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Fünftes Kapitel: September

Vergangenheit

Renate, an einem Abend im späten September ihr Gedächtnisbuch schließend, in das sie eine Eintragung gemacht hatte, hörte jemand an die Tür klopfen; sie antwortete nicht, in dem Glauben, es sei ihre Zofe, welche die Eigenart hatte, ihr Eintreten durch ein leises Pochen anzumelden, legte das Buch in eine Schieblade, schloß zu und erhob sich. Indem klopfte es wiederum, sie ging zur Tür, öffnete und sah ihren Onkel draußen stehn, gebückt und wartend.

»Oh du bists,« sagte sie erschreckt, »aber bitte, komm doch herein.«

Etwas übermannte sie so, daß sie an das Fenster treten mußte und hinaussehn; freilich sah sie nichts in der Nacht.

Oh so war er nun! Stand geduldig draußen und wartete, und so ging er ja immer im Hause herum, als ob er nur geduldet würde und jedes Recht verloren hätte. Tränen zurückdrängend wandte sie sich und sah ihn im Zimmer stehn, das rötliche Gesicht ein wenig schief haltend; die Ellbogen angezogen, rieb er die Knöchel der Linken mit der rechten Hand. Wie waren seine Schläfen doch eingefallen und grau geworden. Das Lampenlicht funkelte in den stark geschliffenen Gläsern des goldenen Kneifers, hinter dem die hellen Augen kaum zu sehn waren. Schnell trat sie auf ihn zu und legte den Arm um seine Schulter. Er sah flüchtig zu ihr auf, sagte leise, wie schön sie es hier hätte, das freute ihn, ja, es sei doch alles in der Ordnung. – Sie führte ihn zum Sofa, aber er setzte sich auf einen Stuhl, wobei er plötzlich mit beiden Händen eine geschwinde Bewegung nach den Schläfen machte, ohne sie zu berühren, worauf er nach seinem Halskragen tastete und am Schlips schob, eine erschreckend hülflose Gebärde, die Renate wohl kannte. Er machte sie, ohne es zu wissen, manchmal auch wenn er die Zeitung las, am Abend, und Renate von fern nach ihm sah in Besorgnis, da es schien, als habe er das Zeitungsblatt nur vor sich, ohne es zu sehn. Da stand sie wieder auf, trat zu ihm, faßte seinen Kopf, lehnte ihn zart gegen ihren Leib und streichelte leise seine Wange. Er nahm den Kneifer ab, sah zärtlich und dankbar auf.

»Wolltest du mir etwas sagen?« fragte sie. Er nickte, ergriff ihre linke Hand, drückte sie und schob sie von sich. Da setzte sie sich in die Sofaecke. Er sagte nichts, setzte den Kneifer wieder auf und sah nach den Bildern umher, die Lippen bewegend und ein-, zweimal nickend. Endlich nahm er den Kneifer wieder ab, legte ihn auf den Tisch, senkte den Kopf und sagte, den Kneifer in den Fingern drehend:

»Ich möchte mich nun doch zurückziehn, weißt du, aus dem Geschäft. Ich habe ja«, sprach er eilig weiter, »seit – seit dem Tag damals die technischen Angelegenheiten fast ganz Erasmus überlassen, der es ja auch alles unübertrefflich besorgt, viel besser als ich, großzügiger, und die Gesellschaft steht ja prachtvoll. Dafür habe ich mich mehr mit unsern Wohlfahrtseinrichtungen beschäftigt, an die ich früher viel zu wenig gedacht habe, und die, ich kann wohl sagen, jetzt gleichfalls in einem recht guten Stande sind, so daß ich –, jedenfalls –« er stockte.

