternschnuppen und Spinnen, und wenn das Streichholz nicht anbrennen will, daß man sich sagt: das und das wird geschehn, wenn … aber –«

»Ja, so ähnlich,« sagte Irene, »jedenfalls hab ich mir ausgedacht, daß in diesen acht Tagen irgend etwas geschehn sollte, das mich bestärkte oder veränderte gegen ihn, aber natürlich ist nichts geschehn, bloß daß er mir immer unangenehmer geworden ist, und dann hab ichs eben langsam immer weiter ertragen, und –«

»Was war denn nun zu ertragen?« fragte Renate kühl.

»Gott, Renate, daß ihr Beide gegen mich seid, das weiß ich ja längst, und wie soll man denn das auch beschreiben? Die Worte machens doch nicht, das macht doch das Gesicht und die Haltung und die Tonart und alles, oder meinst du, man kann sich da irren, und ich hätte mir bloß eingebildet, daß er es förmlich drauf anlegte, mich aufzubringen und zu empören und –«

»Oh das kann ich mir sehr gut vorstellen«, sagte Jason. »Wenn einer so in die allgemeinsten Dinge eine Spitze hineinsteckt, und man kann nichts sagen, denn da ist gar nichts zu sehn, aber innerlich möchte man aufschrein, nicht wahr, Irene? Und dann so dies: obenhin … Wenn man sich grade so schön vorgenommen hat, geduldig und artig zu sein, und tut eine bescheidene Frage und kriegt auch eine Antwort, aber was für eine! – So nach einer Weile, als ob sie erst abgeleckt wäre von allen Seiten, so aus dem Mund geholt wie ein Matrosenpriem und auf die Tischkante gelegt zum Trocknen, ja, das kenne ich ausgezeichnet. Wirklich, ein Mensch tut nichts andres als ein andrer.«

Irene antwortete nicht, aber Renate fing an, sich ernstlich zu sorgen, da sie immer geschwinder und wilder durch den Raum hin und her fuhr, die Hände geballt und mit verwirrten, weggeschleuderten Blicken.

»Wenn Otto mir sagte,« rief sie hart anhaltend, »Klemens könnte keinen Widerspruch vertragen, es sei überhaupt alles Beherrschung an ihm, außer man wäre sachlich oder sächlich, – was weiß ich, ich bin weiblich! – – was blieb mir denn übrig als stille zu schweigen?«

»Gut, Irene, ausgezeichnet!« lobte Jason, »damit trafst du das Richtige.«

»Schweig, Jason! Und immer hackte er auf meiner Kinderlosigkeit herum! Nein, höre, da fällt mir etwas andres ein, was er sagte. Einmal konnt ichs nicht lassen und fragte, was das denn eigentlich für eine Freundschaft wäre, wo einer sich um den andern jahrelang nicht kümmerte. – Das wäre das Feine dran, sagte er. So, sage ich zu Otto, und wenn ich mich jetzt zwei Jahre Gott weiß wo herumtreibe, dann ists dir wahrscheinlich auch egal. – Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, sagt er. Ist das nun vielleicht eine Antwort?«

Glühäugig stand sie da und blickte Renate an. Jason machte erstaunte Augen.

»Ich hatte gedacht,« sagte er, während Renate ein Lächeln verbiß, »du wolltest von Klemens reden? Nun,« sagte er und zog sich befriedigt zurück, »du hast ja recht: ein Mensch ist nicht mehr wie –«

»Ja, nun verwechsle ich sie schon«, murmelte Irene, kniff den Mund zu und sagte böse: »Einer ist mir so fremd wie der andre.«

»Höre mal übrigens,« fing Jason an, »du hast das wohl auch verwechselt. Klemens redete von Freundschaft, und du von Ehe.«

»Ah, sieh, Jason!« höhnte Irene spitzig, »du hast wohl auch seine Meinungen über Liebe und Ehe und so.«

»Wenn du mir die seinen vielleicht sagen möchtest …« meinte Jason.

»Also, einmal frage ich ihn ganz bescheiden, ich hätte eigentlich noch immer etwas Zeit übrig, namentlich im Winter, ob er nicht auch meinte, daß ich mich fürsorgerisch betätigen sollte. In meinem Staat, sagt er, gewiß nicht. Er bemühe sich seit zehn Jahren, das Recht auf Kindersegen für jede Frau durchzusetzen, und ich prätendierte das Recht auf Kinderlosigkeit. In seinem Staat, und so weiter, und ob ich eigentlich wüßte, wieviel Frauen ich die eigentliche Vollendung ihres Daseins wegnähme. Ja, weißt du, warum? Weil ich einen Mann für mich beanspruche, von dem andre Kinder haben könnten. Und damit –« ihre Stimme wurde heiser und überschlug sich, »kletterte er im Handumdrehn zu der Behaup–« Ihre Stimme versagte, sie mußte husten und hörte lange Zeit nicht auf.

