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Drittes Kapitel: Juli

Die Friedliebende Gesellschaft

Renate saß am Abend des ersten Juli, ihres Geburtstages, am Schreibtisch und schrieb im letzten Licht des Sommerhimmels:

 

Mein lieber Josef:

Hiermit schenke ich dir zu meinem Geburtstage eine Stunde von ihm. Eine sehr kostbare Stunde, denn unten sitzen sie Alle um Jason in der dämmerigen Veranda und hören ihn kleine Geschichten erzählen. Du kennst Jason ein wenig durch meine Berichte. Wirklich ist er zu den Lebendigen zurückgekehrt. Nun erzählt er Geschichten. Geschichten, die er augenscheinlich selbst macht. Dann sitzen wir Alle um ihn herum, und er erzählt, halblaut, leise plätschernd, den blassen Mund immer ganz leicht gekräuselt, beinah möchte man sagen: kaustisch, aber das ists nicht, es ist bloße Freundlichkeit, immer geruht er ganz leicht, und seine Langmut ist ja nun unendlich. Die schwarzen Augen wandern unaufhörlich umher, vom Einen zum Andern, und immer muß man sich freuen, wenn man angesehn wird. Er weiß auch immer eine Antwort, nicht wie Georges, der Aufschluß erteilt und Dinge klarlegt, sondern da ist irgendwie eine sanfte, ganz sanfte Unabänderlichkeit in seinen Worten, sie sind so da wie eine kleine Wiese, sie stehen da wie ein Büschel Blumen, – was ließe sich dagegen einwenden? Aber er spricht niemals von selber, man muß ihn immer anreden, und dann weiß er immer etwas, ach, ich könnte stundenlang davon schreiben! Niemals widersteht er; wenn einer spazieren gehen will, Jason geht mit; wenn einer im Garten sitzen möchte, Jason sitzt mit im Garten; wenn einer was erzählt haben will, Jason erzählt gleich was. Aufschreiben wollte er nichts, sagte er, er wäre kein Literat, aber nachdem ich ihn gebeten habe, hat er mir schon dies und das Stück Papier gebracht, darauf war mit ganz kleiner, zierlicher Schrift eine seiner Geschichten aufgeschrieben, und wenn der Bogen zu Ende war, war die Geschichte auch aus; das nehme er sich so vor, sagte er.

Aber weiter zu den übrigen ›Allen‹, die ich erwähnte. Da ist:

Magda, die Du kennst, doch wurde sie freilich durch Krankheit und Schicksal recht verändert. Wenn Du Dir eine sehr mädchenhafte und sehr deutsche Madonna vorstellen kannst, eine Madonna, die nicht geboren hat –, dann kannst Du sie sehn, wie sie jetzt ist. Siehe, es giebt Menschen, die werden durch vieles Leiden – wie der Stahl durch Bestreichen mit dem Magnetstein – magnetisch für anderes Leid, und wer das seine mit ihr in Berührung bringt, dem weiß sie es sanft zu entziehen. – Glück, hörte ich Dich einmal sagen, ist eines der häufigsten Fremdworte in der Erdensprache. Nun – dann hat meine Magda jene Sprache verstehen gelernt, aus der es stammen mag.

Ulrika kennst Du, und sie ist dieselbe; mir nicht ganz nah wie bisher, so sehr ich sie liebe. Sie muß einen seltsamen, mir unbekannten Geist mit sich herumtragen, den vielleicht verstehen mag

Bogner, doch will ichs nicht beschwören. Sie sind viel zusammen, soweit er nicht, wie zurzeit, vor einem Wandstück in der Kapelle sitzt, die er mit musizierenden Engeln auszuschmücken beschäftigt ist. Um es gleich zu sagen: Was Bogner sich unter Engel vorstellt, ist nicht mehr und nicht weniger als ein heroisches Wesen, dem er diesen Namen giebt. Er hat einen Haufen Studien um sich herstehen und malt. Nein, mit ihm ist nichts anzufangen, obwohl er nicht ohne Bereitwilligkeit ist; jedenfalls wenn er nicht malt.

Irene kennst du. Mit ihr, Georges, dem gleichfalls Dir bekannten Benno – dessen Namen ich nur anzuschlagen brauche, um Dich den ganzen rührenden Akkord mit allen Ober- und Unterstimmen seines Wesens hören zu lassen – und einem Dir Unbekannten, der das Cello spielt, haben Ulrika und ich eine Quartett- und Triovereinigung an Mittwoch- und Sonntagabenden. Was das Cello angeht, so bist Du vollkommen ersetzt. Er heißt

Sigurd Birnbaum, studiert Medizin und ist neunzehn Jahre alt. Menschen beschreiben kann ich nicht gut, so mußt Du Dich mit der Versicherung begnügen, daß ich ihn schön finde und so aussehend, daß ich ihn Unkas getauft habe nach dem letzten Mohikaner. So sieht er aus; so geht er – schwer und mit den Füßen etwas einwärts, wie diese, noch ein wenig tierhaften Menschen sich den Gang auf langen Wanderungen erleichtern sollen; so einfältig ist sein Gemüt, kampfbereit sein Geist – und im übrigen habe ich einen Vers darauf gemacht, der später kommt. Seine Schwester heißt

Esther, ist das Lieblichste von der Welt, gleicht aufs Haar einer kleinen Chinesin, wird von allen liebgehabt und kann sonst auch gar nichts, obwohl sie sehr klug ist. Da sie aber etwas tun muß, so haben wir einen Fond gegründet für Handarbeiten, denn darauf versteht sie sich. Was kann das Mädchen himmlische Sachen sticken! Wie ich gestern in Dein Zimmer komme, sitzt sie da mutterseelallein über einem großen Stück schwarzer Seide und näht an einer handtellergroßen Scheibe in der Mitte aus kleinen Rosen, von kunstvoll zusammengefalteten, lichten Seidenläppchen; in handbreiter Entfernung soll ein dichter Doppelkranz von gleichen Rosen herum, und das Ganze bekommt eine altgoldene Spitzenborte, die ich hergeben werde. Leider ist sie ganz arm. Also hat sich der wohlhabende Teil unserer Gesellschaft zusammengetan und einen schönen Fond gegründet zum Einkauf von unermeßlichen Seidenstoffen, Kanevas, Wolle, Seidenfäden und so weiter, und die gute Esther wird die ganze Gesellschaft mit Kissen und Morgengewändern, Fenstervorhängen und Tischdecken versorgen. Außerdem ists unendlich behaglich, wenn einer vorliest und jemand dabei sitzt und stickt. Jason kann ihr Geschichten erzählen, wenn sie allein ist.

Prinz Georg wäre dann der letzte zu erwähnende, und Du kennst ihn. Nicht wahr: immer freundlich, gutherzig, ehrlich, immer gern literarisch – oder muß es in diesem Fall literatisch heißen? – und im übrigen so wie der Vers, den ich auf ihn gemacht habe. (Kommt später!) Allzuhäufig sieht man ihn nicht, denn er ist in einen ›Geheimbund‹, wie er das nennt, eingetreten, wo er ›sich in den Sitten wilder Völkerschaften übt‹.

Ein Name – sagte Josef einmal – ist was der Henkel am Topf; also nennen wir uns die Friedliebende Gesellschaft. Wir kommen und gehen in diesem Hause, wie es uns beliebt, und unser einziges Statut ist, uns nur einmal am Tage zu begrüßen.

Ich – ja was kann ich zurzeit andres tun, als gute Menschen zu versammeln und zu denken, daß sie sich nichts zuleide tun und, solange sie beisammen sind, sich des Lebens freun. Sie haben ein jeder ihre Arbeit, draußen; also werden sie auch alle ihre Leidenschaften und ihre Leiden, ihre Feindschaften, ihre Seufzer und ihre Plagen haben, so wie ich die meinen, aber sobald sie hier sind, das weiß ich, herrscht Wohlsein, und unsere Gemeinsamkeit ergeht sich auf dem Boden guter Arbeit erholenderweise, wie der Bauerntanz auf der Tenne. Dazu ist Sommer, alles blüht, die Farbe herrscht, in der Natur und an den leichten Kleidern von uns Frauen. Nach der Hitze des Tages leben sie Alle bei Dunkelwerden vollends auf, wandern umher, hören von fern irgendeine Musik, gehen über die Wiesen hinaus, an den Fluß, singen unter den Sternen und hinüber zu den Lebensbäumen des Friedhofs; wir leben gegenwärtig, gedankenleicht, unbedacht, geschwisterlich. Kommt die Nacht, steht Schlaf bevor, sind wir jeder wieder allein. Dann herrscht das Unsrige, – das Eigentliche wohl. Mag es.

Und so ist es schön. Wer ins Haus kommt, der weiß als Gewissestes den Maler in der Kapelle; der findet Esther, von buntem Zeug umgeben, im gotischen Fenster, findet Jason im Hintergrund, findet Georg, eine Seidensträhne durch die Finger ziehend neben Esther, findet Benno am Klavier phantasierend, findet Irene, Arme voll Blumen zusammentragend, die sie ihrem arbeitsamen Mann heimschleppt, damit er auch was hat, findet Magda unter den sechs Linden, unserer ›kleinen Allee‹ hinter der Kapelle hin- und herschlendernd, als ob sie innen sänge, der armen Frau Marie Grubbe gleich, als sie noch ein Mädchen war und sehnsüchtiger als mein Kind Magda, und findet uns schließlich Alle beisammen in der Kapelle unterm Gewölk von Klängen voller Sterne, Blumen, Blitze und Engelsgesichter.«

Renate merkte, daß es so dunkel geworden war, daß sie ihre eigenen Schriftzüge kaum noch erkennen konnte. Sie streckte die Hand nach der Lampe, die Glühbirne im kleinen gelben Schirm flammte auf, sie blickte einen Augenblick geblendet nach oben, erkannte das weiße Gesicht Ech-en-Atons über ihr, lächelte und schrieb weiter.

»Zum Beschluß eine kleine Szene von der heutigen Geburtstagsfeier. Zu diesem Zweck wurde Renate in ihrem allergrößten, dem glühroten Kleide mit blauem Moireemuster, das Du kennst, nebst der grünen Halskette von Dir, vor der Orgel aufgestellt, und die ganze Gesellschaft kam im langen Zuge zur Kapellentür herein, indem sie nach der Melodie: ›Mariechen sitzt auf einem Stein, einem Stein, einem Stein‹ den schönen Choral sangen: »Renate hat Geburtstag heut, -burtstag heut, -burtstag heut!« Als sie, Georg als der Durchlauchtigste voran, am Podium angelangt waren, setzte Benno sich an die Orgel und spielte ganz leise den Jungfernkranz in Fis-Moll, während Einer nach dem Anderen das Podium bestieg und seine Gabe überreichte. Herrliche Dinge gab es da. Georg schleppte eine große, chinesische Göttin der Barmherzigkeit aus mattgetöntem Porzellan, die wie eine Muttergottes aussieht und lieblich lächelnd segnet. Hinter ihm kam Irene mit einem halben Dutzend langhängender Seidenstrümpfe in allen Farben an jeder Hand. Ulrika trug einen Stoß Noten auf dem Kopf wie ein Negersklave. Sigurd hatte alles und Alle photographiert, Menschen, Haus und Garten, und trugs in einem schönen Album unter dem Arm herbei. Magda hatte Spitzen geklöppelt, dünn wie Spinnweb, der Himmel mag wissen, wo sie die Zeit hernahm, die immer nur für Andere da ist! Saint-Georges brachte eine ererbte Kostbarkeit herbei, einen grünen Porzellanmops, den ich schon immer hatte haben wollen, und Esther kam, in ausgebreiteten Händen einen grauen Florschal, den sie mit silbernen Vögeln bestickt hatte, ein Wunderwerk der Kunst. Zuletzt kam Bogner und hatte Stiefel gekauft. Das war zum Totlachen! Das heißt, Stiefel nannte es Irene, die vor Gelächter sterben wollte, aber es waren ganz schlichte, kleine, gelbe Schuhe, und der Maler versicherte, er hätte tagelang nachgedacht, bis ihm beim Anblick der Schuhe in einem Schaufenster die Erleuchtung gekommen sei, und er hatte es gut gemacht, denn als Renate ihren linken Schuh abstreifte, saß der neue wie angegossen. Bogner hatte wirklich einen schönen Charakter, obgleich Renate im Herzen zitterte und knirschte, nachdem sie eine Woche lang sich vorgestellt hatte, was er ihr wohl malen würde. Darum, als durch das Gedränge der Übrigen auf dem Podium, die gegenseitig ihre Geschenke bewunderten und anpriesen, der gute Benno sich endlich durchgewunden hatte und mit unzähligen Verbeugungen, Erröten und Stammeln eine zierlich geschriebene Kantate auf den 133. Psalm geschrieben: ›Siehe, wie fein und lieblich ists, daß Brüder einträchtig beieinander wohnen‹ überreichte, wäre sie mit Freuden in Tränen ausgebrochen. – Stiefel! jauchzte Irene, der Maler hat Stiefel gekauft! – Aber nun, wo war Jason al Manach? Siehe, da kam er herein, wie stets, wenn er verlangt wurde, nickte Allen herzlich zu, gab Renate die Hand und seinem Wohlgefallen Ausdruck, daß wieder einmal Alle da wären. Ja, ob er nicht wisse, was heute sei? Richtig, da fiel ihm ein, daß Geburtstag war. Er hatte es vollständig vergessen. O Jason, wie wurdest du da verhöhnt! Sein berühmtes Gedächtnis! – »Saint-Georges, was sagen Sie dazu?« fragte ich geknickt. Er aber, der alles weiß, fand das erlösende Wort: »Was hielte stand vor Renate?« sagte er. »Sogar Jasons Gedächtnis versagt.«