Lange Zeit drehte er an den dünnen Enden des weißrötlichen Schnurrbarts und schien sich anstrengend zu besinnen. Das vorher fleischige, feste Gesicht war schrecklich locker geworden, das Haar weit zurückgetreten über der breiten, runden Stirn, locker auch das geringfügige Kinn. Renate beugte sich vor, legte die Hand über seine auf dem Tisch und bat: »Wir reisen, Onkel, nicht wahr? Diesmal giebst du nach! Nach Italien oder Spanien, gelt? Hast du mir nicht lange schon den Prado versprochen?«

Er sah sie unsicher an. »Versprochen, – so? Ja, ich glaube, – freilich! aber –« Er zog die Hand weg, schob beide ineinander, rieb sie verlegen und brachte endlich hervor, er wollte allein reisen.

Renate fröstelte seltsam. Was war nur mit seinem Gesicht? War es nicht eine Maske, hinter der es dämmerte wie – wie das Skelett des Kopfes? Als sollte Haut und Fleisch auf einmal abfallen und – Sie schüttelte den Gedanken ab und begann leise zu widersprechen, alles mögliche zu reden, was sie selber kaum vernahm; er ließ das sanftmütig über sich ergehn, er hatte sich wohl so in seine Bescheidenheitsrolle gewöhnt, daß er nicht zu widersprechen wagte, und machte schon dieser Gedanke sie verstummen, so bewirkte das obendrein die Bewegung nach den Schläfen, die jetzt wieder kam. – Die Arme an den Leib gepreßt, faltete sie die Hände mit heftigem Druck und hielt den Atem an vor plötzlicher Angst.

Ja, nun war es zu spät! Nun war es wahrscheinlich zu spät. Warum hatte sie sich so wenig um ihn bekümmert, ihn nicht zu stören gewagt, wenn sie ihn lesend fand, sich immer beruhigt, wenn sie es doch einmal versuchte und er bescheiden und verlegen abwehrte. Nie hatte sie erfahren, was in ihm vorging, nun hatte sich wohl alles angesammelt und brach seines Weges auf, und sie saß dabei.

»Ich reise in einer großen Unruhe fort,« hörte sie ihn nun reden, »ja, in einer großen Unruhe, mein Kind, oder ich kann fast sagen, es ist Angst, es ist etwas furchtbar Bedrückendes, Abscheuliches –« er suchte nach seinem Tuch in den Taschen – »nein, nein, bleib sitzen, mein Kind, ich befehle dir, – das heißt, das muß jetzt alles ausgesprochen werden, ich habe soviel gegrübelt und gedacht die ganze Zeit, daß ich schon nicht mehr weiß, ob das, was ich sagen wollte, will, nicht vielleicht ganz unsinnige Gedanken sind, die mir nun« – er suchte lange nach einem Wort – »erwägungswert scheinen. Ja, es betrifft meinen Sohn Erasmus.«

Er hielt inne und atmete auf. Nach einer Weile sagte er geistesabwesend, an sich selbst gewendet, seufzend: »Er ist ein harter Mensch, mein Sohn Erasmus.« Plötzlich drehte er sich nach ihr herum, versuchte, sie anzusehn, senkte die Augen und fragte: »Du – wie ist es, ich meine –, du könntest ihn nicht heiraten?« Wieder flogen seine Hände zu den Schläfen und endeten hülflos in der Luft.

Renate fand lange kein Wort. Dann hörte sie auch schon wieder seine Stimme aus der Ferne in ihre wirren Gedanken, sie solle ihm nicht antworten, es habe ja Zeit, vielleicht später, und anderes mehr, das sie nicht verstand. Sie fühlte nur nach einer Weile, daß sie ihn vergessen hatte über sich selber, weckte sich auf und sah ihn dasitzen, tief im Schatten des Zimmers, nach der gelben Schirmlampe auf dem Schreibtisch blickend.

Er sagte: »Du entsinnst dich Ruths – Josefs Mutter? Ach Gott, verzeih nur, du warst ja damals noch gar nicht geboren. Ja,« fuhr er in tiefer Verlegenheit fort, »ich habe leider kein Bild von ihr, ich habe sie damals alle verbrannt, und übrigens, was ich sagen wollte …« Er hielt inne, fragte dann plötzlich ganz lauernd: »Denkst du viel an Josef?« Renate verneinte einfach, und er seufzte auf.