Das sei aber mal nichts Besondres, meinte Jason enttäuscht; nein, das fände er nun äußerst natürlich und wahrheitsgemäß geredet. Ob er denn sonst nichts gesagt hätte?

Sie hätte es wohl vergessen, murmelte Irene matt, es sei ja auch gleich.

Renate sagte, damit könnte sie wohl recht haben, denn sie hätte wohl gleich gemerkt, daß es sich hier wie immer nicht um das Was handle, sondern um das Wie, und Irene habe sich ja auf unbegreifliche Weise haßerfüllt und abgeneigt von vornherein gegen Klemens gezeigt … Sie brach ab, da sie Irene in ihrem Sessel hinten, ohne hinzuhören, sich nur angestrengt besinnen sah. Gleich darauf fing sie auch an: Lieben, hätte er einmal gesagt, lieben könnte man doch nur, was einem fremd sei. »Wie? frage ich. – Zum Beispiel: Gott, sagt er. – Gott? frage ich erstaunt, und da fällt mir natürlich Otto ein, und ich frage, ob er vielleicht behaupten wollte, daß Otto mir fremd wäre. – Er wäre überzeugt, unterbricht er mich, daß es nichts gäbe, was einander fremder wäre als zwei Menschen, Mann und Weib.« Jason spitzte die Ohren. »Mein Mann ist mir lieb, nicht fremd, sage ich. – Abgesehn, sagt er, von der Logik, was meine Ehe denn für eine Kunst wäre. – Liebe, sage ich, nicht Ehe. – Ah, sagt er da und tut hocherstaunt, Sie wissen also doch sehr gut, daß Liebe und Ehe nicht das geringste miteinander zu tun haben. – Ich falle aus allen Wolken und sage: Was? – Denn Liebe, doziert er so recht pedantisch, Liebe ist ein Gefühl, und Ehe ist eine Einrichtung.«

»Nun, da haben wirs«, sagte Jason entzückt. »Ein Mensch kann nicht mehr tun als ein andrer, aber dies war ja nun sehr ausgezeichnet, ein ganz ausgezeichnet wahres Wort! Ich möchte fast glauben, daß er es mir abgelauscht hat. Immer und immer habe ich das gesagt: Liebe und Ehe, die beiden haben miteinander genau so viel und so wenig gemein wie das Leben und der Tod. In der Ehe nämlich herrscht das Gesetz, ja bis in die allerkleinste Wallung und Verrichtung des alltäglichen Ehelebens hinein waltet der Geist der Verträglichkeit auf Grund des Vertrages. Was aber tut das Gesetz? Es tötet. Es tötet ab, es erstarrt. Die Ehe ist recht eigentlich die Idee aller starren Systeme, aber nun, wie es im Liede heißt: Media in vita – mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen. Mitten im Leben der Liebe vom Tode der Ehe umfangen und dennoch höchst lebendig, wohlwollend, verträglich, hülfreich und gut zueinander sein, – das wäre die Kunst der Ehe.« Sprachs und glitt zufrieden wieder in seinen Sessel zurück. Irene sagte nichts.

Wie rauh und schwächlich, aber auch wie traurig hatte Irenes Stimme doch geklungen; Renate hörte es nun erst, wo sie erloschen war. Sie hätte gern etwas Tröstliches geäußert, aber alles, was sie hörte, brachte keine Begriffe in ihr hervor; es war wie das Plätschern eines Wassers, dem Wehmut und Abgeschiedenheit anzuhören ist, doch bleibt es die betrübte Stimme eines Baches, eine fremde, nicht zu unterbrechen oder zu enden mit Zusprache oder Streicheln.

»Und nun hat er ja recht behalten«, kam ihre Stimme wieder zum Vorschein, erloschen und trostlos. »Otto ist mir fremd geworden. Vielleicht ist ers immer gewesen, ich weiß ja nun gar nichts mehr. Früher glaubt ich all seine Gedanken zu sehn, jetzt muß ich oft seine Stirn ansehn und denken: Was ist dahinter? habe ich etwas damit zu tun? – – Wie einfach, wie natürlich war nicht alles! Es war nicht groß, du lieber Gott, es war keine Kunst! aber es paßte doch zu uns, und ich wars zufrieden. Nun heißts: es ist keine Kunst, und ich muß über die schwierigsten Sachen nachgrübeln. Manchmal ist mirs schon gewesen, als sei es ganz gleichgültig, ob Otto und ich zusammenleben oder irgend zwei Andre.«

Jason lächelte hier still und friedlich vor sich hin. Renate mußte denken: Er scheint es ja recht leicht zu nehmen … Irene stand auf, hielt den Kopf gesenkt und zerrte an ihrem Taschentuch.