Renate aber ergriff eine perlgestickte Tasche, holte eine Handvoll gekniffter Zettel hervor und verteilte sie, befahl darauf, daß jeder, in der Folge, die sie bestimmte, den Inhalt laut und deutlich vorlese. – Renate hatte nämlich die ganze Gesellschaft mit Ritornellen beschenkt. Sie selber begann, Magdas Hand, die neben ihr stand, ergreifend:

Magda, – vom Leide
Geführt, in unserm Kreis der kleinen Freuden,
Ist unser Aller Trost und Herzensweide.

Georg mußte lesen:

Georg, der Trasse,
Stürzt sich ins Leben wie ins Meer der Schwimmer,
Drum sieht er rings – nur Masse, Masse, Masse.

Ulrika las, nicht ohne Erröten:

Ulrika, holde!
Gott segne deine immer klaren Augen
Und fülle sie mit immer tieferm Golde!

Irene las und dankte mit Knicks und Lächeln:

Irene, hell,
Beschwingt und tönend wie die schwarze Amsel,
Ist nur vergleichbar einem – Ritornell.

Maler Bogner las, nachdem er mit einem Blick auf seinen Zettel: Eiweih! gemurmelt hatte:

Der Maler Bogner
Ist unsres Hauses festgefügte Säule,
Ein Selbsterzeugter und ein Selbsterzogner.

Esther Birnbaum las ganz leise und tief errötend:

Die kleine Esther
Ist eine Königin ganz im geheimen.
Wie schön ist das! Nun nennen wir sie Schwester.

Sigurd las ein wenig ernst und scheinbar betroffen:

Sigurd. – Ein Mahner
An Gideon, der Makkabäer Nachfahr,
Im Adlerschmuck vom – letzten Mohikaner.

Saint-Georges beschloß:

Saint-Georges, der Stille
Im Hintergrund, ist regsam wie im Fachwerk
Die niemals ruhende, geschäftge Grille.

Und nun hob Jason ein ganz furchtbares Lamentieren an, weil er keins bekommen hatte. Die Anderen verhöhnten ihn maßlos, weil das die Strafe für seine Vergeßlichkeit sei, Renate aber entschuldigte sich, sie hätte wohl an ihn gedacht, aber keinen Reim weder auf Jason noch auf al Manach gefunden, und davon habe sie nicht loskommen können. »Ach, du lieber Gott,« sagte er, »es ist doch so leicht wie Wattepusten:

Jason al Manach.
Zu nichts zu brauchen als zum Märchenplappern,
Vielleicht zu einem Reim auf Lukas –«

Statt des letzten Wortes ließ er den Mund erschreckt und kindlich halb offen stehen, als habe er nun auch das Reimwort vergessen.

Eine Weile später fand Renate sich von Saint-Georges gefragt, warum sie selber sich vergessen habe. »Ach, Georges,« sagte sie, »Sie können gern noch eins haben, obwohl nur die Hälfte von mir selber ist und die andere Hälfte von Mörike:

Des Freundes Achtung
Ist vor Renates Versen sehr gesunken:
Sie stieg hinab ›zum Abgrund der Betrachtung‹.«

»Warum so giftig?« sagte er freundlich.

Von zwei Menschen, die zur Vervollständigung meines derzeitigen Lebensbildes gehören würden, habe ich bislang geschwiegen und – will es nun bis ans Ende tun.

Dein Auftrag ist ausgeführt. Cornelia Ring lernte ich schon vor längerer Zeit durch einen Zufall kennen und denke seitdem nicht an sie, ohne zu bedauern, daß sie nicht unter uns sein kann. Übrigens befindet sie sich in meinem ›Weichbild‹, denn Maler Bogner hat sie zu sich genommen, und sie hält ihm alles instand, von den Strümpfen bis zu den Pinseln.

Ja, Josef, was fange ich mit dem Brief an, den Du mir da geschrieben hast? Ein Feuilleton über ›den Unfug der Vereinigten Staaten‹. Du hättest es an die Frankfurter Zeitung schicken sollen. Darf ichs nachträglich für Dich tun?

Gott befohlen, Josef!

Renate.«

 

Ohne das Geschriebene noch einmal zu überlesen, legte sie die Bogen zusammen, faltete, kuvertierte sie und schrieb die Adresse. Danach löschte sie das Licht, trat einen Augenblick ans Fenster, ließ sich von der lauen Nachtluft an die Gesellschaft in der Veranda erinnern und ging treppunter.

 

Als Renate die dunkle Halle betrat, war von der Veranda her so kein Laut hörbar, daß sie glaubte, es sei niemand dort; doch gewahrte sie gleich darauf im linken Fenster den Schatten eines Menschen, der wohl draußen auf der Fensterbank saß, und nun auch im grauen Rechteck der Mitteltür einen weiblichen Schattenriß, undeutlich, der draußen stand. Auf dem weichen Teppich kam sie wider Willen unhörbar bis zur Tür und sah nun, daß doch wohl Alle da waren, aber so still wie die Büsche im Garten und kaum zu erkennen im Finstern.

Der weibliche Schatten war Magda, die dicht an der Treppe zum Garten an der Brüstung lehnte, halb verhangen von dem schwarzen Rankenwerk des Weins und Jelängerjeliebers, das vom Verandadach herabhing. An der andern Seite des Eingangs stand, fast wie sie, Ulrika. Ganz ferne links in der äußersten Ecke war der weiße Schein von Jasons Gesicht tief unten zu erkennen: er mußte auf einem Taburett, fast am Boden sitzen. In seiner Nähe saß, kaum zu unterscheiden von der Brüstung und den Blumen darauf hinter ihr, Esther; an der Wand Saint-Georges, am roten Glühpunkt seiner Zigarette zu erraten. Der im Fenster hockte, war Sigurd, und neben ihm, als Einziger bescheidentlich auf einem graden Stuhl aufrecht, saß Benno, wie er pflegte: ein Knie überm andern, die Hände darauf, den Rücken gebogen, das Gesicht ein wenig emporgerichtet. Und Irene? – Sie saß wohl verborgen hinter der Rückenlehne des Sessels, ganz in Renates Nähe. So war nur Bogner abwesend, – und Georg – in seinem Geheimbund vermutlich.

»Erschreckt nicht,« sagte Renate behutsam, »ich bin es.«

Ein Schimmer – Irenes Auge – erschien über dem Sesselrücken. Die Übrigen bewegten sich Alle ein wenig, doch keiner sprach.

»Ich habe,« bemerkte dann Jasons Stimme fein aus dem Hintergrund, »wie man von feindlichen Batterien sagt, sie sämtlich zum Schweigen gebracht.«

»Wie denn?« fragte Renate.

Für Jason antwortete Irene nach einer Weile tief: »Er erzählte so seltsam …«

»Darf ich wissen was?« fragte Renate, in einen leeren Sessel gleitend.

»Ach,« hörte sie Esther aufatmen, »wie kann man das sagen? Es sind ja keine Geschichten. Nur ein Stück Leben, das er erscheinen läßt, wie – wie in einer Laterna magica, so farbig und so leise.«

»Wenn Sie«, ertönte Saint-Georges' Stimme nach einer Zeit, »den Inhalt wissen wollen: Da war ein Buchbinder. Der stand von früh sieben Uhr bis abends zehn am Arbeitstisch. Er hatte einen sehr alten, weißbärtigen Vater, der noch helfen konnte, eine große, üppige Frau, die an besonders arbeitsreichen Tagen zugriff, und einen zehnjährigen Jungen, der ins Realgymnasium ging, aber albern war, nur herumlief und lachte, nichts lernen konnte; ein halber Idiot. Damit der einmal zu leben habe, mühte sein Vater sich tagein tagaus, ohne Festtag, ohne Freude als eben diese.

»Eines Tages fing er an, sonderbare Reden zu führen. Dann verschwand er. Dann kam er wieder, redete irre, tobte. Dann kam er ins Irrenhaus, und dort starb er bald darauf. Fast das ganze Guthaben des Sparkassenbuches hatte er vergeudet.

»Nun stellte die Frau sich an seinen Platz. Sie hatte alle Fertigkeit gut begriffen, nur die feineren Einbände machte der Schwiegervater, aber bald konnte sie das Vergolden der Titelschriften und dergleichen besser als der Alte, ja mit Frauengewissenhaftigkeit machte sie's sogar akkurater als der Tote, in freilich längerer Zeit. Und dann starb plötzlich der Schwiegervater. Ja – und dann fand man sie eines Morgens am Bett des Knaben, sitzend, über ihn gebeugt, und das Zimmer war gefüllt mit Leuchtgas.«

»Ja,« setzte Saint-Georges nach einer Weile hinzu, »das wars.«

»O nein, das wars nicht!« sagte Ulrikas Stimme hinter Renate. »Wir haben es doch alles gesehen! Die lange Werkstatt mit den blinden, verklebten Fensterscheiben voll rostiger Eisenquadrate, und den langen Arbeitstisch, darunter das Werkzeug, – und wie der Mann mit seinen dunklen Augen und dem zurückfallenden schwarzen Kinn und den wehmütig hängenden Mundwinkeln soviel plappert, immer seine kurzen: Ja, ja, – jawohl, jawohl, – ja … Und dann der Geruch … der Leim auf dem Herd, der Kleister, Druckerschwärze und gekleistertes Papier, und Leder, und Kaliko, jedes …«

Benno räusperte sich. »Ach,« sagte er, »und draußen der schmale Hofraum, das alte Pflaster voll Gras, und in der Ecke der alte Leierkasten, der herrenlos war …«

»Und gegenüber den Fenstern«, redete Sigurd, »die vier braun gestrichenen Türen der Klosette mit dem Herzloch oben, nicht wahr, und dahinter die alten Fachwerkwände, die Fenster und Gardinen, und die Geraniumstöcke im Sommer …«

Nun schwiegen sie wieder. Renate, schon – wie den Geruch der Blumen, des Rasens, des ganzen Atems der Sommernacht – den Duft des Erzählten aufsteigen fühlend, bat innerlich: nur weiter! so bekomm ich vielleicht doch noch das Ganze …

Und überdem hörte sie Esther wieder:

»Es war so traurig! Am traurigsten war, wie die große, dunkle Frau da am Bett sitzt und nicht mehr lebt. Nein,« überbot sie sich, »das Traurigste war wohl doch, wie der Mann da die Dirnenbekanntschaft gemacht hat, und er nimmt seine Frau mit zum Stelldichein –«

»Ich glaube,« fiel Magda leise ein, »am schrecklichsten fand ich, wie er dann seine Frau auf den Rücken klopft und sagt, sie wäre aber doch die Beste und –«