»Damit du mich verstehst,« begann er jetzt beruhigter, »ja, ich möchte wohl, daß du mich ein wenig verstehst, und möchte dir deshalb etwas von mir sagen. Sieh mal, zwischen deinem Vater und mir war ein sehr großer Unterschied. Kinder wurden ja zu meiner Zeit noch anders erzogen als heute, strenger und mehr in Furcht vor ihren Eltern, oder wenigstens ihrem Vater, und du weißt vielleicht, ein wie strenger und – ja, trockner, einsamer Mensch mein Vater war. Da er mich früh von der Schule nahm und ins Geschäft steckte, so blieb ich immer in seiner Zucht.

»Von meiner Jugendzeit ist sehr wenig zu sagen. Ich tat eigentlich nur nichtsnutzige Dinge, war wohl ganz fleißig, führte ein geselliges Leben, ja, na, – damit brauche ich dich nicht aufzuhalten. Eines Tages ließ ich mich dann auch verheiraten. Mein Vater beschloß es und führte es aus. Von meiner ersten Frau hast du wohl ein Bild gesehn? Schön war sie ja nicht, aber doch ganz anmutig, ein wenig dürftig, ja, das war sie, aber meinem Vater genügte ja der Reichtum und der gute Name. Ich willigte wohl um so leichter ein, als ich hoffte, dadurch selbständiger zu werden. Damals war es ja so, daß eine Heirat den jungen Menschen plötzlich veränderte in den Augen der Umwelt; vorher war er Kind, und nun wurde er gewissermaßen Vater und damit selbständig.« Er lächelte, und Renate war ganz glücklich, doch einen Hauch seines Geistes wieder wahrzunehmen.

»Ich veränderte mich auch; ich versuchte erst, mich mit unsern technischen Betrieben besser zu beschäftigen, aber – abgesehn davon, daß mein Vater meine Bemühungen mit Kühle abwies – konnte ich auch für dies Verfahren, das damals gerade aufkam, die Benutzung der Photographie zur Vervielfältigung von Bildern, – bis dahin gabs nur die Heliogravüre, ein Wort, das du vielleicht schon gar nicht mehr kennst, also, was wollte ich sagen? Ja, ich hatte meinen Umgang meist unter Künstlern, Landschaftern, die damals zuerst von unsrer Haide verlockt wurden, und ihnen, und mir deshalb auch, entsprach diese Popularisierung von Kunst – aber was rede ich davon? Jedenfalls, ich zog mich zurück, ich gewann auch meine Frau sehr lieb, wir zogen damals in dies Haus, das ich nun so schön gestaltete, wie ich nur konnte, aber dann kam schon diese – ja, diese Entfremdung.«

Renate, ein kleines, mattes Aquarell der lange Verstorbenen vor Augen, geriet, ihr selber unerklärlich, in um so kältere Erregung, je geordneter und sicherer, auch eiliger ihr Onkel sprach. Mit Anspannung hörte sie weiter:

»Es muß wohl eine, – ja, ich weiß nicht, welche Störung in ihr diese Entfremdung bewirkte, die im Augenblick von Erasmus' Geburt begann. Kaum, daß sie mich das Kind sehen ließ. Sie richtete sich ein Schlafzimmer allein ein, und dahinter lag das Kinderzimmer, das ich nur durch das ihre betreten konnte. Und so weiter … In so einer Art Trotz verkapselte ich mich nun selber, fing an zu sammeln damals, auch den Rosengarten legte ich an, – nun, für meinen Charakter war das alles ja sehr gut; ich fing an, Bücher zu lesen, die Philosophen, glaubte schöne und reiche Quellen in mir zu entdecken, und wurde recht eigentlich damals erst der, den du kennst. Ja, und plötzlich war sie dann tot. Von jenen Jahren weiß ich sehr wenig. Und nun war dieser verschlossene, rätselhafte Junge da, der alles tat, was man ihm sagte, der nie etwas gab, keine Widerrede, keine Bitte und keinen Dank, der nie eine Miene verzog, so – das dachte ich damals – so als ob ihm im Verborgenen von seiner Mutter ein böser Geist eingeflößt, – nein, nicht böse, was sage ich denn! nur diese Verstocktheit, dies furchtbar einsame Wesen. Ich ließ ihn gehn, – ja – ich – ließ – ihn – –«

Er hielt inne und schien sich zu verlieren; sein Kinn fiel ab, er starrte vor sich hin. Aber er ermannte sich, richtete sich grade, atmete und sprach weiter.