»Ich weiß ja, ihr wollt mir nicht helfen«, sagte sie, Tränen dick in der Stimme.

Jason erhob sich. »Ich gewiß nicht, Irene,« sagte er aufrichtig, »obgleich ich nicht weiß, was dir eigentlich fehlt. Nein, ich freue mich im Gegenteil, dich in einer derartigen Verwirrung zu sehn. Verwirrungen erhöhen die Lebhaftigkeit des Daseins und machen die Ruhe angenehm. Nichts ist süßer, als auf dem Sofa liegen nach einem schönen Schwindelanfall. Dir kann ich noch nicht helfen.«

Noch? was das heißen solle, noch?

»Oh nichts so Bestimmtes«, meinte Jason. »Ich wollte bloß zum Ausdruck bringen, daß ich nichts anzufangen weiß mit Leuten, die dastehn und schreien, sie fielen um. Wenn einer an der Erde liegt, so will ich ihn aufrichten; ja, dazu mache ich mich anheischig.«

Plötzlich stampfte Irene mit dem Absatz auf und schrie: »Herrgott, warum muß denn nur alles so verkehrt kommen! Warum liebt ihr euch denn nicht, Klemens und du, statt daß –« Sie brach verwirrt ab. »Nein, wir hassen uns ja …« Sie schien völlig den Faden verloren zu haben, schüttelte sich auf einmal, kam auf Renate zugeflogen, warf sich vor ihr an den Boden, umschlang sie und schluchzte jammervoll:

»Ach, ach, ich muß dirs ja gestehn, ich hab mich nur so herumgeredet, es ist ja so eine furchtbare Schande, aber ich muß –« sie schüttelte sich krampfhaft – »ich muß es dir sagen, er hat – er hat mich – er hat mich ja so wahnsinnig gedemütigt! Ach, angeschrien hat er mich wie ein Sinnloser, niedergedonnert hat er mich – ach, Otto! Otto!«

»Wie, Otto hat …« fragte Jason.

Irene sprang auf und flammte ihn an. »Otto, bist du ganz rasend? Er, er, er, Klemens! Auf einmal ist er ganz blau im Gesicht geworden, ich weiß nicht, ich muß ihn wohl gereizt haben, und dann hat er gelärmt …! Was das für eine Schande mit mir wäre, dies kindische Wesen, und alles Alte hat er wieder aufs Tapet gebracht, und ich gönnte ihm seinen Freund nicht, und den Mund sollte ich halten und –«

Ihre Stimme erstickte wieder. Renate konnte es nicht mit ansehn, wie sie dastand und sich erniedrigte, schüttelte den Kopf, mußte sich aber nun doch sagen, daß an allem schließlich etwas Wahres sein müsse, nicht alles allein Irenens Schuld sein könne; sie konnte sich aber in der Erinnerung an den Nachmittag mit Klemens ihn in keiner ungebührlichen Haltung vorstellen.

»Wie du dich erniedrigst, Irene!« entfuhrs ihr unbedacht. Irene zischte wieder empor.

»Ich will mich erniedrigen!« schrie sie wütend. »Und was er schaffte, das sei mehr wert … brüllte er, und eine Stimme hat er gehabt, daß alles Glas nur so klirrte, und die Wände haben gezittert, und ich saß da wie versteinert. Das in meinem Haus!« Fliegend, jauchzend, zitternd, frohlockte sie: »Wahnsinnig hasse ich ihn, wahnsinnig! o ich hasse ihn, ich hasse, ich hasse ihn. Käme er nur, käme er nur noch einmal und … ach, ich wollte, er täte es noch einmal!«

Das könnte sie haben, meinte Jason gefällig, er hörte Klemens eben draußen klingeln.

Renate vernahm seine Worte nur halb, mit den Augen an Irene hängend, die wie eine Eumenide vor ihr wogte, die Arme schleudernd, als stäken Dolche in den Händen, und alle Locken hatten sich aufgerichtet um ihren Kopf und bebten und zürnten mit.

»Wißt ihr, was er getan hat?« zischte sie. Mit funkelnden Augen von Renate zu Jason und zurück, hob und krümmte sie den rechten Arm, hob die Hand und machte eine klappende Bewegung damit. »Verstehst du, Renate?« Renate verstand und reckte sich innerlich. »Verstehst du, Jason? Ja, nicht wahr, das habt ihr doch nicht gedacht, das habt ihr –« Ihre Stimme und sie selber schwankte.