»Nein, Magda,« raffte Esther sich erregter auf, »das wars doch nicht! nicht das, sondern – wie sie selber Jason das alles erzählte und dabei Zeitschriften heftet und weint und alles zwei und dreimal wiederholt und ›du bist doch die Beste‹, wie er das gesagt habe, und sie sagt, daß sie das ja auch immer gewußt hätte, er wäre nur bloß eben … Und wie sie eigentlich gar nichts Besonderes drin fand und – – sags doch, Sigurd!«

»Keinen Namen, keine Bezeichnung dafür, nicht wahr? Nur ein Unglück, ein furchtbares Unglück; so furchtbar, daß es sich nur hinnehmen ließ …«

Sie waren verstummt. Renate konnte, da es heller vor ihren Augen geworden war, nun von Allen die Helligkeit der Gesichtszüge und die dunklen Flecken der Augen erkennen, in denen es glänzte. Plötzlich tat sich neben ihr, fast laut, entrüstet und verwirrt, Irenes Stimme auf:

»Und das Ganze kommt nur von der fehlenden Anzeigepflicht der Geschlechtskrankheiten.«

Ein Lächeln, kaum hörbar rauschend, wehte im Kreise umher. Und Saint-Georges sagte: »Bravo! Die Frau ihres Mannes.«

Bevor Irene auffahren konnte, wurde jetzt Jasons melodische Stimme hörbar, der langsam sagte:

»Ihr Kinder! ihr Kinder! Wie seid ihr doch sonderbar! Meint ihr denn nun eigentlich, die Menschen in meinen ›Geschichten‹ seien andre als ihr selber, daß ihr von alledem sprecht, als ob ihr nie dergleichen gesehn hättet? – Und in meiner letzten Geschichte, von dem Buchbinder, da waren sie wohl euch wieder nicht gütig genug bei all ihrem Unglück, denn war die Mutter nicht öfters hart zu dem albernen Jungen, und es gab auch wohl Schläge, und der Alte erst, der immer schlechter Laune war und brummte, obwohl er tun und lassen konnte, was er wollte, um sechs Uhr Feierabend machte und sein Bier trank, und als der Sohn tot war, sprach er obendrein schlecht von ihm. Denn über ihnen Allen war das Unsichtbare, das, was Irene andeutete, was sie alle Drei wußten und nicht wissen wollten, das Verschulden, das doch keines war, sondern in Wahrheit – Verhängnis. Verhängnis? Sie waren es doch selber, in ihnen wirkte es, ihr Leben wars, das, wonach sie sich eingerichtet hatten, und sonst nichts.«

»Ja,« fing Esther an, »ich weiß nicht, Jason, – deine Menschen sind doch sonderbar. Irgendwas – glaub ich – fehlt. Sie sind nicht gütig und nicht schlecht, nicht tugendhaft und nicht edel, und auch nicht gemein. Eigentlich sind sie gar nichts.«

»Sind sie nicht vielleicht – leidend?«

»Oh freilich, Jason …«

»Und das, kleine Esther, ist zu wenig, wie? Außerdem, meint ihr, muß jemand noch etwas sein, wie? Nicht nur so – leben, das Leben verrichten, sondern auch gewissermaßen eine Vorstellung davon haben. Sage mal – seid ihr denn wohl anders? Seid ihr auch so etwas Bestimmtes, so ein Bild mit was Gutem oder was Schlechtem darauf?«

»Nein, Jason! aber –«

»Aber die Menschen in Geschichten, das habt ihr so gelernt aus den Geschichten, die müssen außerdem noch etwas bedeuten, nicht wahr? Nämlich: Charaktere; dann: Frömmigkeit, Festigkeit, Güte, Heimtücke, Verwahrlosung, Verkommensein und dergleichen schöne Dinge mehr, die es gar nicht giebt.«

»Aber Jason!«

»Weil es eben nur Menschen giebt, und jeder Mensch die Bewegungen, die Handlungen und all das, was sein Leben ist, tut, wie sie aus ihm kommen, weil er so ist, aus allen seinen bunten Eigenschaften, die über jeden in Menge, ganz gleichmäßig von der verschiedensten Art und immer nur teilweise freilich, niemals ganz, ganze Eigenschaften, abgewogen und ausgeteilt sind, und bloß ihr, ihr habt daraus die Begriffe gemacht, und wieder aus jedem Begriff einen ganzen Menschen, und darum verlangt ihr dann, daß die Menschen – die Andern! euch selber seht ihr ja niemals – sich nach den Begriffen richten, danach wachsen und nach ihnen sich gebärden sollen, nicht nach sich selber. Dann fehlt euch an jedem etwas, darum scheint euch alles so unzulänglich, es könnte noch so bitter und zerlitten sein, darum kommt ihr immer höchstens zu eurem: er hat doch auch so viele gute Seiten … darum seid ihr nie zufrieden miteinander, und Großmut und Wahrheit, Glaube, Liebe und Hoffnung, die gehen ihrer Wege.«

Da waren sie auf einmal Alle aufgestanden. Auch Renate erhob sich, betroffen, und bewegte sich mit den Übrigen auf Jason zu, sie waren Alle um ihn herum, und mehrere Stimmen fragten: Was ist es denn, Jason, du weißt es doch, was fehlt uns Menschen, wie sollten wir sein, wie uns halten, wie uns helfen? –

Er hatte aber die Augen geschlossen und sah fast unwillig aus und kränklich, und sie wollten sich schon abwenden – denn war er nicht selber vor kurzem erst von den Toten auferstanden? – als er die Augen wieder aufschlug, und sie erschraken wohl Alle wie Renate vor diesen schwarzen Augen, die plötzlich im Dunkel waren, viel schwärzer als alles Schwarze, so glanzlos, als ginge es dort in die schwarze Ewigkeit hinunter. Dennoch, obgleich er die Augen nun langsam von Einem zum Andern bewegte, schien er durchaus keinen wirklich zu sehn, sondern etwas ganz andres. Sie selber aber fühlten nicht ohne Schauder an seinen Augen: da war es, wonach sie gefragt hatten. Nennen ließ es sich nicht, aber – es war da. Es glänzte aus dem Schwarzen herauf, es – nein, Jason lächelte, das war das Ganze.

Sie gingen aber schweigsam auseinander danach, kaum mehr als stumm sich die Hände reichend und zunickend beim Abschied; nicht Zwei blieben beisammen.

Schatten

Georg, am letzten Spielabend vor Semesterende in die Terrassentür tretend, sah, daß er wieder, wenn auch gegen jede Absicht seinerseits, zu spät gekommen war: um die kleine Tafel zur Rechten vor der Hauswand saßen die wenigen Korpsbrüder, wie stets in zwei Gruppen am Kopf- und Fußende; ein hellrot beschirmtes Windlicht in der Nähe jeder Gruppe malte ihre Schatten beweglich an der Wand empor. Eigentümlich still schienen sie Alle, – die Füchse unten mit einer Bowle beschäftigt, schweigsam, ganz ohne den gewöhnlichen Lärm bei dergleichen; oben die Zwillinge, Nordeck, Sousa – ah auch Schwalbe saß da und in Zivil! – Ellerau hatte die Uhr gezogen, sah jetzt Georg unbestimmt entgegen, dann vor sich hin, indem er, ein Lächeln unterdrückend, mit vorgeschobenem Kinn die Oberzähne auf die unteren setzte, einen Augenblick, – worauf er seine Haltung löste; und Georg wußte wohl, das hieß mit Worten: Auch heute wieder verspätet; da es aber der letzte Abend vor Semesterschluß ist – Schwamm drüber! –

Georg, innerlich aufatmend, trat näher, indem er »Guten Abend« sagte und »Na, so still heut?«

Ellerau sagte: »Ja.« Er griff mit der Hand in die innere Brusttasche und zog einen Brief heraus, sah darauf, streckte dann die Hand mit ihm gegen Georg und sprach:

»Diesen Brief hat Tastozzi für dich hinterlassen. Er ist tot.«

»Tot?« fragte Georg erschreckt. »Tozzi? Tastozzi?« verbesserte er sich verwirrt. »Mein Gott …«

»Leider. Er hat sich heute nachmittag in seiner Wohnung erschossen. Bisher weiß niemand warum. Er war uns ja immer völlig verschlossen. Vielleicht giebt er dir Aufschluß.«

Georg, den Brief mit winzig kleiner Aufschrift am oberen Rande in der Hand hin und her drehend, ruckte sich zusammen, trat an die leere Stelle des Tisches, riß den Umschlag auf und hielt die herausgezogene längliche Karte in die Nähe des Lichts. – Kleine, kaum leserliche, verschnörkelte Schriftzeichen … Er entzifferte mühsam allmählich:

 

»Lieber Georg:

Fremd allen Andern, hatte ich Deine Augen immer lieb. Nun, indem ich fortzugehen bereit bin, sehe ich, daß niemand da ist, von dem zu scheiden wäre, also auch niemand, den der Grund meines Fortgangs etwas anginge, zumal ihn nennen, das teuer gehütete Geheimnis meines Daseins preisgeben hieße. Da sehe ich Deine Augen vor mir in jener Sekunde, wo man Dir mein Fortgehen berichtet, und mir scheint, daß sie verstehen möchten – und nicht so wie die Andern. So reiche ich Beides – Grund und Geheimnis – Dir, schon abgewandt, ohne mehr wissen zu wollen, ob Du trauern wirst oder richten.

In beiden Fällen: Beklage mich nicht. Es ist gut so.

Aber ich erhoffe ein wenig Trauer.

Tastozzi.«

 

Georg, nichts begreifend, bemerkte jetzt ein kleines Zeichen, einen schrägen Strich zwischen zwei Punkten in der rechten Ecke unten, das ›wenden‹ zu bedeuten schien, und drehte scheu die Karte herum.

»Es geschah aus Liebe zu einem Knaben«, las er.

Er zuckte leise zusammen. Langsam erschienen hinter dem Licht die Köpfe der Sitzenden, von denen keiner ihn ansah. Schwalbe blickte nach oben; die Andern sahen vor sich hin. Viele Sekunden lang blicklos dies vor Augen, merkte Georg, daß er etwas in sich niederkämpfte, merkte, daß es – Widerwille war, und drückte es entschlossen hinunter. Sich aufrichtend, sagte er leise:

»Ja. Es steht hier. Er wünscht aber, daß ich es für mich behalte.«

»So.« Ellerau streifte mit einem Blick über Georg hin; die Andern lösten ihre Haltung und bewegten sich. Keiner sah Georg an.

Da spürte er im Augenblick klar, daß er und der Tote für diese zusammengehörten. Keine Feindschaft – doch auch nicht Freundschaft. Sie hatten ihn – außer vielleicht Schwalbe – nie begriffen. Wie war er zu ihnen geraten?

In einem leichten Hochmutsgefühl neigte er den Kopf und ging stumm hinaus.

Die Haustür öffnend empfand er jählings eine so übermächtige Sehnsucht nach Renate, daß er sich geblendet fühlte und blindlings die Richtung nach ihr einschlug, bis er Schritte beharrlich neben sich bleiben merkte und seitwärts blickend Schwalbe erkannte, der lächelte und sagte: »Ich komme mit dir, wenn du erlaubst.«

»Du weißt, weshalb er starb?«

»Ich weiß es nicht,« sagte Schwalbe, »aber – ich ahnte es immer.«

War es zu ahnen? fragte Georg sich. War ich so arglos?

»Und was denkst du davon?«

»Was soll ich davon denken?« fragte Schwalbe frisch und fest. »Wenn sie Jugendliche verführen, sind sie Verbrecher, und wenn sie das nicht tun, sind sie zu beklagen. Und ich weiß nicht, ob man sie beklagen – kann. Es sind Menschen mit einem andern Weltbild. Ihre Leiden und ihre Freuden – abgesehn von der Verbanntheit – sind keine andern als die unsern.« Das klang sehr klar und schön in der singenden Mundart.

Eine Weile, rasch vorwärtsgehend durch die sommerwarmen, dunstigen Straßen im Licht der Bogenlampen, dann der Laternen in kleineren Gassen, blieben sie still, bis Georg sich Hardenbergs erinnerte und halblaut sagte: »Auch Hardenberg …«

»Hardenberg war homosexuell«, versetzte Schwalbe hurtig.