»Als ich Ruth zuerst sah, war ich zwanzig Jahr. Du weißt, daß sie von der Mutter her Jüdin war, und auch, daß sie schön war, fast so schön wie du, ja, ja.« Er lächelte vor sich hin. »Freilich ganz anders als du, eher so wie deine kleine Freundin, Esther heißt sie ja wohl, nur viel größer, eher stattlich und wie aus Marmor. Damals heiratete sie einen Kaufmann, und der starb nun einige Jahre nach dem Tode von Gabriele, und da ich sie immer von fern sehr verehrt hatte, und auch weil ich glaubte, daß mein Sohn eine Mutter haben müsse, bewegte ich sie, mich zu heiraten. Sie sagte, bevor sie mir ihr Wort gab, in der ihr eigentümlichen, entfernten Weise – übrigens war sie nach der Meinung der Leute ohne Herz – also sagte sie, es gebe in ihrem Leben etwas, danach dürfe ich nicht fragen, und das sei es, warum sie so sei, wie Alle sie kennten, – nun – ich habe es nie erfahren, ich liebte sie auch nicht mit solcher Leidenschaft, daß es mich beunruhigt hätte, ich war zufrieden, sie mein zu nennen, was man so mein heißt.« Immer fließender, aber auch mit immer mehr Hast und oft unter sonderbarem Zucken der Schulter oder eines Arms sprach er weiter:

»In Wahrheit weiß ich nicht, ob sie imstande war, eine Wärme für irgend etwas zu empfinden. Davon wüßte Erasmus vielleicht etwas zu sagen, denn mit ihm war sie gewissermaßen – befreundet. Er hielt sich in ihrer Nähe, ließ sich auch bei seinen kleinen Arbeiten von ihr helfen, er lernte unsagbar schwer, ja, ich glaube – das ganze Leben war für ihn von Anfang an eine ungeheure Aufgabe, die er jeden Tag vom frischen angreifen mußte, und ich weiß nicht, ob er jemals richtig aufgeatmet hat … Nun, aber ich wollte –«

Da stockte er wieder völlig, die Hände gingen empor, er fuhr zusammen, warf einen scheuen Blick nach Renate, schloß die Hände, beugte sich vor und saß nun so, die Ellbogen auf den Knien, die Hände hart gefaltet, mit den Augen drüberhin auf den Boden starrend, während er redete.

»Er war nicht imstande, das Pensum einer Klasse anders als in zwei Jahren zu erledigen, hatte keine Spur von Gedächtniskraft, aber einen fürchterlichen Pflichteifer, so daß er sich auf das härteste Tag und Nacht mit Dingen peinigte, die Andre im Vorbeigehn erledigten. Freunde hatte er nicht, er war unbeliebt bei Lehrern und Schülern, ich glaube, wenn er nicht aus so guter Familie gewesen wäre, – das spielt ja immer eine Rolle, aber so wurde sein Fleiß doch anerkannt, und all das wurde auch besser in den Jahren, wo der Unterricht in Mathematik, Naturwissenschaften und Physik begann, wo er sich denn gleich auf wahrhaft erstaunliche Weise hervortat. Seiner Stiefmutter aber diente er auf so eine verborgene Art, wie ein kleiner Sklave, geriet aber in grausame Wut, wenn irgend jemand einen seiner kleinen Liebesdienste entdeckte. Vielleicht war sie für ihn die Königin eines Feenreiches und er ein dienstbarer Gnom, – ich habe freilich nie bemerkt, daß er sich mit Büchern und Märchen abgegeben hätte; er war immer ein Bastler und Ingenieur, der Dinge zusammentrug, verglich und zusammenstellte, als er noch klein war, und der aus allen ein Werkzeug oder Kasten hervorbrachte, als er größer wurde. Eines Tages stand dann wohl im Zimmer seiner Mutter oder auch in meinem ein Segelboot, oder etwas Gepapptes oder eine kleine Maschine; aber davon durfte man nichts sagen … Seine Mutter duldete all dies ohne Aufhebens, und so vertrugen sie sich.«