In der Tür stand das Hausmädchen und sagte: »Gnädiges Fräulein – Herr Doktor Klemens.«

Renate geriet in Schrecken. Was wollte das werden? Irene war nicht anzusehn, ob sie die Meldung gehört hatte oder nicht, sie spähte mit einem sonderbar wirren Blick im Zimmer umher, entdeckte plötzlich zwischen Korridortür und Kamin das Telephon und stürzte darauf zu. – Renate hörte das Mädchen etwas fragen, nickte nur, und gleich darauf flammte das Licht in der Krone blendend auf und übergoß alles. Irene schrie: »Otto!« dann »Einundsiebzig einundsechzig!«

Klemens erschien in der Tür, verbeugte sich gegen Renate, blickte dann scheinbar abwartend auf Irene, die ihm den Rücken wandte, über das Tischchen mit dem Fernsprecher gebeugt.

»Bitte, schalten Sie um!« sagte Irene. Gleich darauf: »Ja, umschalten sollen Sie, zum Oberstock, Himmeldonnerwetter, verstehn Sie denn nicht? Um – – Ach, der Teufel soll dich holen!« schluchzte sie, warf den Hörer hin und fiel in den Sessel, aus dem Jason eben aufgestanden war.

Der ergriff nun den Hörer, fragte: »Bitte, sind Sie noch dort?« horchte und sagte: »Ach, Sie sind selber am Telephon! Bitte, einen Augenblick! – Dein Mann ist am Telephon, Irene,« sagte er zu ihr, »es war bereits umgeschaltet. Soll ich ihm was sagen, oder willst du –«

Irene unterbrach ihr Weinen und schluchzte mühsam, sie wolle ihn nicht sprechen, er – sie habe nur hören wollen, ob er zu Hause sei, und sie käme auch gleich.

Jason führte das aus und legte den Hörer hin, dann drehte er sich um und sagte zu Klemens:

»Das ist schön, daß Sie grade kommen. Wir sprachen von Ihnen, und da möchte ich Sie gleich fragen: Haben Sie meiner Freundin Irene wirklich eine Ohrfeige gegeben?«

Irene zuckte nur, als sie merkte, daß er mit Klemens sprach, behielt aber das Gesicht im Taschentuch, richtete sich langsam auf und trocknete ihre Augen. Klemens sagte leutselig zu Jason:

»Junger Mann … Das heißt,« unterbrach er sich, »hat Frau Herzbruch dies vielleicht behauptet?«

»Also nicht?« rief Renate erleichtert.

»Keine Idee! Ich habe bloß so getan«, verteidigte er sich.

»So getan?« sagte Jason. »Das ist glänzend.« Zufriedengestellt, wie es schien, drehte er sich ab, ging in den Hintergrund und sagte wie zur Erklärung: »Ein Mensch ist nicht mehr als der andre, wenn er nicht mehr tut als der andre.«

Klemens sah ihm mißtrauisch nach, äußerte dann zu Renate: »Ich kann Ihnen das leider nicht vormachen.« Nun wandte er sich zu Irene, die langsam aufgestanden war und zu schwanken schien, ob sie ihn ansehn sollte, und sagte:

»Ja, also Frau Irene, ich bin noch einmal gekommen, – es wird mir nicht leicht, und ich habe wohl auch eigentlich –«

Er wollte auf sie zugehn, aber Irene, einen Augenblick geduckt, ging ihm plötzlich entgegen, streckte ihm die Hand hin und murmelte.

»Ich bitte Sie um Verzeihung, Klemens, ich hatte Sie wohl zu sehr gereizt, und – ich bitte Sie um Gottes willen …«

Klemens ergriff tief erstaunt ihre Hand und brachte kaum den Mund zu. Irene ließ wieder los, ging wie geistesabwesend zur Flurtür, murmelte: »Wohin will … wohin soll ich denn nun? Ach so, nach – nach Hause …« Dann schluchzte sie tief und furchtbar auf.

Renate lief hastig um die Sessel und zu ihr hin, erreichte sie in der Tür, legte den Arm um ihre Schulter und ging mit ihr hinaus. Sie wagte jetzt kein Wort, Irene raffte sich auch wieder zusammen, ging gefaßt in die Kleiderablage, ließ sich von Renate in die Jacke helfen, setzte die Mütze auf, knüllte den Schleier zusammen und steckte ihn ein. Nach einem Blick in den Spiegel holte sie ihn wieder hervor und band ihn mit zitternden Fingern um; Renate half ihr.

»Gute Nacht«, sagte sie leise. Renate wollte sie an sich ziehn, aber sie schüttelte trübe den Kopf und ging hinaus. Renate blieb ratlos zurück.

