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Sechstes Kapitel: April

Zinna

(Georg an Benno)

xten April, im Fahren

Mein guter Benno:

Fahrt durch Land Beuglenburg. Das Wagenverdeck ist hoch, es hat eben aufgehört zu regnen, oder vielmehr ist Nebel aus dem Regen geworden. Links, rechts, vor mir, hinter mir: Moorlandschaft, öde Ebenen, auf denen die Nebel eines ewigen Februars zu stehn scheinen. Schwarze Bohrtürme auf dem Horizont machen keinen ermutigenden Eindruck. Ich rolle dahin, ich flüchte über diese rollende Kugel Erde, aus der wir ein kleines, flach scheinendes Stück kennen. O Polykrates, o Schiller, o idealische Gefühle! Ich sage nicht, daß alles käuflich sei, ich bin milde gelaunt, obschon trostlos, und sage, daß alles gekauft sein will. Erzählte ich Dir nicht einmal von einem sonderbaren Traum, von einem Filmfestzug, in den ich nicht hineingelangte? Weiland Josef Montfort prophezeite: so erginge es mir im Leben. Meine Gedanken, die es an sich haben, immer merkwürdig leichtfüßig zu bleiben, tragen mich eben in Hauffs Geschichte des jungen Said. Er mußte in Balsora Teppiche und Schleier feilbieten, obgleich er das Patenkind einer Fee und im Besitze ihrer Gabe, einer kleinen Pfeife war, die ihre Hülfe in jeder Mißlage seines Lebens herbeizaubern würde, – nicht jedoch –: vor seinem einundzwanzigsten Lebensjahre. Vielleicht hab ich auch eine Flöte, eine Fee, einen Ablauftag des Unschicksals, und dies vielleicht, dies Mädchen, diese Heirat – ich kehre ins obere Gleichnis zurück – ist der letzte, endgültige Preis, mit dem ich mich zum Handelnden in den Film einkaufe, so daß ich mein eigen Bildnis im Schwarm der Schreitenden, Triumphierenden irdischen Göttern gleich werde dahinfliegen sehn. –

Aus der Ebene, über den Nebel steigt ein schwarzer Kegel, Türme einer kleinen Stadt werden an seinem Fuße sichtbar, jetzt auch Türme auf dem Kegel: Schloß Zinna. Dort oben haust das andre Opfer, die arme Braut, und macht sich von dem Kommenden die sonderbarsten Vorstellungen. – Herrgott, ist dies ein Land! Um diesen Morast auszubessern, werde ich ganz Trassenberg hineinschütten müssen. Hinter der Grenze war mit einem Schlage alles anders. Dieser Tag ist so trostlos, daß er Einöden und Paradiese einander ähnlich machen könnte, aber bei Beuglenburg und Trassenberg brachte ers nicht zustande. Ich kam durch Landstädte, so langweilig wie Speisekammern, in denen alles aufs Geratewohl irgendwo hingestellt ist. Die Dörfer armselig, verfallen, schmutzig, an keinem Fenster mehr eine Blume, die Kinder schmierig, dickschädlig, dünnbeinig, ekelhaft selbst die keifenden Hunde. Dann die Moorkanäle, schwarze Lineale, entseelte Gräben; auf den breiteren, über die ich hinjagte, – da kommt wieder einer! diesmal läßt sich sogar ein Segel drauf sehn, ein braunes, welkes Blatt – diese langen Kähne, die vorwärtsgestakt werden. Nun, wozu schreib ich das? Schloß Zinna wird sichtbar, es scheint ein getünchtes Kloster, lange Fronten mit unzählbaren, kleinen Fenstern, stumpfe, runde und eckige Türme. Meine Hupe wird ihnen wie ein Gjallarhorn dröhnen, wenn ich in die eremitischen Höfe fahre.

Guter Benno, Du bist einer der wenigen, die meine Geschichte von Anfang kennen, ich glaube sogar der Einzige, der sie überhaupt kennt. Erinnerst Du Dich noch der ersten Stunde im Schlößchen, wo ich von Napoleon erzählte? Ob ich gegen Sterne kämpfe oder mit ihnen, – wer weiß es? Ich bin den Weg weitergegangen, der – hoppla, das war ein Sprung auf die Brücke! Dies muß der Styx gewesen sein, so sah er aus, trotz eines Motorbootes, das an der Brücke lag. Vor mir liegt ein Stadttor, ganz mittelalterlich. Später weiter.