Ohne daß er seine Haltung veränderte, richtete er jetzt seine Augen gerade auf die Renatens, seine Blicke aber gingen durch sie hindurch, weich wie Spätsonnenstrahlen, in die Erinnerung, während er sagte:

»Ich habe sie unendlich geliebt von dem Augenblick an, wo sie mir sagte, daß sie Mutter –, nein, sie hat es mir nie gesagt, ich sah es, und in diesem Augenblick fing ich auch schon an, um ihr Leben zu zittern. Sie war ja nicht mehr jung. Ich habe damals an Liebe nachzuholen versucht, was ich im Leben vorher versäumt hatte, habe sie in einen Garten kostbarer Dinge gesetzt, sie durfte nur Schönheit sehn, nur Reinheit atmen, nur Stille trinken, und der Sohn, den ich mir erhoffte – –, ja, er ist ja auch wohl so geworden, so schön und …« Die Augen wieder auf die Hände senkend, sagte er leise: »Es giebt im Talmud eine Anekdote, die erzählte sie mir damals, in ihrer sparsamen Art, indem sie nach einem langen Schweigen plötzlich anfing, – eine Anekdote von einem Rabbi, der sich am Frauenbade aufzustellen pflegte, damit die Schwangeren ihn sähen und sich versähen an seiner Schönheit. Von ihm wird auch erzählt, so sagte sie langsam vor sich hin, daß, als Rabbi Elieser im Sterben lag, dieser Jochanaan bei ihm eintrat, und, da es dunkel im Gemache war, so erhob er einen Arm, streifte den Ärmel zurück, hielt ihn hoch und erleuchtete die Finsternis mit der Weiße seines Arms. Elieser aber weinte, und nachdem er drei Fragen Jochanaans nach dem Grunde seiner Tränen verneint hatte, sagte er endlich: Ich weine, weil auch deine Schönheit einmal im Grabe faulen wird …«

Renate schauderte leise, aber nach einer kleinen Stille fuhr er eilig fort:

»Bald danach hatte ich den zweiten Sohn, und sie war tot. Wie sie gestorben ist, weiß ich nicht; es drang nichts nach außen. Einmal sah sie mich an und sagte: Danke. – Sie lag mit offnen Augen und schwieg. Später waren ihre Augen geschlossen; noch später war sie kalt. Ihren Sohn hat sie nicht gesehn.

»Es muß ungefähr ein Jahr später gewesen sein, da fand ich Erasmus – er war neunjährig – über das Bett seines Bruders gebeugt. Du weißt nicht, wie – ja, wie abstoßend sein finstres Gesicht anzusehn war, denn es war fast nur Stirn und Augen, – die untere Hälfte war verkümmert und wuchs sich erst spät und spärlich aus. Dies Gesicht hob er zu mir und sagte in seiner furchtbaren, kindlichen Ruhe und mit seiner tiefen Stimme: »Die Leute sagen, meine Mutter starb, weil mein Bruder auf die Welt kam. Also hat er sie umgebracht?« Ich vergesse das nie. Damals schrie ich wohl: er nicht, er nicht! Ich, ich selber habe es getan! – Ob er es verstanden hat, weiß ich nicht, er war von den sonderbarsten und entsetzlich schweren Begriffen, die er sich in seiner Einsamkeit selbst anfertigte von dem, was ihm zuflog, und die er dann so behielt, unveränderlich, nicht daran zu rütteln.«

Jetzt war es sie selber, Renate, gegen die seine Augen andrangen aus einer grausamen inneren Verhärtung, da er sagte:

»Nun weißt du,« ganz langsam setzte er die Worte hin, »nun weißt du, was meine Söhne wurden. Nun weißt du, was an ungeheuerlicher Schuld in jenen Jahren von mir angehäuft wurde. Nun weißt du, daß der eine Sohn mir alles, alles, und der andre mir nichts, nichts war. Nun weißt du, welche Gerechtigkeit mich jetzt heimgesucht hat, da ich zwei Söhne habe und doch keinen, denn der eine ist nicht da, und der andre rührt mich nicht. Dieser aber wuchs auf wie eine schöne Blume, zart, süß, kräftig, blühend. Der hatte alle Leichtigkeit, alle Anmut, der war ein Windspiel, ein – ein Herrscher, so trat er von Anfang an auf, nur sein Wort, sein Blick galt im Haus, alles war ihm untertan, aber – die Leute sagten, er habe kein Herz. Wenn seine Mutter keins hatte, ja, wie sollte dann er …« Er hielt den Kopf in den Händen, er schüttelte sich plötzlich und streckte die Hände nach ihr aus. Auf den Knien vor ihm liegend, sein Gesicht an ihre Brust drückend, hörte Renate ihn stammeln: »Ich kann doch nicht fort, ich kann doch nicht! Wenn er wieder kommt, und ich bin nicht da …! Und Erasmus wird ihn töten, er hat ja schon als Knabe einmal mit dem Messer …«

Laut aufschluchzend weinte er wie ein Kind jämmerliche, erstickte, zerbrochene Worte heraus, er fürchte sich namenlos vor Erasmus, er müsse doch fort, er könne nicht, Renate solle ihm verzeihn, er wäre elend, er habe mit ihr den Erasmus bestechen wollen, und er wisse ja, daß Beide sie liebten.

»Warum willst du ihn denn nicht?« rief er, sich losmachend und ihre Augen mit seinen heißgeweinten suchend. »Ist er denn nicht gut, mein Sohn Erasmus?« bat er mit ausgestreckten Händen, »ist er nicht adlig und tüchtig und gehorsam und – ach, du mein Gott, was für ein Engel ist er gegen seinen Vater und seinen Bruder. Und der Herr sah gnädiglich an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Kannst du denn, kannst du denn nicht diese entsetzliche Angst von mir nehmen, ehe ich fortgehe, und ich will fortgehn, und will nicht wiederkommen, und unstät und flüchtig werden …«

Er verstummte, weil sie seinen Mund mit ihrer Wange verschloß, sein nasses Gesicht in den Händen an der Brust, selber am ganzen Leibe zitternd, frierend, entsetzt. Danach machte er sich los, keuchte ein paar Mal heftig, umklammerte ihre Handgelenke und flehte mit den Augen. Da raffte sie sich auf, küßte flüchtig seine Stirn und sagte: »Ich will versuchen …«

Sie stand auf.

Ein welkes Versprechen. Hatte sie ihn wirklich damit beruhigt? Sie stand abgewandt, die Hände unter dem Kinn gefaltet, auf ihre Lampe blickend; hinter ihr sagte er halblaut, er sei von Sinnen; dreißig Jahre habe er ein Leben in Gedanken- und Planlosigkeit geführt, und das solle nun sie ihm bezahlen. Nun, sie solle nur ruhig sein, er sei es auch, er habe es ja nun vom Herzen herunter, und nur die Nerven wären wohl schuld, eine Reise würde ihn bald wieder aufrappeln …