Wieder ins Zimmer kommend, hörte sie Jason eben sagen: »Seelische Fallsucht ist ein vortrefflicher Ausdruck!« worauf er sich zu Renale umdrehte, mitten im Zimmer, schmal und kleiner als sonst neben Klemens scheinend, den Kopf ein wenig schräg haltend, und erfreut zu Renate erklärte:

»Herr Klemens sagt, er hätte die seelische Fallsucht. Jahrelang ginge es ihm sehr gut, und dann, auf einmal, wäre die Fallsucht wieder da; es geht ihm also genau wie mir. Ich habe ja mehr die Zitatenfallsucht, aber sie ist ja nun auch im Schwinden, unberufen, und eine Zeitlang hatte ich das Kopfschütteln, aber das ist, glaube ich, auch schon wieder im Schwinden.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, da ist es wieder,« sagte er enttäuscht, »ich habe es berufen, nun will ich lieber gehn und Irene noch an der Haltestelle treffen. Gute Nacht, Herr Klemens.« Er reichte ihm die Hand. »Gute Nacht, Renate.« Er reichte ihr die Hand, lächelte und ging sacht hinaus.

Renate setzte sich schweigsam in einen Sessel, hielt sich grade, rieb die Hände leicht im Schoß und blickte ins niedergebrannte Feuer. Aber beim Anblick des Blasebalges fiel ihr Jasons Bemerkung ein: er unterhalte das Feuer; sie mußte lächeln, sah zu Klemens auf, sah ihn in sich gekehrt im Schatten stehn und sagte: »Ein großer Wirrwarr, wie es scheint! Wollen Sie so gut sein und den Blasebalg etwas in Tätigkeit setzen?«

Klemens fuhr auf. »Blasebalg?« rief er, »meinen Sie mich oder den da?« Er lachte, setzte sich, ergriff das Instrument, drehte eins der Holzscheite mit ihm um, setzte ihn dann bedächtig in Tätigkeit. Als das Feuer wieder hell brannte, legte er den Blasebalg fort, setzte sich zurück und sagte:

»Kluge Jungfrau! auch Ihnen wird, nehme ich an, bekannt sein, was gemeinhin nicht viele wissen, ich aber weiß es: Nichts fängt da an, wo es anzufangen scheint. Auch diese armen Tränen, welche Sie sahen, auch die – ich schwöre es! – nicht nur Ihnen imaginär gebliebene Ohrfeige haben ihre Wurzel nicht im heutigen, sondern in Frau Irenens Hochzeitstage. Ich kam nicht zur Trauung, damit fing es an. Ich habe nun eine Abneigung gegen Schwurformeln im allgemeinen, und im besondern, wenn der, welcher sie aufsagt, nicht daran glaubt, und erschien deshalb erst bei der Tafel. Das Ehepaar brach, wie Sie sich erinnern werden, früh auf, so bekam ich Ottos Frau kaum zu sehn, aber was ich bekam zu sehn, das war nicht hoffnungsvoll. Ich dagegen war so hoffnungsvoll, zu glauben, dies werde in zwei Jahren vergessen sein, aber weit gefehlt! Ja, ich dachte es mir ganz schön, ich hatte vor, ein Buch zu schreiben –«

»Ein Buch?« fragte Renate, aber er winkte großmütig ab:

»O bloß so ein Buch! wie halt a jeder! Und da dachte ich, dies bei mehr Behaglichkeit und Ruhe in Herzbruchs Hause als in so einem möblierten Zimmer tun zu können, denn meine eigne Wohnung hab ich vor ein paar Jahren aufgegeben, und meine Schwester hatte keinen Platz bisher. Natürlich, ich hätte nach der ersten Nacht verschwinden sollen, aber – ja, was ist da zu sagen? Otto bat mich, ich hoffte weiter, ja, Otto, das muß ich sagen, zwang mich gewissermaßen, indem er meine Stiefel versteckte, und als moralischen Grund gab er vor, seine Frau müßte aufgemuntert werden, sie würde zu dick. Alles gut und schön, aber – na, ich blieb doch, und Herzbruch, der hetzte ja denn nach Kräften, er fand es herrlich, wenn wir uns die geschliffenen Partisanen gegen den Kopf rannten, und sagte, sie wäre nicht wiederzuerkennen, und ich wäre ein General-Stabsarzt.«