 

Nachts

Ich fahre einfach fort:

Durch schaurige Straßen von Kopfsteinen, über einen ganz netten Marktplatz mit Kugellinden, wieder zur Stadt hinaus, durch eine alte Allee zerfallender Kastanien – braune Vorjahrsblätter an schwarzen Ästen und auf dem schwarzen Boden – brauchte der Wagen auf endlosen Schlangenwegen fast eine Stunde hinauf; oben zeigte sich wenigstens schöner Fichten- und Birkenbestand, aber die Hecken im französischen Park – durch die Gittertore sah ich hinein – schienen seit hundert Jahren nicht beschnitten, die Einfassungen der Teiche zerfielen an der Luft, die Sandsteinfiguren fehlten auf den Postamenten – wie enthauptet standen sie da –, die Becken lagen voll modernden Laubes. Dann der Schloßhof, himmelhohe Mauern im Rhombus mit violetten blassen Fenstern, die drei Fische im Wappen überm Tor nicht mehr zu erkennen, im Jahrhundertregen, der hier fällt, davongeschwommen, die Helmzier mit Taubendreck besudelt, – ja, es gab Tauben; da sie liefen und nicht sprangen, können es keine Dohlen gewesen sein. Drinnen stand Eiseskälte, standen erfrorene Menschen mit einem steifen Spruchband vorm Mund, – eine Kälte übrigens, die in meinem Blut die letzte Wärme prickeln ließ, so daß ich mich vermutlich mit jovialer Munterkeit benommen habe …

Ich sitze nun an einem von diesen hundert Fenstern im längsten Bau; es ist Nacht, aber der Mond ist da, eine kümmerliche Sichel, die sich schwermütig durch unablässig flutendes Gewölk dahinwühlt, und wenn ich mich hinausbeuge, kann ich diese hundert Fenster leise blitzen sehn, flach auf die Mauer geklebt, als wäre nichts dahinter. Die Nacht ist kühl, aber ich glühe, von Wein, Rührung und Mißmut, habe so viel geschwiegen, daß ich mich nun sehr geschwätzig fühle, die drei Kerzen im silbernen Leuchter schneuze und von der Schreibeschrift in die Stenographie übergehe – ach, Benno, wann war das, als wir Primaner, Sekundaner waren und unsre Ferienbriefe stenographierten, teils wegen Lernens, teils wegen überschwänglich viel zu sagender Dinge! Kannst Du denn immer noch lesen, guter Benno? Also lies:

Bei den erfrornen Menschen blieb ich stehn – vielmehr wurde ich von ihrer einem, seines Zeichens persönlicher Adjutant, zur Disposition gestellter Jägermajor, über Treppen und Galerien in ein stockdustres Gemach geführt, in dem jemand zu sitzen schien. Nach einer Weile erkannte ich einen Kopf, der einem riesigen, gekochten weißen Fischaugapfel glich (wir polkten sie als Kinder aus den Augen der Schellfische!). Ich hörte ein Gemurmel, murmelte ebenfalls, der Adjutant murmelte, noch ein Mensch – der Hofkammerrat – murmelte, wir verbeugten uns Alle, ich stand wieder draußen. Das war der Großherzog, königliche Hoheit.

Ich folgte von neuem beiden Erfrorenen und kam in einen Saal; große dunkle Gemälde an den Wänden, ein Tisch und fünf Sessel, drei um den Tisch konstelliert, zwei an den Türen. Durch deren eine erschienen zwei so völlig schwarze Gestalten, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte, eine große, hagre, alte mit einem schauderhaft törichten Gesicht; die kleinere, andre, zitterte am ganzen Leib, war todblaß, hatte jedoch wider meine Erinnrung nicht gar so blasse, ein wenig vorquellende Augen; der Mund war nur angedeutet, ein blasser Streif, die Nase anmutig, ja, das Ganze – im Augenblick nichts als Angst – war nicht ohne Lieblichkeit, nur entstellt durch Magerkeit und unglaublich sitzende Kleidung. Dazu war das ganz hellblonde Haar so ungünstig angeordnet, daß die breite Stirn mit zwei leichten Buckeln wie ein Felsen aussah. Dies war Sigune, und drei Minuten war ich mit ihr allein.