Sie hörte ihn kaum. So war es nun mit Allen. So trug Erasmus das Seine, jahrelang wortlos, so hatte Bogner jahrelang schweigsam unerschütterlich sein Leben vollführt, bis sie ihn einmal zum Reden brachte; so flammte mancher wohl einmal auf, aber hinterdrein – so waren sie Alle – zogen sie schon wieder den Mantel knapp um sich und wollten nichts mehr wahr haben. Dann waren die Nerven schuld. Was sagte der Onkel jetzt? Er fuhr fort, alles so hinzustellen, als ob es auch ebensogut ganz anders sein könne, als er es eben dargelegt. – War das nun wieder ihretwegen, die für Alle so eine schöne Sache war, unter einer unsichtbaren Glasglocke? Nein, nein, woher nur diese grausame Eifersucht auf unsre Leiden, auf unsre Schmerzen? Die sind freilich unser einziges und letztes Eigentum, so eins, das man wohl einmal zeigt, aber an dem keiner teilhaben darf, und sie –, ja, würde sie vielleicht anders sein? Wie angewachsene Hermen, dachte sie, so stehen wir da an den Lebensstraßen, unsre Füße bleiben immer im Stein, einmal schreien wir zum Nachbarn hinüber. Josefs Mutter, wie sie schwieg … Keiner konnte helfen, keiner. Was? Konnte, sollte sie denn nicht? Ja, um Gottes willen, war denn das etwas Denkbares, dies mit Erasmus? Sie verstand nicht mehr. Hier saß der Onkel und tat, als wäre alles nichts, und hier stand sie vor einem Wirbel, aus dem es toste. –

»Verzeih!« hörte sie ihren Onkel hinter sich sagen, wandte sich um und sah, daß er eine Zigarette in der Hand hielt und Streichhölzer. Verloren in sich selbst, ging sie zum Schreibtisch, nahm eine kleine blutrote Steinschale und setzte sie vor ihn. Er rauchte und sah miteins ruhig, gefaßt, beinahe jovial aus. So ging sie auf ihn zu, legte die Hände auf seine Schultern, zauderte und sagte:

»Also laß uns reisen. Oder – möchtest du lieber, daß ich bleibe, falls – falls Josef kommt?«

Er lächelte trüb, meinte, der komme ja nicht, und stand auf.

»Ja, falls ich reisen sollte, möchte ich dich wirklich bitten, zu bleiben,« sagte er bescheiden wie im Anfang, »wirklich. Ich möchte auch allein sein, ich – nun –« Er brach ab, küßte sie freundlich auf die Stirn und ging hinaus.

Lange stand sie mit hängenden Armen, ermüdet und kraftlos; dann ging sie zur Wand, rückte die kleine Genellizeichnung, die dort hing, gerade, warf sich, die Arme vor dem Gesicht, gegen die kalte Tapete, schluchzte ein paarmal tränenlos, schlich matt zu einem Sessel und fiel darauf nieder. Ein wenig Tabaksrauch schwebte süßlich im Raum, und das war der Rest. Sie warf den Kopf auf den Tisch und seufzte: Ach! – Bogner kam doch niemals. Ob sie Saint-Georges fragen sollte? – Sieh, sagte sie spöttisch zu sich selbst, du bist doch nicht so und schleppst deinen Kummer gleich zu jemand anders. Er ist freilich auch danach, dieser Kummer. – Überdem stand sie auf und begann gedankenlos ihr Kleid zu öffnen, ließ es zu Boden fallen, öffnete die Untertaille, merkte, was sie tat, raffte das Kleid auf, ging müde ins Schlafzimmer, kleidete sich aus, legte sich und löschte das Licht. – –