»Man sollte«, fing Georg bald darauf wieder an, »eine Stadt für sie gründen, wo sie leben könnten und zufrieden sein …«

»Ja! Das sollte man tun. Das erinnert mich daran, daß ich Hardenberg einmal über das Mönchtum sprechen hörte – du kennst ja seine Weise –, und zwar kam er bald auf den Trappistenorden, der, wie er sagte, der einzig mögliche sei. Und dann schilderte er uns das Schweigen dort. Er machte es wunderbar. Er zog gleichsam mit vollen Händen das Schweigen aus den Dingen dort, aus den Mauern, den Zellen, aus jedem Gerät, aus Gießkanne und Gebetpult, aus Spaten und Egge, aus den Blumen im Garten, den Bäumen. Wir waren ganz eingehüllt in das Schweigen, obwohl er selber unausgesetzt sprach. Und ich muß sagen, ich war ganz erschrocken, als er – nach seinem wunderschönen – Gesang auf dies Schweigen – plötzlich von den Vögeln sprach, die auch stumm geworden waren und nicht mehr sangen im Klostergarten.«

Ergriffen sagte Georg leise: »Wie schön!« – und blieb stehn.

Sie waren auf der kleinen Brücke zwischen alten Häusern, die zur Insel hinüber führte. Rechts unten strömte der schnelle, dunkle Fluß zwischen alten Mauern, am Ufer drüben blinkten Lichter aus winzigen Fenstern, aus dem Grün und Blumenrot der Dachgärten, deren Silberkugeln und weiße Geländer in der Dämmerung schimmerten. – Still sahen sie eine Weile dorthin, dann legte Georg die Arme auf die Brüstung, und in der dunklen Wasserfläche unten erschien ihm das Gesicht des Toten mit jenem besorgten Ausdruck, den es bei Georgs letzter Mensur gehabt hatte.

Ach, wußte er nun, was hat denn auch er andres getan und gewollt als – Lieben. Seine Natur schrieb ihm diese furchtbare, angstvolle Stille vor, aus der er niemals heraustrat, er, der mit keinem sprach, bevor er gefragt oder angeredet wäre. Sich um Andre bemühn, dienen, gütig sein, war sein Wunsch, und da fand er denn dies heraus … Georg mußte sprechen; er sagte, Schwalbe auf dem Geländer lehnen sehend wie er selber, breitbrüstig und ruhig:

»Es war doch schön, wie er um uns Alle besorgt war beim Fechten. Bist du je von ihm anbandagiert worden? Erinnerst du dich, wie er die Brille zuzog? Diese Sanftheit des Ziehens, bis mit einem kleinen Ruck die Brille saß, wie sie nicht besser sitzen konnte?«

»Jawohl. Wie du das sagst, scheint mir, es war doch etwas Hellenisches um ihn. Nicht nur, daß er einen wundervollen Körper hatte –«

»Ja, hast du ihn gesehn? Ich kam zufällig einmal dazu, wie er sich eben ausgezogen hatte zur Mensur und dastand, ganz grade, das Mensurhemd in erhobenen Armen überm Kopf, wie ein gelber Marmor.«

»Hellenisch war, scheint mir, vor allem seine Art, uns zum Kampfe zu rüsten. Der Kampf war ihm mehr als uns, war ihm eine schöne Sache, und einmal – ja einmal habe ich ihn richtig reden gehört. Da sprach er ein paar Worte über italienisches Fechten, das so viel beweglicher sei als unser stumpfes Dreinhaun und den ganzen Körper erziehe und durchbilde …«

Man sollte nackt fechten … Tastozzis leise Worte, irgendwann gehört, zogen durch Georgs Erinnerung.

Sie schwiegen und sahn auf das endlose dunkle Fließen unter ihren Füßen. Georg dachte:

Aber warum hellenisch? Er wollte im Grunde doch nur dienen. Oh der arme stumme Trappist mußte eine Leidenschaft haben, mit Handlung, mit der sorgsamen Dienstleistung auszudrücken, was ihn beseelte. Aber … Nun, auch wenn es ein körperlicher Reiz und ein sinnliches Verlangen war, zu den Gliedern der jungen, geschmeidigen Menschen eine Begierde: die Begierde war es doch nicht, die seinen schönen stummen Händen diese Sanftheit gab, diese Behutsamkeit, diese Freude am verständnisvollen Behandeln; die kam aus seiner ganzen Natur, von der das andre nur ein kleiner Teil war, und so fand er denn in seinem Leben diese vorsichtige kleine Stelle, wo er ein wenig geben konnte und – ein wenig nehmen …

Schwalbe richtete sich auf.

»Ich muß leider nach Hause«, sagte er. »Es war schön hier, mit dir zu stehn und an Tozzi zu denken.« Er streckte seine breite Hand aus. »Auf Wiedersehn am Grabe, Georg. Übermorgen ist die Beerdigung. Gute Nacht.«

Georg, der noch gern ein Wort gefunden hätte auf das zugetane »es war schön hier, mit dir …« fand nichts als stummes Zunicken und Lächeln beim Händedruck, mit dem sie sich trennten. Gleich darauf befand er sich außerhalb der Stadt, mitten in den dunklen Wiesen.

Auf Wiedersehn am Grabe … klang es ihm da im Ohr. Merkwürdig, sagte man so? Das habe ich noch nie gehört, – und es ist ja auch der erste Tote, den ich kenne. Auf Wiedersehn im Grabe … das klang fast genau so. Armer Tozzi! – Sonderbar, da war er uns Allen ganz fremd, und doch nannten wir ihn mit der liebevollen kleinen Abkürzung. So muß doch bei allem Abgekehrtsein von ihm in jedem geheim ein kleines Gefühl für ihn gehaust haben, das sich, für Alle unhörbar, ganz laut mit diesem Namen nannte …

Hineilend auf dem vor ihm dämmernden, hellen Streifen des Fußpfades am Ufer über dem hastig mitkommenden, glucksend sich manchmal überstürzenden Fluß, sah Georg jetzt wieder Renates einzig schöne Gestalt in der Ferne, und heiß schwoll ihm die Brust. Nie noch fühlt ich solche Sehnsucht nach ihr, dachte er, ja ist nicht dies das allerseltsamste, daß sie mich betäubt, wenn ich vor ihr stehe, und daß ich sie – vergessen hatte, wenn ich allein war? Überseltsames Wesen, Renate! – Er lief und lief. Fast feurig aus den dunklen Gründen der Wiesen strömte erdiger und grasiger Geruch und der Nachdampf von Regen. Jenseits des Flusses fern zackten Schattenrisse von Türmen sich über schwarzem Gewipfel in das glühende Nachtrot des Städtehimmels. – Seliger sich fühlend, befreiter, zuversichtlicher erklomm Georg den Hügel der Bismarcksäule, überschritt langsam die Plattform, faßte mit schweifendem Blick die schwarze Gegend in sich, ein Erglänzen in der hochgewölbten Fläche des Stroms, eine lose Schar Sterne, leis blinkend im Finstern, und stürzte sich mit einem schweren, beklommenen Lustgefühl die Böschung hinunter in die Wiesen.

Weißlich leuchteten von drüben die Grabhäuser zwischen den Lebensbäumen. Jetzt dämmerte ein Lichtschein darüber, seltsam unwirklich und groß. Langsam erschien eine fleckige Scheibe, der Mond, rot wie neues Kupfer im grauen Himmel; eine schwarze Spitze reckte sich vor ihm, die er bald mühelos überklomm. Georg stand und hatte das Gefühl, als ob er nicht weitergehen könne, ehe es Tag wurde. Schon hing der Mond dort, mächtig groß, voll und nun bernsteingelb, rauchig; schieferblau der Himmel – und Georg ging langsam weiter im Finstern, vorsichtig die sumpfigen Stellen umgehend, und das einzige Geräusch weit und breit war das Rascheln der Halme und Blumen, die um seine Füße schlugen. Da bewegte sich ein Schatten links vor ihm, ein weißer Fleck erschien im Dunkel, – ah, das waren die alten Omnibuspferde, die hier einen Sommer lang Erholung genießen durften. Er kam ihnen näher, er kannte sie ja, da stand das schwarze ganz nah als ein dickes Schattenpferd, er hörte, wie es emsig Gras abrupfte, hörte es schnurpsen; und da war auch der Schecke mit den großen weißen und dunklen Placken; der stand still, schnoberte und trabte heran; er liebte die Menschen. Georg tastete mit der Hand zwischen den Drähten der Einfriedigung hindurch und empfand mit freundlichem Schauer das gewaltig Lebendige, die weiche, samtige Tierschnauze, die aus der Nacht kam und sich befühlen ließ, empfand das sonderbare Geström der Fremdheit aus diesem großen, stummen Wesen, das mit Fell bekleidet war und ein großes, weiches Maul hatte. – Armer Tozzi! murmelte er leise. – Still stand das alte Pferd und atmete tief und laut.

Im Weitergehen war es Georg, als schluchzte etwas in der Dunkelheit. War ihm selber danach zumute? – Auf einmal hörte er eine Melodie, ein paar lange, süß hinzitternde Noten, eine Stimme, Worte dazu, aber all das war in ihm selbst, die Nacht umher totenstill, doch erkannte er jene schöne Kirchenarie von Stradella, die ihm Magda vorgespielt hatte, weil sie sie singen wollte, und er hatte ihr auf ihre Bitte einen deutschen Text dazugeschrieben, der sich in der Kirche singen ließ. Jetzt hörte er die Worte deutlich, hörte die kleinen Tonreihen, die langen Pausen dazwischen, hörte, niederschwebend von den Sternen, die sanfte, melodische Frage:

Wer weint in Finsternis?

Und wieder, nach einer Pause:

Wer schluchzt im Dunkel?

Begütigend nun eine milde Stimme:

O du, sei still!

Chorstimmen, begütigend, hallten daher:

Siehe doch funkeln
Sternenschein gewiß!
Siehe doch funkeln
Sternenschein gewiß!

Holder, gesteigerter, entzückter schwoll die Melodie:

Lasse das Weinen,
Gott hilft den Seinen,
Gott, der die Gepeinigten
Aufrichten will …

Jetzt? Im helleren Mondlicht deutlich sichtbar stand ein neuer Schatten ferne auf Georgs Weg; ein menschlicher wars. Mystische Schauder schweiften im Dunkel. Es konnte der Tod sein, der dort stand, zwischen ihm und dem Friedhof, einen schwarzen Arm gegen die goldene Mondscheibe emporstreckend. Hoch oben im Nachtwind verhallten die zarteren Stimmen …

Georg schritt weiter, behutsam, beklommen; gleichzeitig glitt der Schatten vor ihm davon; war es eine Frau? trug er antikes Gewand? – Nun verschwand er vom Weg, und als Georg die Stelle erreichte, wo er abgebogen sein mußte, wars dort, wo auch Georg abzubiegen hatte, wenn er zum Montfortschen Hause gelangen wollte. – Wie still es war! Wer ging dort und führte ihn ungerufen? Da war schon das Gittertor, da der Graben. Der Schatten, unhörbar, glitt zwischen den, von weitem verschlossen scheinenden Stäben hindurch, erschien an etwas höher gelegener Stelle im vollen Licht; es war Renate.

Renates Haltung war es, obgleich sonst nichts an der Schattenfigur Renate zu erkennen gab. Georg folgte ihr leise von fern, süßliche Angst im Herzen, andächtig, sie nicht zu stören, zitternd, voll Melodien. Er sah sie die schräge Ebene emporgleiten, unter den Bäumen schwinden, wo Finsternis stand, eine Uhr schlug nicht fern zweimal hell und zuversichtlich. Er hörte die Gartentür zufallen, trat leise hin und sah Renates Schattenriß im Lichtschein zur Rechten, der die offene Kapellentür ausfüllte. Es trieb ihn näher, er versuchte, lautlos durch das Pförtchen zu kommen, es gelang, er schlich unterm Buschwerk über den Rasen bis zur Tür, trat rechts neben die Stufen und hatte den Raum vor sich, der von einer unsichtbaren Lichtquelle erleuchtet war. Renate stand mitten darin; sie trug eine lose grüne Tunika mit kurzen Ärmeln, die bis in die Nähe der Knie hinabreichte; die Farbe des am Boden schleppenden Untergewandes war nicht zu erkennen, aber das Grün leuchtete an ihrer Brust, wie sie sich jetzt zur Seite drehte, ihm halb den Rücken wendend, auch der weiße Nacken, – und nun erschien sie Georg draußen im nächtlichen Wiesenland, hinter ihr der Mond, – er ging auf dem Grassteig auf sie zu, an ihr vorüber, sah ihr weißes Gesicht und die Augen ohne Blick wie eines sinnenden Gottes, und das fremde Gewand. – Wo kommt sie her? wie kommt sie zu uns? in dies Land? dachte er. Sie ist ja fremd hierzuland.