Renate sprang auf und lief ins Zimmer hinein. »Ach, hören Sie lieber auf,« bat sie zwischen Lachen und Weinen, »das ist ja nicht auszuhalten! Erst kommen Sie am Nachmittag, und ich freue mich, denke, ich kenne Sie, und wie Irene mir stundenlang etwas vorjammert, bleibe ich bei meiner Auffassung von der Sache, bis es mir denn doch zu ernst wird, und ich denke: was Wahres muß doch dran sein, und dieser Klemens ist kein solcher Cherub, als welcher er sich gehabt.« »Danke!« nickte Klemens. »Ach, nichts zu danken, denn nun kommen wieder Sie, und nun sieht die Sache wieder noch ganz anders aus, und nun ist Otto eigentlich derjenige welcher. Was ist denn nun das Richtige?«

Klemens kratzte sich mit schief offnem Munde den Kinnrand im Bart und meinte: er wüßt es nicht, er reiste ja nun ab. Daß der Zweck seines Daseins im Hause Herzbruch vollkommen erreicht sei, das wollte er schwören. Nun ginge er acht Tage auf Reisen, dann würde er bei seiner Schwester wohnen und –

»Ach, papperlapapp,« unterbrach Renate ihn lachend und ärgerlich, »was ist das mit der Ohrfeige gewesen?«

Klemens wiegte verdrießlich den Kopf. »Die Ohrfeige«, sagte er, »hat nicht stattgefunden.«

Plötzlich wurde er dunkelrot, Renate erschrak und dachte: nun kommts! aber die Fallsucht schien auszubleiben, er ergriff den Blasebalg, warf ihn auf die andre Seite des Kamins, machte böse Augen, schob das Kinn vor und sagte endlich:

»Daß man von unechter Abkunft sei, braucht man sich nicht sagen zu lassen, meine Teuerste. Ich habe in Zeitungen geschrieben und mich mit mehr als einem Preßbengel herumgeschlagen, und daß ich weiß, wie und wo die giftigsten Spitzen anzubringen und abzuschleudern sind, das kann Frau Herzbruch freilich bezeugen. Meine Abkunft jedoch hat der schmutzigste Schmock, obgleich ich nie ein Hehl daraus gemacht habe, nie angetastet, denn auch so einer hat Kenntnis von gewissen Usancen. Ich bin, wenn Sie es wissen wollen,« sagte er aufstehend, »ich bin darauf auf sie zugegangen, so!« Er trat dicht vor Renate, »und hab die Hand gehoben, so! Und da hat sie sich geduckt, hat kein Wort gesagt und ist zur Tür geschlichen. Ottos Schwester, auch dies mögen Sie erfahren, war die erste und einzige bisher, der ich es mitgeteilt habe.«

»Genug,« sagte Renate reuevoll, »verzeihen Sie nur! genug!«

»Ich habe ja nichts gegen Sie,« lachte er nun, »aber«, schloß er wieder ernst und mit Würde: »wenn ich auch Proletarier bin, bin ich deshalb kein Prolet, sondern reiner Geist; ich stabiliere mich als solchen. Nein, sehen Sie,« fuhr er leichter fort, »zu Irene sagte ich, nachdem ich – Sie wissen schon! –: ja, da könnte sie nun sehen, wie verdorben sie wäre, daß sie wahrhaftig glaubte, ich wollte sie ohrfeigen, und weiß Gott, es ist etwas daran, und was soll dieser Otto mit einer Frau machen, die glaubt, ihre Ehe geht in Stücke, bloß weil einer zusieht, den sie nicht leiden kann? Ja, bitte, was sagen denn Sie dazu? Sie sind doch ihre Freundin, Sie kennen auch Frau Vehm – ja, du lieber Gott, ist das ein Unterschied zwischen den Beiden!« Er atmete auf.

Ein Mensch, dachte Renate, ist nicht mehr wie der andre, wenn er nicht mehr tut wie der andre. Es war nicht gerade viel, was Irene zu tun pflegte, zumal im Schatten ihrer Schwägerin betrachtet.

»Der Mann ist ein Sonderling und verkriecht sich,« hörte sie Klemens wieder sagen, »die Frau ist oft stundenlang, tages und nächtens, bei Wind und Wetter unterwegs, um ihn zu finden, und was sie selber im Herzen zu schleppen hat, das wird ja wohl auch Ihnen nicht unbekannt geblieben sein; aber deshalb weicht sie doch keinen Schritt von ihrem Wege und neigt das dunkle Haupt auch keinen Nagelbreit unter ihrer aufgetürmten Last, sondern steht da, lächelnden Mundes, heller Stimme, sichrer Hand und kräftigen Herzens, schöne, edle Karyatide unter dem stöhnenden Gebälk ihres Daseins. Ach, man möchte singen und verzweifeln um solch eine Frau, und Irene daneben, was tut sie? Sie glauben vielleicht, sie sei Ottos Frau gewesen, aber weit gefehlt! Bis vor drei oder vier Wochen war sie's nicht, sie wollte ja keine Kinder haben, quält einen Mann zu Tode mit ihrer – Daseinsunwissenheit und wirft sich ihm endlich in die Arme an dem Tage, wo ein Mensch ins Haus kommt mit unsichtbaren Augen.«