Hatte sie schon geschlafen? Sie setzte sich auf im Finstern, rieb die Augen. Was für eine wunderliche Trunkenheit? Aber da war ja Licht – sie erschrak – im Nebenzimmer; die Tür war angelehnt. Bleich um sie her war der Raum, die weißen Schränke still, dunkler der dreifache Spiegel dort hinten, voll Geheimnis, wie ein Schrein, der sich geöffnet hatte, während sie schlief. Hatte er etwas entlassen? Wollte er empfangen? – Sie versuchte, sich zu ermuntern, doch gelang es nicht, und so, seltsam trunken und gefangen stand sie auf, ging nacktfüßig zur Tür und blickte mit leiser Furcht in den Raum. Still war es drin, o so still! Was war hier doch vorgegangen, am Abend? Still, nur ihr sanftes Wesen verbreitend, stand die gelbe Schirmlampe auf dem Schreibtisch, geduldig weiter brennend, ohne Vorwurf, daß sie vergessen war, – ach, und wie blühte darüber die geisterhafte Blume, das Angesicht des ägyptischen Königs mit dem küssend gewölbten Mund, einsam auf seinem Pfeiler! Still war alles, und lebte doch. Gespräche, die sie unterbrochen, schienen überall gestockt zu sein; es knackte im Sofa; in seiner kornblumenblauen glänzenden Seidenbespannung schien es ganz eine himmlische Höhle; nur die einzelnen Bücher auf dem Tisch davor schienen in sich gekehrt und zu schlafen. Mächtig, aufrecht, geziert ragte das Lilienbüschel hoch empor. Leise funkelte es aus der Vitrine, im Schliff der Scheiben glänzte es gelb und rötlich. Welch fremdes Reich, das sie hier überraschte! Oh all dies gehörte sich selber an, jeder Stuhl, der Teppich, der Schreibtisch, die Vasen, die Bilder, jedes gehörte sich selber allein in einem stummen, aber starken Leben, und nicht ihr. – Eilig ging sie zum Fenster, öffnete es und bog sich hinaus, fast zurückgestoßen jedoch von einem graden, kalten Wind, der sie gewaltsam umschloß. Da erinnerte sie sich: er war das Rauschen gewesen, das sie, während der Onkel sprach, unablässig fernher gehört und – auch das wußte sie jetzt – längere Zeit für das ferne Wehr im Fluß gehalten hatte. Die Nacht war völlig schwarz; in den unsichtbaren Wipfeln sauste und tobte es, – ach, es war ja September, längst … Morgen früh würde sie den noch verschonten Garten zerrissen finden wie von einer sinnlosen Hand, und sicherlich war der gestrige der letzte der weißen und goldenen Nebelmorgen gewesen. – Hastig, nicht weiter zu denken, schloß sie das Fenster, löschte die Lampe und tastete sich in das Schlafzimmer.

Aber nun war sie doch wacher geworden. Und, verlockt von der dunklen Höhle des Spiegels, ging sie hin, wiederum leise erschreckend, da ihre weiße Gestalt ihr von fern entgegenschwebte und gegenüber stillhielt. Eine Fremde, murmelte sie, eine Fremde … und griff, ohne zu denken, nach der Kurbel. Starkes weißes Licht senkte sich von oben, sie schloß die Augen, öffnete sie wieder, und da gingen in dem Spiegelantlitz die beiden dunklen, blauen Feuer auf, tief leuchtend, beseelt, aber ganz so fremd wie die eines zweiten Menschen, in dessen Innres kein Eingang war. Als sie zu lächeln versuchte, sich lächeln sah und von der Bewegung der Lippen im Spiegel die Bewegung der eigenen Lippen empfand, erkannte sie wohl, daß sie selber es war, aber hinter diesen Augen, dieser Stirn war Unbekanntes, blieb Fremde. Sie sah das Heben und Sinken ihrer Brust unter dem Hemd, streifte es von den Schultern, ließ es zu Boden rinnen, und nun, wie in einem weißen Ring von Wellenschaum nackt dastehend, die Hände, sich vorbeugend, links und rechts gegen die andern beiden Glasflächen der Flügelspiegel gestützt, sah sie sich schaudernd an, fühlte schaudernd verdoppelt die schöne Lebendigkeit des weißen Leibes, dahinter, tief im Grunde, sonderbar in das Gegenüberzimmer hineingestellt, das Fußende des weißen Bettes, ein Stück der zusammengeschobenen Decke und die Dämmerhelle der nächtigen Stunde. An ihrem rechten Knie zitterte leise das Ende der einen, nach vorn herabgefallenen, lichtbraunen Flechte. Sie grüßte sich, sie murmelte unbedacht: »Nein, Erasmus, nein, nein« … Darüber sanken ihr die Augen zu, mit geschlossenen Lidern ertastete sie die Kurbel, drehte sie, raffte ihr Nachtkleid auf, streifte es über, erreichte ihr Bett, verhüllte sich fröstelnd, atmete tief und schlief ein.


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