Georg sah, daß sie mit leicht geneigter Stirn zu jemand sprach, den er nicht gewahren konnte; das mußte wohl Bogner sein. Georg gab es einen Stich, er wollte davon, blieb aber und sah hin. Ach, ihr gesenkter Scheitel, der gewellte Bogen von der Stirn zum Ohr, ähnlich, doch nicht ganz so tief wie bei Esther, und dies seltsame lichte Braun des Haars …

Sie sprach: »Noch nicht fertig, Bogner?« »Morgen früh«, hörte Georg die Stimme des unsichtbaren Malers. »Will es nicht gehn?« Sie sprach ruhig, mit verdunkelter Stimme. Die Antwort des Malers blieb unverständlich; nach einer Weile kam wieder Renates Stimme: »Sie sollten schlafen.« Wie schön verhallte das im leeren Raum!

Nun wars still. Renate stieg auf das Podium, setzte das Windwerk in Gang, öffnete das Manual und spielte bei geschlossenen Registern ganz leise den Choral: ›Nun ruhen alle Wälder‹ mehrere Male.

Schweigen. Georg, im Dunkel an die Mauer gepreßt, durch die Zweige über ihm emporblickend, sah einen und zwei kleine Sterne, zitternd im Ewigen. Er vernahm das sanfte, melodische Brausen in der Nachtstille und wünschte, nur Herz zu sein, in diesem beweglichen Rauschen ruhend, atmend darin, wie der still im ziehenden Gewässer schwebende Fisch … Er zuckte leise; seitwärts in der Tür über ihm stand jemand, Renate; sie stieg nieder, verschwand im Gebüsch und kam nicht wieder zum Vorschein; nach langer Zeit hörte er unendlich leise das Geräusch ihrer Füße auf dem Steinboden der Veranda. Sie war im Haus. Georg trat auf die Stufen und ging in die Kapelle.

Bogner nickte bloß, als er ihn begrüßte. Nein, der wunderte sich ja wohl über nichts. Er saß da in der Nähe der Orgelempore, hatte die Fäuste auf den Oberschenkeln und sah nach oben gegen sein Gemaltes. Da er nicht rauchte, steckte Georg ihm eine Zigarette zwischen die Finger, zündete sie ihm an und rauchte selbst eine. So, die Hände in den Hosentaschen, ging er hin und her, die fertigen Gemälde betrachtend, drei an der Zahl, zwischen den Fenstern gegenüber dem Eingang. Es war wohl geplant, daß die Wand oben zwischen den gotischen Spitzbögen über den drei Meter breiten und zwischen fünf und sechs Meter hohen Gemälden mit ihrem Himmel bemalt werden sollte bis zum Beginn der Wölbung, denn die Bemalung endete oben nicht rechteckig, sondern zerfloß in dünnes Gewölk und Grau, ähnlich dem Stein. Georg stand vor dem äußersten Engel.

Engel? freilich nur, weil er faltiges Gewand trug und ein Instrument in Händen. Georg trat zurück und betrachtete sie alle drei. Oh, sie waren groß! Obgleich sie alle in der Ferne sich durch ihre Landschaft bewegten, erschienen sie riesenhaft und übermenschlich; die Haltung ihres Schreitens war in Formen von Eisen gepreßt, die Luft mußte scharf und bitter schmecken, mit solcher Schnelle wurde sie von diesem riesigen Pilger durchschnitten. Es war keine Beleuchtung da, Licht lag in der Luft. Ja, da schritt er, der engelhafte Bote, in grauviolettem, wehendem Gewand, heroisch von Zügen, eine kleine Harfe in ausgestreckten Händen, vor einem kleinen dunkelgrünen Föhrenwald mit grauen Stämmen; gelbe und schwarze Haidelandschaft ringsum, aber unendliche Stille herrschte; nur der Engel ging, ausgreifend vollen Vorderfußes wie ein Löwe, emporfedernd den Hacken des andern. Oh, siehe daneben den andern in Mattrot, wandelnd mit der Gitarre um einen kleinen grauen Teich unter einigen Zedern! Und hier, der Schwefelgelbe blies die gegen Himmel gerichtete lange Lure auf violettem Haidehügel mit kleinen Wacholderstauden, schwarzgrün. Georg wanderte vom einen zum andern; sie blieben, um sie herum schien sich die Landschaft zu wandeln im Vorbeifliehn, es wehte von ihren Kleidern, sie bewegten sich und holten aus, sie fegten dahin, – nein, aber dies war nur der eine, der Violettgraue mit der Harfe, der so hinjagte über die runde Welt; um die andern wars still, sie standen.

Georg wandte sich und trat hinter den Maler. Da saß er in seinem buntgescheckten Kittel unter der tief hängenden, eigens für ihn angebrachten Osramlampe, die scharf strahlte, umgeben von Töpfen und Pinseln. – Ah, das war unglaublich! Dolomitisches Geklüft, rosengrau, Felswände, Terrassen, übereinander gesteigert, immer ferner, immer tiefer, bis sie ganz ferne mit wagrechtem Kamm gegen den mattblauen Himmel abschlossen, und dort, hoch oben, weit fern, saß der weiße Engel, so groß und deutlich, daß er noch überm ungeheuerlichen Geklüfte ein Riese schien, aber er war doch schmaler, doch zarter als die andern; es war eine Frau, sie hatte kein Instrument, sie lauschte und zeigte die zarten Züge und das dunkelrote Haar der Ulrika Tregiorni.

Georg blickte näher hin, ob sie es wirklich sei, – nun, die Ähnlichkeit war schwach und bestand hauptsächlich im Haar, aber er bemerkte bei dieser Gelegenheit nun, welch eine simple Malerei dies war, – aber welche Kunst! Was mußte das gekostet haben, bis die Sparsamkeit dieser zarten Kontraste, dieser Flächen, dieser Linien herausgepreßt war aus der Zahllosigkeit der Möglichkeiten. Was aber diesen Engel anging – er war kaum zwei Schuh groß und hielt das Kinn in der Hand des aufgestützten linken Arms –, so hatte er keinen rechten Arm, und dieses schien es zu sein, worüber Bogner sich den Kopf zerbrach, denn da standen auf der Erde unterschiedliche Arme um ihn herum, die Hand nach unten, als sollte der Engel seinen rechten Arm ein wenig hinter sich aufstützen.

Bogner sah auf zu ihm, hatte rote Flecken im grauen Gesicht und schien verwirrt.

»Ganz schön, nicht?« sagte er. – Georg legte ihm eine Hand auf jede Schulter und sagte feierlich: »Bogner, Sie sind ein edler Mensch.«

Bogner ergriff einen der Kartons mit der Kohlezeichnung eines nackten Frauenarms, Ulrikas Arm, wie es schien, nicht sonderlich schön, aber durcharbeitet, durchseelt; auch eine Hand, locker ausgestreckt, war noch auf dem Karton. Ja, das war diese seltsame Klavierhand, hager und mit unzähligen Runzeln auf den Fingergelenken in der locker gewordenen Haut. Da fiel Georg Renate ein, und es kam ihm, Bogner geradeswegs zu fragen: »Warum lieben Sie nicht Renate Montfort?«

»Ach, ich!« wehrte der Maler unbetroffen ab, wandte sich aber nach einer Weile ein wenig um und fragte, ob Georg glaube, daß sie ihn lieben könne. –

»Lieber Gott, Bogner,« sagte Georg, »danach sollte der Mensch doch zuletzt fragen! Ich glaube, Maler, Sie sind ein Individuum gänzlich ohne Leidenschaft.«

»Muß denn bloß so heißen, was sich sexualiter äußert, Prinz?« fragte Bogner, stand auf, setzte seine Kohlezeichnung an die Erde, reckte sich und fing an, hin und her zu gehn.

»Übrigens«, sagte er, »könnte ich auch wie der Tobias – wie heißt er, in der Komödie?«

»Bleichenwang?«

»Ja, wie der Tobias Bleichenwang sagen: Mich hat auch mal eine lieb gehabt. Zärtlichkeit ist wunderschön, ja, das weiß man ja schließlich, ja, man entbehrt sie sogar manchmal, – nun, das kann ja alles noch kommen. Warum fragen Sie überhaupt immer so aufdringlich?«

Georg lachte: »Sie brauchen ja nicht zu antworten! Setzen Sie übrigens Zärtlichkeit mit Liebe gleich?«

»Das nicht«, meinte der Maler.

»Zärtlichkeit, Wollust und Liebe, das sind die drei unterschiedlichen Liebesempfindungen,« sagte Georg, »nur wo alle drei vorhanden sind, ist das Gefühl vollkommen.«

Ob er das meinte, fragte Bogner. Ja, also Liebe … Nach einer Weile, vor dem posaunenden Engel stehend, fuhr er fort, daß er auch die Liebe ganz gut zu kennen glaube; er habe sich darin versucht gewissermaßen und sie immer verschieden gefunden, auch sehr angenehm, besonders im Anfang: März. Aber es sei ihm zuletzt doch immer nur vorgekommen wie ein Absud von männlichem und weiblichem Geschlecht, im Tiegel so lange gemischt und geschüttelt, bis er einfach erschien; in Ruhe gelassen sonderte sich beides alsbald, männliches sank, weibliches schwamm oben, es habe wohl irgendein wirklich bindendes Element gefehlt. Er sprach undeutlich, da er abgewandt stand. Georg sagte, eben das wäre es, darauf käme es an, das Element sei zu finden, sei zu suchen.

Suchen? meinte der Maler. Wer denn dazu Zeit habe? Auch sei's wohl klar, daß, wenn es dies Element wirklich gäbe, es einzig sei, wirkbar nur bei einzigartigen Menschen, immer zwei auf zwanzigtausend.

»Ja, ja!« rief Georg entzündet, »Sie bringen mich auf einen Gedanken! Zum Beispiel Romeo und Julia. Was sind die Beiden? Ein liebender Geliebter, eine liebende Geliebte; sonst nichts. Womit beschäftigten sie sich? Mit ihrer Liebe. Hatte Romeo einen Beruf? Kümmerte ihn die Geschlechterfehde? Er und sie hatten nicht Eltern, nicht Geschlecht, nicht Volk, nicht Stadt noch Heimat; alles dieses war belanglos wie Tisch, Bett und Gartenbank, von denen nichts vorhanden war, solange nicht ihre Gemeinsamkeit ihrer bedurfte. Nichts gab es außer ihnen als die Freunde, die ihrer Liebe beistanden, und den Tod, der das Gift in Adeptengestalt verkaufte. Aufgelöst waren sie in jenes Element, in dem sich alles mischen mußte zu einer einzigen Riesenempfindung. Ja –« setzte er zögernd hinzu, denn Tozzis Gesicht erschien ihm: »vielleicht ist es also – der Tod?«

Der Maler war von ihm fortgegangen und stand bei der Tür, einen ausgestreckten Arm gegen den Rahmen gestemmt, in den Raum hereinblickend zu seinen Engeln.

»Wirklich,« fuhr Georg fort, »die allgemeine Liebe empfindet und wünscht nichts als gesteigerte Freude, gesteigertes Dasein; jene Beiden aber fühlten die letzte, höchste Steigerung, überlebensgroß, in den Tod, unbewußt schon in der ersten Umschlingung, und so erreichten sie die Dauer.«

»Im Tod?« fragte der Maler von fern. »Nein, das ist vorläufig noch nichts für mich.«

Ja, wo aber die Leidenschaft bleibe? hielt Georg hartnäckig fest. Bogner streckte die Hand aus und deutete auf seine Engel, einen und den andern, den posaunenden, den wandelnden mit der Gitarre, den reisigen mit der Harfe. Georg senkte niedergeschlagen den Kopf.