Er lief mit großen Schritten zornig im Zimmer hin und her, warf die Ellenbogen vor und schlug die Hände zusammen. Ob denn das zum Blasen sei? fragte er. »Na, aber nun hat er sie ja wenigstens, und so wird denn wohl alles in der Ordnung sein«, murrte er, kam auf Renate zu, hielt ihr die Hand hin und bat, gehen zu dürfen.

Renate sah ihn durch Schleier an. Seltsam erinnerte sie sich Ulrikas. Ohne sie wüßte sie heute kaum, was das bedeutete, was Klemens ihr eben verraten hatte, bedeuten mußte für einen Mann wie Herzbruch.

»Ich fürchte, lieber Herr Klemens,« sagte sie leise, »so einfach wird es nicht sein, wie Sie denken, aber – wir können ja hoffen. Sie vergessen doch nicht dies Haus, wenn Sie wieder in der Stadt sind, nicht wahr? Ich würde gern noch mehr mit Ihnen sprechen, aber ich bin nun auch recht müde geworden von allem. Also auf Wiedersehn!«

»Ja,« sagte er, als fiele etwas ihm ein, »und wissen Sie denn eigentlich, warum ich noch einmal zurückgekommen bin?«

Renate schüttelte den Kopf.

»Weil … Ich verstehe es nicht«, murmelte er, den Kopf senkend. – »Weil«, fuhr der dann erklärend fort, »mich unterwegs die Reue ergriff; weil ich dachte, ich wäre vielleicht doch im Unrecht, und – da man gleich tun soll, was man tun will und kann, so drehte ich wieder um, und – – was geschieht? Sie sahns ja, sie tat, was ich tun wollte, sie bat mich um Verzeihung!«

Auf dies hin wußte Renate nichts. Sie standen noch eine Weile schweigend, dann verbeugte er sich und ging.

Renate nickte ihm noch lächelnd zu, als er aus der Tür grüßte, dann fielen die Schleier wieder über alles, langsam erlahmte ihr Denken, rot glimmte die sinkende Glut vor ihren verdunkelten Augen, sie ging zur Tür, löschte das Licht und ging schläfrig und abgespannt auf ihr Zimmer.

Schrecken

Renate hob den Kopf aus dem Schlaf, weil sie jemand an die Tür klopfen hörte; sie glaubte, nur wenige Stunden geschlafen zu haben, aber es war schon Tag. In der Tür erschien die Köchin, ängstlich, und sagte: Frau Herzbruch habe angerufen, das gnädige Fräulein möchte doch gleich ans Telephon kommen, es sei etwas ganz Schreckliches passiert. Renate war schon mit den Füßen aus dem Bett. – Es betreffe aber nicht Frau Herzbruch selbst, sollte sie sagen. – Renate war schon in den Pantoffeln, rannte durch die Zimmer hinaus und treppab in die Halle. Es mußte mit Vehm … Sie nahm den Hörer auf, atemlos, und sagte: »Irene?«

Eine Weile war nichts zu hören als das Sausen und Knistern im Apparat, dann kam Irenes Stimme leise und mühsam aus der Ferne: »Renate …? du wirst – sehr erschrecken. Es ist –« Wieder war alles still. »Mein Schwager Vehm«, hörte Renate, »ist – – tot. Und – und –«

»Dora!« schrie Renate entsetzt.

»Nein, nicht Dora,« hörte sie nach Sekunden. »Die Kinder.«

Renate zitterten die Knie. Sie glaubte, einen ungeheuren Schlag gegen die Brust erhalten zu haben, rang nach Atem, fühlte lange Zeit nichts, tastete endlich hinter sich nach dem Stuhl und sank auf ihn hin. Dann hörte sie ihr Herz schlagen – es mußte Sekunden ausgesetzt haben.

Irene fragte aus der Ferne: »Bist du noch dort?«

Sie würgte einen Laut hervor, brachte dann heraus, was das bedeute?