Lieber Freund Benno, Du kannst mir glauben, ich dachte nicht daran, daß dies meine Frau werden sollte. Ihre Hülflosigkeit war unsäglich rührend, ihre bebenden Hände wollten sich in den schwarzen Kleidfalten verstecken, – nie im Leben bin ich mir so robust vorgekommen. Ja, was machte ich mit ihr? Ich holte die Hände beide hervor, nahm sie in die Linke, klopfte mit der Rechten väterlich darauf und sprach ihr zu, so gut ich konnte: Aber man muß doch nicht bange sein! Aber man muß sich doch nicht vor mir fürchten … und dergleichen mehr, und da – ach, dies Geschöpf! – nachdem seine erst flehenden Augen sich gleichsam aufseufzend an den meinen beruhigt hatten, machte sie eine Hand aus der meinen los, legte sie um meine Hand und küßte sie ganz schnell. So demütig war sie – lieber Gott! Sie sagte nichts, ihr Haar duftete ganz leise. Ich brauchte wohl eine Weile, um mich zu sammeln, fragte dann – und ahnte nicht, wie gut ich fragte –: »Ruft man dich denn noch Gunny wie vor acht Jahren?« »Das wissen Sie noch?« fragte sie hastig, errötete leidenschaftlich, brach dann aber in einen gequälten Husten aus. Ich mußte zurücktreten, Hofdame, Kammerherr und Adjutant erschienen, gleich hinter ihnen der Majordomus mit umflortem Stabe, der auf französisch verkündete, daß angerichtet sei. Es waren noch einige stumme Personen bei Tisch. Ich trank Sigune zweimal zu, was wahrscheinlich ein Etikettefehler, sicher aber ein schönes Mittel war, sie zum Erröten und Lächeln zu bringen. Am Nachmittag gab es bei verbesserter Witterung einen Spaziergang, bei dem ich Sigune mit sanfter Gewalt nötigte, englisch mit mir zu sprechen, nachdem ich herausbekam, daß die Hofdame es nicht verstand. Ich warf ein paar Angeln nach ihrer Bildung aus. Schiller, Uhland, Körner, Rückert, Geibel, Freytags Ahnen und – Hölderlin. Bei diesem Namen ging sie auf eine wunderbare Weise leicht in Flammen auf – wie eine weiße Papierrose. Ob sie den auch im Unterricht kennen gelernt habe? – Nicht im Unterricht selbst, aber doch von ihrem Lehrer. Wer denn das sei? – Sie zögerte eine Weile, versuchte einen Blick zurück nach der hinter uns verbliebenen Hofdame, errötete und sagte ganz leise, und als spräche sie das kostbarste Geheimnis aus, das Wort: Tröstherzeleid. – Oh, Benno, wenn Du es gehört hättest! ich glaube, Du hättest geweint. Ja, und nun – – ich erschrak im Herzen, und als ich fragte, wer denn das sei, was kam heraus? Der Hofkammerrat war es, eben jener Graf Leunstein von Badenbach, Exzellenz, der als erster dieser Beuglenburgschen Zunft vor mir in Erscheinung trat. Der Name, mit dem sie ihn nannte, erzählt wohl genug. Ich fragte auch nicht mehr. Es stellte sich noch heraus, daß sie mir in Philosophie weit überlegen ist, Kant und Leibniz, Spinoza und Stirner, Platons Staat und Ciceros philosophische Schriften im Urtext gelesen hatte – armer Kopf, armer Kopf! Dies Mädchen kennt nur zwei Menschen: ihre Hofdame und ihren Lehrer, – und dann war noch eine armselige Erinnerung an eine liebevolle junge Engländerin, die Gunny gerufen hatte und früh an der Schwindsucht gestorben war. Wie schlecht der kleine Trauerhut mit den Kreppschleifen saß! Und diese Jacke, und dieser Rock und diese Schuh! Alles vom Bazar in Stadt Zinna. Aber die Füße waren schmal und traten zierlich auf.

Die Kerzen weinen Ströme von Tränen – Benno, sollt ich nicht weinen? Ich stand am Fenster, beugte mich in die Nacht, suchte den Mond, er war fort, nur noch eine rinnende Quelle von feuchtem Glanz in der Nacht, über die es sich faltig verschob; in der Tiefe – Nachttiefe allein, unsichtbares Land, aus dem es dampfte, kalt und feucht, ein rotes Bahnlicht fern, mir zu Füßen nur schwarze Leere, denn hier ist die Rückseite des Bergs, Felsen fallen steil ab. Ein Gefühl, als könnte – denk nicht, ich meinte es komisch, obwohl es so klingen mag – als könnte die kleine Sigune jetzt an einem offenen Fenster sitzen und Okarina blasen. Ich habe sie Augenblicke lang deutlich gehört, simple, klagende Noten, wie Fischmunde winzig im willkürlichen Strome der Nacht hinschwimmend, – und da sitze ich, male langsam die sonderbaren Schnörkel auf das Papier, und meine eignen Gedanken scheinen mir wie die Siegel einer Geheimschrift, die zu schnell vorübergleitet, als daß ich sie lesen könnte. Hinter den Wolken sind die Sterne, steht, wie allnächtlich, ihre feierlich glühende Schrift, die großen Siegel leuchten, wir dürfen sie berühren mit der Stirn, wir erbrechen sie nicht, sie schweigen uns an.

Und so will ich nicht weiter denken und das Kommende nur erwägen, wenn es sich stellt.

Ein letzter Funke im Gehirn glüht auf, und ich schreibe, schreibe in offener Schrift: Wenn ich denn lüge, eine Abkunft heuchelnd, die nicht besteht, so ist dies doch ein Opfer. Ein sinnloses – wohl! denn hier zwingen die Alten und Kranken, die Furchtsamen und Beharrenden, sie zwingen die Jungen und in Ängstlichkeit Tapferen in ihren Willen. Wer aber weiß, welchen Sinn all dies hat? Haben diese Kerzen sich ausgeweint, so wird auch eine offene Sonne wieder scheinen über dies traurige Land, das ich wieder zu ermuntern gedenke.

Lebe wohl, Benno! auch ich beabsichtige, wohl zu leben.

Stets treulich Dein
Georg.


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