»Unbewußt in der ersten Umschlingung?« fragte der Maler, gutgelaunt, wie es schien. »Wie Sie das so wissen können! Ich will Ihnen aber etwas erzählen. Nämlich, als ich siebzehn Jahre alt war, also mitten in der schönsten Erstlingsglut, liebte ich ein Mädchen, etwas älter als ich, für mich wunderschön, klüger, tapferer und sanfter als ihre Schwestern.«

»Die Frauen,« sagte Georg, da der Maler innehielt, »die Frauen, das glaube ich nun, sind an und für sich nichts; aber es kann alles aus ihnen werden. Jeder, möchte ich sagen, jeder Mann findet zur Zeit diejenige, aus der er machen kann, was er im Augenblick braucht. Sehr gut sind sie. Und so unendlich geduldig!«

Georg, Magdas arme Gestalt mit wehmütigem Gedenken umfassend, hörte den Maler weitersprechen:

»Zur selben Zeit geriet ich an den Scheideweg. Dort mein Vater und sein, hier ich und mein Wille. Entschied ich gegen ihn, so wars auch gegen sie, denn dann ging ich fort, und sie mußte bleiben. Sie half mir beim Fortgehn, ja, das tat sie. Dafür bin ich ihr dann treu gewesen, so gut ich es konnte, und habe auch jedes spätere Mal für mich und gegen die Liebe entschieden, denn, sehen Sie, das wollte ich sagen: damals, ein für allemal, entschied sich für mich diese Angelegenheit.«

»Was ist aus ihr geworden?« fragte Georg.

»Danke. Sie hat es gut überstanden. Sie war, wie gesagt, tapfer. Sie ist mit einem Kaufmann verheiratet, hat vier Kinder, und alle sind gesund. Ich sehe sie zuweilen. Stattlich sieht sie aus, gewiß nicht, als ob sie jemals vor einem Menschen auf den Knien gelegen und gefleht hätte: Um Gottes willen, geh! geh, ehe ich dich halte! –«

»So sind Sie wohl Beide Ihrer Bestimmung treu geblieben«, mußte Georg, wie ihm schien nicht sehr tiefsinnig, bemerken, und der Maler erwiderte nur zerstreut, ja, ja, er habe ja auch gar nichts dagegen einzuwenden, und griff nach seiner Pfeife.

»Gehn wir schlafen«, sagte er, als er sie gestopft und angezündet hatte. So verließen sie die Kapelle, der Maler schloß sorglich zu, und sie gelangten durch den Garten, am dunklen, schlafenden Haus vorüber auf die Straße.

Viele und seltsame Pferde liefen durch Georgs Träume in dieser Nacht, gelenkt und vorgeführt von Bogner mit langem Pinsel wie von einem Zirkusdirektor, aber Renate erschien nicht darunter. Gesang schlug an, engelstimmig und süß, Georg erwachte, und es war Morgengrauen. In abgeklärten Pausen sang draußen die schwarze Amsel, laut und friedevoll in der Morgenstille.

Drei Gespräche: Das erste

Esther und Georg saßen am Wassergraben im Park auf der Bank, und sie hatte den ganzen Schoß voll großer Zentifolien in allen schönen Farben. Da kam Jason al Manach, setzte sich, ließ sich fragen, woher er komme, und erzählte:

»Gestern abend, als es schon dunkelte, trat ich irgendwo aus dem Walde. Wiesen und Äcker waren voll Nebel, darin stand ein einsames, schlechtes Haus mit einem Stockwerk, ich strich an einer fensterlosen Mauer hinunter, und wie ich in eins der Fenster nahe über dem Erdboden an der, auf die Felder hinaus gewandten Seite des Hauses hineinsehe, sitzt da Maler Bogner in einem Liegestuhl und raucht eine Pfeife in Hemdärmeln, denn der Abend war milde. Ich grüßte: Guten Abend! Ich störe gewiß. – Ja, sagte er, wenn Sie stehen bleiben und mir die Aussicht zudecken. Kommen Sie herein.

Ich wandte mich wieder, und sieh, da wars eine jener Stunden, wo einem die Augen für das Wunderbare der Erde aufgehn. Als hätte der Maler gewinkt, so sah ich nun in eine Landschaft von seltsam wilder Feierlichkeit. Jenseits der braunen Äcker voll stehender weißer Nebel blinkte ein Stück des abendklaren Flusses aus der unteren Dämmerung, voll von gespiegeltem Licht und Baumsilhouetten; die wirklichen Wipfel darüber hoben eine mächtige schwarze, von einigen scharfen Fabrikessen überstiegene Mauer in das lohende Gelb und Rosa des Himmels. Darüber flossen zerblasene, graue, schwärzliche und violette Wolken in trübes Rot; zur Linken aber, hoch über dem graugrünen Dunkel der Wiesen jenseits des Stromes stand im blaßblauen, leeren Äther ein einzelner blitzender Stern; der war gleich einem silbergestählten Sankt Georg und die schweigsame, blutende Landschaft wie ein verendendes wildes Untier zu seinen Füßen.

O, aber als ich mich zur Rechten wandte, drohte da die Stadt, schwarz, eine ungefüge Masse von Dächern, Kuppeln, Türmen; ein stummes Meer, brandete hinter ihr der Himmel, überwölbte sie mit durchsichtiger Woge von offener Scharlachglut, in der sich ein Getümmel von zerrissenen Wolken umhertrieb und verzehrte, glorreich und ungestüm, in einem Wirbel triumphierender Farben, blutig, traurig, drohend und lechzend von Gelb und ungesättigtem Purpur. Von allen Richtungen liefen Schnüre und Reihen von Lichtern, opalenen, grünlichen und goldenen, in den schwarzen Berg der Stadt hinein.

Solche Dinge hatte dieser einfache Maler vor sich, wenn er abends in Hemdärmeln seine Pfeife rauchte. Es war so viel, daß er manche gar nicht beachten konnte, denn als ich nun um das Haus herumging, sah ich über ein verdunkeltes, undeutliches Gelände von Feldern und Lichtern hinweg den Mond, eine Scheibe von goldenem Kupfer, der sich mitten aus einer stumpfen bleifarbenen Wand heraushob.

Das Zimmer, in das mich der Maler führte, war folgendermaßen: Es hatte tapezierte, zerfetzte Wände, einen von herausquellendem Pferdehaar wie von Geschwüren strotzenden Diwan und zwei hölzerne Stühle, außerdem den Liegestuhl und am Boden eine trübe Pfütze von einem alten Gebetsteppich. In einer Ecke aber stand ein Bananenast, rundum mit gelben und schwärzlichen Früchten besetzt, einem Bienenkorb ähnlich. Ja, und in einer andern Ecke stand ein Spucknapf, der war mittendurch gesprungen. Eigentlich war es kein Zimmer, es war ein Durchgang von Abend zu Morgen, weil es nachts regnen könnte.

Als aber nun der Maler aus einem Nebenzimmer zwei in Porzellanfüßen stehende Paraffinkerzen holte, anzündete und auf den Gebetsteppich stellte, so offenbarten sie dessen ganzes Elend. Mich ergriff wohl Sympathie mit dem Spucknapf, denn in seine Nähe zog ich mir den Liegestuhl. Mich rühren so die zersprungenen Dinge, die sich gar nicht zu helfen wissen. Der Maler legte sich auf den Diwan und lag so still, als ob er schlafe. Die Kerzen zuckten zuweilen und störten mich in der Betrachtung meines Schattens ein wenig, der neben mir an der zerlöcherten Mauer saß. Drüben, vom fast unsichtbaren Maler her, glimmte zuweilen ein Manschettenknopf rot und golden.«

Jason schwieg so lange, daß Esther fragte: »Nun, sprachet ihr gar nichts miteinander?«

»Doch,« erwiderte Jason, »aber wir schwiegen viel länger, als ich eben geschwiegen habe. Dann fragte ich den Maler, ob wir uns nicht unterhalten wollten, und er fragte wieder: Ja, wovon? – Ich schlug vor, wir wollten Aphorismen sagen, – aber nun, er redete sich aus, er könnte das nicht.«

»Ja,« sagte Esther erstaunt, »kann man denn das so?«

»Oh, gewiß. Falls du mich nicht mißverstanden und gemeint hast, ich hätte gesagt, Aphorismen machen statt Aphorismen sagen. Ich bin angefüllt mit Aphorismen.«

»Zum Beispiel?« fragte Georg.

»Dies«, erwiderte Jason, »ist eigentlich mehr ein Kalenderspruch: Nichts ist so imaginär wie der beständig geküßte Hund einer jungen Dame.«

Esther dachte angestrengt nach und brachte schließlich heraus, sie verstünde das nicht.

»Oh kleine Esther,« erklärte ihr Georg, »es befinden sich doch lauter imaginäre Liebhaber in dem Hund.«

»Nun ein andres«, sagte Esther.

Jason, der schon längere Zeit mit einem von Esthers dänischen Handschuhn spielte, die neben ihr auf der Bank lagen, hob ihn jetzt ans Gesicht, roch daran und sagte, es wären gleich zwei auf einmal in dem Handschuh. »Wißt ihr,« fragte er, »was die traurigste Freude ist? Das ist der Parfümduft aus Frauenbriefen, die man spät in einer Schieblade findet. – Und nun, Esther, wenn ich dich liebte, würde ich zu dir sprechen: Deine Hand im Handschuh ist nur ein Körper, aber der Duft aus dem leeren ist Wesen.«

»Ach,« sagte Georg, während Esther rot wurde und lachte, »Sie können mir gewiß einen Unterschied formulieren, über den ich neulich nachdenken mußte, nämlich den eigentlichen zwischen einem Dichter und einem Schriftsteller.«

Nein, Jason bedauerte. »Das würde auf etwas Moralisches hinauslaufen, und moralisch kann ich nun einmal nicht sein.«

»Ja,« sagte Esther, »das ist auch langweilig, erzähle mir lieber, worüber du dich mit dem Maler unterhalten hast.«

»Richtig,« sagte Jason, »du erinnerst mich an einige sehr gute Dinge, über die der Maler mich belehrt hat. Ich sagte ihm nämlich, ich hätte verschiedentlich von Menschen sagen hören, daß der Künstler oder Dichter, um einer von Bedeutung zu werden, ganz außerordentlich viel leiden müßte. Andre dagegen hätte ich wiederum sagen hören, daß es auf der ganzen Welt nichts Grausameres gäbe als Künstler, und dies beides schiene mir doch zu widersprechen. Da sagte der Maler, was die Menschen anginge, so würden sie sich über derlei Dinge kaum aufklären lassen, weil, so sagte er, sie diese Dinge nicht aus der richtigen Sehrichtung betrachten könnten, nämlich aus der des Genius. Und das ist richtig, denn mit dem Genius verhält es sich so wie mit dem, was der reiche Mann zum armen Lazarus sagte, als der in Abrahams Schoße saß. Wenn Moses oder einer der Propheten zu ihnen käme, so würden sie nicht hören, aber wenn Lazarus von den Toten auferstünde, so würden sie. Denn immer unsichtbar bleibt den Menschen der Genius, wahrnehmen können sie nur seine Kraft, nämlich im Werk, – und nun sagte der Maler, grausam sei allerdings der Genius, mitleidlos, weil er vollkommen sachlich sei und alles Menschliche und Natürliche einfach als Stoff ansehe. Hier mußte ich auch wieder eine Wahrheit finden,« sagte Jason, »nämlich die, daß die Menschen wohl imstande sind, einen Dichter grausam zu finden, der sich einen Menschen mit all dessen Eigentum an Leiden und Lüsten zur Darstellung nimmt, nicht aber, wenn er so mit einer Landschaft verfährt oder einem Baum oder sonst einem Gegenstand, und dies bedenken sie nicht, nur weil sie von solchen Dingen weniger wissen oder gar nichts, wovon der Dichter vielleicht sehr viel weiß. – Wenn der Genius nun«, sagte der Maler weiter, »sich vollkommen sachlich verhält, so tut er das doch auch gegen das Leiden des Menschen, in dem er wohnt, das heißt also, daß ihn des Menschen Gefühl und Meinung von diesem Leiden gar nichts angeht, sondern er würde lachen, wenn der Mensch sie ihm vorhielte, und sagen: Da sorge du! Mach das mit dir allein ab! – Gefällt es ihm aber wiederum, so sagt er vielleicht: Zeig her! das da scheint mir brauchbar, ein Funken, nicht viel wert, aber ich wills versuchen und ihn anblasen. – Ja, da bläst nun dieser Gott,« sagte Jason, auf seine Knie herunterblickend, »und was ist nun wohl der Mensch, dieser Wurm, in einer solchen Lohe, die ihm Knochen und Mark verzehrt, freilich, Lohe einfach, schmerzlos wie lustlos, nur bloß verzehrend, was dann andern Augen gemeinhin erst an der Asche sichtbar wird, und dann staunen sie nun über Beethovens Totenmaske. Er aber, am ganzen Leibe brennend, schaffte in der Himmelsglut das Werk, blinden Auges, tauben Ohrs, denn der Genius sieht, der Genius hört; mit flatternden Händen, denn der Genius lenkt, und dieses, dies ist das Leiden und dies die Grausamkeit, dies darf Leiden und Grausamkeit genannt werden, weil aus ihnen Leben entsteht, ewiges, so Gott will, dieweil das andre nur zum Sterben gut ist; doch reinigt der Tod.«

»Hat das der Maler gesagt?« fragte Esther nach einem Schweigen leichthin.