Lange Zeit antwortete Irene nicht, endlich sagte sie langsam: »Er war gestern wieder da – als ich aus der Stadt kam. – Und – auch Ägidi. – Sie waren Alle in der Diele. Albert sah ganz – verwirrt aus, aber – nachher kam Dora und sagte, er habe ziemlich ruhig gesprochen und gesagt – er – er könnte es nicht ändern, die Kinder wären sein, und deshalb müßte auch die Mutter bei ihnen bleiben, oder – so ähnlich, und – er ist dann gegangen, aber wiedergekommen nach einer Weile und hat gesagt, er hätte sich besonnen – ja, ich kann das alles nicht so sagen – – – jedenfalls, er wollte gehn, und sie sollte die Kinder behalten. Dann ist er fortgegangen, er hat sich nicht halten lassen.« Irene schwieg wieder.

»Laß es genug sein, Renate«, bat sie dann. »Er muß nachts ins Haus gekommen sein, ohne daß wer von uns es hörte. Dann hat er im Kinderzimmer erst den beiden –« Irenes Stimme brach schluchzend ab.

Renate legte den Hörer hin und sah, noch die Hand daran haltend, das schwarze und metallene Ding, seltsam fremd und erschreckend, als wäre es ein gefährliches Instrument. Durch es hatte Irene gesprochen, sie hatte Irene nicht gesehn, Irene war vielleicht gar nicht auf der Welt, es war nur ihre Stimme gewesen, Renate glaubte plötzlich zu sehn, wie eine finstre Gewalt Irene vom Telephon in die Nacht hineinriß, schwarze Flocken regneten vor ihren Augen, aber dann sah sie in einem hellen Sonnenschein einen kleinen Jungen im Kreise herumgehn, derweil er eine Blumentopfscherbe und einen alten Kochtopfdeckel zusammenschlug und, die großen Augen immerfort auf sie gerichtet, sang: Wenn ein Vorrat geht zu Ende, zieh den Schieber mit die Hände! – Immer dieselben zwei verdrehten Zeilen, von denen später Dora sagte – was? – Ja, Renate sah in der Montfortschen Küche so eine blauweiße Tafel hängen, um die fehlenden Vorräte anzuzeigen, und darunter stand: Zieh den Schieber vor behende …

Warum bin ich denn so wahnsinnig erschrocken? dachte sie und war sekundenlang ganz ruhig. Langsam stand sie auf, konnte aber zuerst kaum die Füße aufsetzen. Danach ging es besser, sie schlich die Treppen hinauf und in ihr Zimmer, wo sie langsam ein paar Schlucke Wasser trank. Sie fröstelte davon, legte sich wieder ins Bett, war auf einmal ganz schwach und deckte sich zu. Die Gedanken verschwammen, sie wollte sich besinnen, was denn eigentlich gewesen sei, und dämmerte ein. Da befand sie sich plötzlich in einem großen Saal mit hohen grauen Wänden aus Quadern und ohne Fenster. Nach oben blickend, gewahrte sie an Stelle des Dachs einen rein blauen Sommerhimmel, den eine einzige Wolke von schimmernder Weiße sehnsüchtig verschönte. Wieder die Augen senkend, entdeckte sie, daß der Boden ein Wasser war, das sich in kleinen Windungen und Strudeln emsig bewegte wie eine Menge Getier, und zugleich, daß sie in der Spitze eines Nachens stand. Und jetzt sah sie die Schmalwand des Raumes vor sich geöffnet; ein Tor wars, und durch den Spalt schoß strudelnd ein dunkles Gewässer herein. Der Nachen bewegte sich unter ihr, schwankte, stieg mit den lautlos steigenden Fluten, und nun wußte sie, daß sie in einer Schleuse war.

Darüber mußte sie tief aufatmen, ja seufzen aus einem von Erleichterung und Beklommenheit angsthaft gemischten Gefühl. – Nun wird die Fahrt frei werden! murmelte sie, sich beruhigend, und erkannte, wieder nach oben schauend, in der Wolke einen weit fernen Engel, der von ihr abgewandt und in einer seltsamen Verkürzung hinter sich tretend, stürmisch in die Bläue hineinjagte. Bleibe! schrie sie in plötzlicher Fassungslosigkeit, o bleibe! – Aber er war schon verschwunden, und sie erwachte mit heftig klopfendem Herzen.

Jählings und mit furchtbarem Erschrecken fuhr sie dann hoch, da sie eine unhörbare Stimme traurig sagen hörte: Schöpfe, schöpfe, müde Danaide … Aber nicht das hatte sie hören wollen, sondern ein Wort von Klemens – wie hieß es? ja, wie hieß es denn? – Schöne edle Karyatide …

Kaum gedacht, brach ein Strom von Tränen aus Renates Augen, ihr Herz flatterte entsetzt auf mit tausend gestaltlosen Ahnungen, Befürchtungen, Ängsten eigenen Schicksals, sie wühlte das Antlitz in die Kissen und weinte, wie sie noch nie im Leben geweint hatte.


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