Georg sah, daß Jason, wenn das bei ihm möglich war, verlegen schien.

»Es kommt ja nicht darauf an,« sagte er, »die Menschen sagen so vieles nicht, das meiste sagen sie nicht, und du kennst ja mein Gedächtnis, es muß sich an so vieles erinnern, und gedacht hat er es jedenfalls, davon seid ihr doch wohl überzeugt. Übrigens«, fuhr er fort, »sind wir bald auf das Meer und die Berge zu sprechen gekommen, und nachdem wir uns darüber geeinigt hatten, daß das Meer groß sei, groß, sonst nichts, indem nichts von seiner Größe sei, so fragte ich ihn, wie das wohl zugehe, daß manche Menschen sagten, das Meer drücke sie nieder; es mache sie melancholisch, sagen sie. Er vermutete, eben deshalb, weil es ihnen zu groß erscheine, sie selber daher zu klein. Berge dagegen, ich erinnere mich genau, daß er dieses sagte, weil darauf ich an zu sprechen fing, Berge verhielten sich menschlich, und gewiß ist das so, was ihr beurteilen könnt, wenn ihr euch solch ein einzelnes, weißes Schneehaupt vorstellt. Denkt ihr euch nun daneben die Erhabenheit eines wunderbaren Menschen, Dantes oder Bachs, Rembrandts oder Michelangelos oder Homers, so habt ihr gleich eine Kette einsamer, strahlender Bergeshäupter. Halbgötter sind die Berge, dem Himmel nah und doch furchtbar irdisch verankert, und sie stimmen den Beschauer zur Andacht, unvermindert seine eigene Person, eben wegen des göttlichen Eindrucks, der aus Kleinheit hinaufziehend, nicht aber niederdrückend ist: Gott läßt immer viele Möglichkeiten offen, um so strahlender, wenn er sich menschenhaft offenbart. Blickt ihr aber von der Höhe über ganze Ketten und Felder andrer Gipfel und Gebirgszüge hin, so habt ihr auch hier ein Meer von Wellen, von erstarrten jedoch, von gebändigten, innerlich unfreien, ihre Verdammung zur Schweigsamkeit mit Größe und Heldensinn ertragenden, gleich einem Volk gefesselter Könige; ihr aber, ihnen gegenüber, von Beweglichkeit, von eurer ganzen rühmlichen Freiheit ringsum strotzend, ihr fühlt die Majestät solcher Versammlung mit Andacht und angenehmer Demut. Dies alles«, sagte Jason lächelnd, »erklärte der Maler nicht wie ich, sondern mit einem einzigen Worte, und danach fingen wir an, von den Wolken zu reden. Von ihnen sagte Bogner gleich, daß er sie liebe, nämlich die vereinzelten, geballten, weißen, mittäglichen, und er sagte, daß sie wie Götter seien, schweigend und leuchtend, nur ihr Wesen ausstrahlend unbeeinflußbar, – und ich dachte wieder, wie richtig das sei, da eben solche Wolken diejenigen Eigenschaften haben, die wir uns wünschen, die uns fehlen: die Ruhe, die Unberührbarkeit, dies leuchtende Dulden der Vereinsamung, das Schweigen, und so sind sie, wie alle Gottheiten, vergottete Menschen, uns ähnlich, daher noch zu erfassen, noch in uns, wie die übrige Natur, und indem ich dies bedachte, fiel mir ein, ob der immer sonderbare und rätselhafte Eindruck des Ozeans wohl darauf beruhe, daß er nicht in uns sei wie die übrige Natur, und dies sagte ich dem Maler. Da erzählte er mir ein Erlebnis aus seiner Kindheit.

Er beschrieb mir, wie er an einem Sommerabend als Knabe in einem Kahn gelegen habe. Wie er da mit sich allein war in der unsichtbaren Dämmerung und eine Hand ins Wasser hängen ließ, da sei nun aus dem Abgrund des Meeres der Mond heraufgestiegen, ganz wie ein schweigender Gott. Das Herz habe ihm da zum Zerspringen geklopft; er habe gemeint, der Mond komme aus seiner Brust. –

Dies ist nun freilich ein schöner Irrtum gewesen, denn das Unsichtbare war es, das seine Brust so weit zu machen wußte, daß sie auch die Nacht, das Dunkel, alles in sich aufnahm, das Meer spielte eigentlich keine Rolle in seinem Erlebnis, und ich sagte ihm dies, indem ich ihm nachwies, daß damals, als das einfachste Tier, unser Vorfahr, die Noctiluca, aus dem Meere das Land erstieg, das Meer von uns abzufallen begann, durch die Jahrmillionen, durch unzählbare Geschlechter von Verwandlungen, und das Leben auf dem Trocknen ward anders als im Gewässer, fremd ward uns das Meer, aber es war unsre älteste Heimat, und darum, wenn wir darüber hinsehn, so meinen wir, daß dort drüben, an einem andern Ufer, unsere Heimat liegen müsse; wie Odysseus sich vorstellte, daß gleich drüben der Rauch aus seinem Dache steigen müßte; aber die Heimat eigentlich ist in dem Meer, ist es selbst, und deshalb macht es uns wehmütig, heimschmerzlich, und das drückt uns wohl nieder, um so geringer unser Glaube, um so tiefer unser Verlangen nach Heimat ist. Da kamen wir nun auf die Sterne zu reden, und ich glaubte schon, davon würden wir die ganze Nacht nicht wegkommen. Aber die größten Dinge sind auch wieder die einfachsten, und so verhält es sich auch mit den Sternen, daß von ihnen schon alles gesagt ist, wenn man nur an sie denkt. Dann genügt ein zufälliges Wort, und so fiel es dem Maler ein, zu sagen, daß die Sterne jenseits wären. Wie wahr ist das, denn sind sie nicht außerhalb unsrer Erde? Was aber reicht über unsre Erde hinaus? Wir? Unser Gefühl? Gegen das unzerreißliche, metallene Gewebe des Firmaments prallt unsre Seele an wie ein Federball; nichts dringt dort ein, es sei denn – das Gefühl, nicht eindringen zu können, das uns so wunderbar anmutet. – Übermenschlich, seht ihr, das sind Wolken und Berge; überirdisch, das sind die Sterne. Mit ihnen ist uns nichts gemeinsam, nicht einmal das Gefühl der Fremde. Das Meer jedoch, es ist unmenschlich, eine Natur außer uns, eine Leidenschaft außer uns, eine donnernde Unbegreiflichkeit.

Ja, so sprachen wir miteinander,« sagte Jason nachdenklich, »und inzwischen hatte der Maler seinen Bananenast aus der Ecke geholt, stellte ihn auf den Teppich, setzte sich auf die Erde davor mit dem Rücken gegen die Fenster und ermunterte mich zu essen, indem er eine Frucht abriß, hurtig schälte und die Schale über seine rechte Achsel zum Fenster hinauswarf. Wie das aber so geht mit mir, – ich stand auf einmal in der Tür, und da sehe ich ihn noch so sitzen in dem leeren Raum bei seinen rötlichen Kerzen und seinem schattenwerfenden Bananenast, und die Schalen zum Fenster hinauswerfen. Auf einmal stand ich dann und blickte gegen den wunderbarsten Nachthimmel, und es war kühl und vieler Atem im Finstern um mich her. Der Himmel aber, der vor mir niederhing, war ein wundersamer Gobelin mit einem silbernen Wolkenmeer, in dem, dicht aneinandergedrängt, andre, schwärzliche Wolken gleich riesenhaften Delfinen und Seeungetümen sich bewegten, und dies alles durchglitt der Mond, klar und sanft und sich schaukelnd, eine silberne Schale von einem Götterboot.«

Jason schwieg, rückte ein wenig und schien ans Fortgehn zu denken.

»Sage, Jason,« fragte Esther, »hast du nun wirklich gar nicht daran gedacht, dir von dem Maler Bilder zeigen zu lassen, da du einmal dawarst und doch kein Mensch herausbekommt, wo er wohnt?«

Nein, Jason hatte nicht daran gedacht. Er schien geistesabwesend.

»Es waren so viele Bilder da,« sagte er, »ringsherum, der ganze Himmel voll. Vielleicht«, sagte er aufstehend, »habe ich mir eingebildet, er hätte sie alle selber gemalt.«

Sprachs, nickte ihnen leutselig zu und ging davon. Sie mußten ihm nachsehn, wie er an den Gebüschen hinstreifte, ein wenig geduckt, die Knie leicht eingedrückt, den Strohhut im Nacken, die Hände auf dem Rücken, schmal in seinem feinen Rock von schwarzem Tuch, und so schwand er den Weg hinunter um die Ecke, und es war nicht ersichtlich, ob er nicht nur das äußere Verschwinden abgewartet hatte, um gänzlich fort zu sein, weg, nicht mehr vorhanden oder vielleicht schon in Südamerika. Esther und Georg aber taten ihre Augen zusammen, nickten sich zu und sagten, daß es ab und an gut sei, Jason zu hören.

Drei Gespräche: Das zweite

Georg, Sigurd und Benno saßen spätabends beisammen; Georg, wie er es gern tat, in seinem Armstuhl, den er mit der Rücklehne gegen den Schreibtisch gedreht hatte, so daß er zur Kaminecke hinüber sah gegen den grünen Lampenumhang, – und rechts dort saß Benno, in seinem Sessel so tief, daß er Georg unsichtbar war hinter den dunklen Figuren und dem breiten Dach des Treppengeländers: nur sein obenliegendes Knie war zu sehn, hell glänzend dicht unter der grünen Tischdecke im nach unten fallenden Licht. An der anderen Seite hatte Sigurd sich in den breiten Ledersessel zurückgelegt, das Gesicht nach oben gewandt, das linke Knie so hoch gegen die Schulter gezogen, daß er die Hände dicht überm Fußgelenk falten konnte, das auf dem rechten Knie lag. Georg hatte, da sie eben damit beschäftigt waren, sich nach Kräften an- und auszuschweigen, Muße genug, ihn zu betrachten, diesen erstaunlich Schönen; sein dunkelhäutiges langes Gesicht glänzte leise aus der Dämmerung wie etwas Gegossenes; ein Lichtfunke, in jedem Auge hängend, machte sie starr in aller düstern Lebendigkeit. Schön im Schweigen formte sich der volle Mund.

Georg dachte in behaglicher Zufriedenheit über ihn nach. Sich erinnernd, wie er in dem dunkelroten Mantel hohepriesterlich bei so viel Jugendlichkeit erschienen war, dachte er, daß noch kaum ein Mensch – und am seltensten eine Frau – so das Empfinden ihm bekräftigt habe, es müsse im schönen Leibe auch eine schöne Seele wohnen. Renate – ja – eigentümlich: ihr Glanz war so außerordentlich, so vollkommen, so nichts mehr zu wünschen lassend, daß man nichts begehrte außer eben ihn, – und doch nein; war es nicht seelisches Feuer allein, das, ihre Züge und Farben durchglühend, sie in solche Harmonie und solches Leuchten versammelte? Also war vielmehr dies das Absonderliche, das aus Renate Einheit strahlte; hier, aus dem Manne dagegen nur Eines, das ein Zweites ahnen und wünschen ließ, – und so sehr, dachte er, ist also Schönheit etwas Nebensächliches, etwas Störendes fast beim Manne, dessen Geist und Seele allein es sein sollten, die Licht verbreiten. Ja, und Esther, wie war es mit der? Hatte sie wohl eine Seele überhaupt, oder war da alles – nur süß; bis hinab in das Innerste? Ach, kleine Esther, kleine Chinesin, bin ich nun eigentlich verliebt in dich? und wenn wirklich, wie wäre das möglich in Anbetracht Renates? – –

»Wie doch das Schweigen tönt!« hörte er da Benno träumerisch sagen. »Wir sind ja ein Dreiklang.«

»Dur oder Moll, Benno?«

»Ich weiß nicht, Georg. Musik der Seelen – und die ist es doch, die ich höre – weiß wohl von irdischen Tonarten nichts, und dort ist das innerlich Selige von Dur und Moll ein unirdisches Gemisch.«

»Ja – dort, Benno, nicht wahr? Aber wir sind hier und müssen immer heiter oder traurig sein. Es ist aber schön zu denken, was du sagst.« Georg schwieg.

Nach einer Weile zogen ihm sanfte Verszeilen durch die Erinnerung, und er sagte langsam auf:

»Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.«

Sie schwiegen lange.

Benno sagte: »Ergänzen, ja. Zu Moll das Dur und zu Dur das Moll; und doch wird es Ergänzung nicht allein sein, sondern das – andre, das – von hier, wird mit darin sausen, und das wird die Vollkommenheit sein, die weder Dur ist und weder Moll. Und das hat Bach gewußt.«

Es war wieder still. Georg versank in ihm selber Unbewußtes.

Plötzlich – als sei es genug – sah er undeutlich Sigurds Haltung sich lösen; er setzte den Fuß an die Erde neben den andern, beugte sich vor, legte die Hände um eines der Bücher auf dem Tisch und sagte in seiner kurzen Weise:

»Wissen Sie, Georg, – ich wollte Ihnen immer schon etwas sagen. Wegen Esther. Sie wissen ja: meine Schwester gehört mir, mir ganz allein. Ich habe sie erzogen von Kind auf; sie ist – mein Werk. Es gab eine Zeit, wo sie den Leuten langweilig war, so sehr war sie ein Abguß von mir und sprach mit meinen Worten. Und was wissen wir schließlich von solch einem Wesen?«

Er brach ab. Ja, was wissen wir, dachte Georg. Sie geht umher und sieht süß aus. Alles, was wir wissen, sind Dinge, die sich auf uns beziehn. Obendrein antwortet sie nur, schweigt, spricht selten von selber, oder ganz Belangloses, Tatsächliches. Und dabei diese Wandelbarkeit, als hätte sie gar keinen Kern! Mit jedem Kleid, in jedem Hut, ohne Hut, im Mantel, in der Jacke ist sie ein andres Wesen; heut ein Kind, morgen abwesend, eine kühle Fremde, Verirrte, jetzt sanft und hülflos, morgen sicher und verständig, ja scharfsinnig, heut altklug und morgen unbewußt –, als ob sie immer und nur auf geheime Unterweisung sei und handle, – aber immer ist sie verführerisch und gefällig mit Miene und Lächeln. Ja, wenn ich das Sexuelle auch so überschätzte, wie Alle es tun, so würde ich denken, ich sei in sie verliebt, bloß weil ich ab und an den zärtlichen Wunsch habe, sie auf den Arm zu nehmen und irgendwohin zu tragen. – Während er sich dies sagte, betrachtete er Sigurd, der, die Zunge im Munde wälzend, das Buch hin und her drehte, und dachte, falls er, wie es schien, ihm etwas mitteilen wollte, sei es das beste, zu schweigen. Richtig fing Sigurd auch wieder an:

»Was wissen wir von ihnen? Ihre Gedanken laufen doch immer wo anders hin. Nun sind sie in Amerika. Sie giebt bekanntlich vor, einen jungen Mann zu lieben, da drüben …«

»Warum: giebt vor?« fragte Georg.

Sigurd blickte wegwerfend auf: »Ich sagte ja, daß sie mir gehört, also liebt sie in Wirklichkeit mich, nur ist sie eben meine Schwester und merkt es nicht. Und überhaupt nun diese sogenannte Liebe. Esther ist immer von irgendwem geliebt worden und hat immer irgendwen geliebt. Endlich kommt einer und sagt, er muß sie heiraten, und da muß sie nun auch. So ists immer, Alle heiraten aus Zufall, und nachher ist das Unglück da.«

Georg glaubte sich zu erinnern, daß er das selbe schon einmal von einem andern Menschen gehört hatte, – war es nicht Ulrika? … Aber Sigurd war aufgestanden, lehnte sich mit der rechten Schulter gegen das Bücherregal, den Kopf gesenkt, hier und da einzelne Bände tiefer ins Fach klopfend, während er sprach:

»Ich will sie nicht hergeben, ich brauche sie, wofür lebe ich denn?« Er wandte sich zu Georg. »So etwas kennen Sie natürlich nicht,« sagte er mit verächtlicher Traurigkeit in den schweren Augen, »Geschwisterliebe. Nicht Frau, nicht Geliebte, nicht Freundin, aber von jeder ein Hauch, – und andrerseits, wenn ich denke, ich könnte eine andre Frau lieben, so würde mir das Verwandtschaftliche bitter fehlen.«

»Irgend etwas«, sagte Georg weise, »fehlt immer.«

»Esther,« fuhr Sigurd fort, ohne hinzuhören, »Esther hat diese Macht über die Menschen, dies Verlockende, das ihr eigentliches Wesen ist. Sie kann nicht anders, sagen Sie selber: wenn sie mit Ihnen allein ist, ist sie da nicht ganz eine andre, als wenn Andre dabei sind? Unter Vielen ist sie überhaupt nichts, da steht sie wie ein kleiner Hund im Regen …« Er lachte verlegen, Georg lachte gefällig mit.

»Nun also der in Amerika«, fing Sigurd wieder an. »Ein außerordentlich tüchtiger Mensch, müssen Sie wissen. Unglücklicherweise nahm er an einem Monatsletzten – als er noch hier war – dreißig Mark aus der Kasse, um sie am Ersten wieder hineinzulegen, da kam die Revision. Es gelang mir natürlich,« sagte er mit innerlichem Stolz, »den Chef zu überzeugen, daß er keine Anzeige machen durfte und ihm ein Zeugnis ausstellte auf Tüchtigkeit und Fleiß mit dem Vermerk: verläßt seine Stelle nach Übereinkunft. Ja, und trotzdem verfiel der arme Junge so in Verzweiflung, daß er in die Staaten hinüberging. Oh auf ihn kann man sich verlassen, aber auf Esther? Warum soll sie nun grade den immer und ewig lieben, nachdem sie sich so oft geirrt hat? Aber ihr Gefühl für mich, das ist immer das gleiche geblieben. Sie fängt nach einem halben Jahr an, sich zu langweilen, immer mit dem selben Mann, wohin soll sie sich noch entfalten?«

»Ja, ja,« lachte Georg, »Sie haben recht: unter mehreren Männern ist sie die bescheidene und kluge Lauscherin – Leonore im Tasso –; mit einem allein entfaltet sie sich zart – Leonore mit Tasso.«

»Achtzehn Jahre ist sie alt,« sagte Sigurd kopfschüttelnd, »und bildet sich wahrhaftig ein, dieser Kaufmann drüben sei in Europa und Amerika der einzige Mensch, mit dem sie das Leben zu Ende führen kann.«

»Sie sind närrisch,« meinte Georg, »Liebe und Überlegung …?«

»Ja, soll sie ihn lieben!« brauste er auf, »aber warum denn um Himmels willen heiraten? Wie schön ist die Liebe, wie ideal ist die Liebe! Sie erregt alle heftigen Gefühle, Sehnsucht, alle Empfindungen nach – hinaus, nach oben, ins Offne, ins Unbegrenzte, – und dann wird geheiratet.« Er lief an Georg vorüber und hinter seinem Rücken im Zimmer hin und her.

Georg fiel Cora ein, die er seit Monaten einfach vergessen hatte, und sagte: »Ideale, das wissen Sie doch, Sigurd, sind dazu da, daß man sie hat, nicht daß man danach lebt. Zum Leben brauchen die Menschen Ziele.«

»Na, und was machen Sie da wieder für einen psycho-philosophischen Unterschied?«

»Ein Ideal«, sagte Georg ernsthaft, »ist keines – nicht wahr – innerhalb erreichbarer Grenzen; ein Ideal ist doch nichts Persönliches, nichts, was man für sich allein hat, oder käme es nicht mehr von Idee her? Ideal ist Religion. Wie ich schon sagte, nicht wahr: auch Religion müssen die Menschen haben, aber wer lebt danach? Für ihr Leben haben sie ihre Gesetze und sonst praktische Wegweiser, was ich Ziele nannte. Wegmarken braucht der einfache Mensch, um zu sehn, woher er kommt und worauf er zugeht, und daß er sich bewegt.«

»Ach, Sie denken immer so artistisch! Dem Künstler freilich sind seine Werke solche –«

»Dem Künstler«, griff Georg mit Festigkeit ein, »sind seine Werke niemals Ziele, sondern stets Ideal. Was er erreicht – im Werk –, das mag Andern, ja mag ihm selber ein Ziel scheinen, eine Wegmarke, eine Stufe, um höher zu steigen: im Grunde bleibts ideal, weil unvollkommen gegenüber seiner Idee. Ein vollendetes Kunstwerk, nicht wahr – das kann niemals mehr heißen als: ein fertiges. Selbst Gott hat nur gesagt, es wäre sehr gut, und ich bin überzeugt, daß sein Ideal von Welt hoch, aber höchst anders ausgesehn hat!« Georg, nachdem er seine Sätze auf das eifrigste hervorgesprudelt hatte, stand auf, ging hin und lehnte sich gegen die Bücherwand. In der Tiefe des dunklen Raumes sah er Sigurd neben dem Pensieroso stehn, der vor ihm saß, unbekümmert wie je, den Handrücken unterm Kinn, sinnend.

»Es giebt so viele Worte«, sagte Sigurd. »Wie alt sind wir eigentlich? Unsereins sieht immer über die rationalen Dinge hinweg, als ob Gott und Welt und Ewigkeit das einzige wäre, was uns anginge, als ob wir sie im Sack hätten, als ob sie nur so um uns herumstünden wie Schränke. Übrigens haben Sie davon angefangen.«

»Ja, Sie merken doch alles, Sigurd«, sagte Georg sardonisch. »Glauben Sie wirklich nicht, daß das Alltägliche genügt, um es zu tun? Soll man auch davon reden?«

»Nicht vom Alltäglichen,« versetzte Sigurd kurz, »das ist eine Unterschiebung. Ich sprach vom Realen oder Tatsächlichen und bin nicht der Meinung, daß es so einfach ist, daß Tun genügt.«

»Ich kenne eine Frau,« erwiderte Georg nachlässig, »deren Ideal wäre es, die Geliebte eines Prinzen zu sein. Jawohl, Sie bemerken ganz recht: der Prinz bin ich selber.« Sitzt mir die Maske? fuhr es durch ihn hin. Er sammelte sich und fuhr fort. »Ich sage Ideal, Sie würden sagen Ziel.«

»Weil Sie,« Sigurd lachte spöttisch, »weil Sie ihr dies Ziel nicht erfüllen wollen? Also ein idealisches Ziel, wie Ihr Kunstwerk, wie der Himmel für den primitiven Frommen, den Moslem oder so: solange man danach strebt, Ideal, wenn mans hat, Ziel.«

»Ach, Unsinn!« murrte Georg. »Der Himmel (und die Hölle genau so gut) sind keine Ideale für den Frommen, sondern einfach Ziele, weil sie mit zum Irdischen gehören, weil sie in seinem Dasein inbegriffen sind.«

»Also leugnen Sie überhaupt Religion?«

Es klopfte. Die Tür zum Flur wurde geöffnet, und Esther stand über der Treppe in einem dicken bräunlichen Regenmantel, den Kragen hochgeschlagen, kaum sichtbar das kleine Gesicht mit den funkelnden Augen unter tiefen Scheiteln und der Kappe aus schwarzem Haar, die sie heute trug. Sie hatte einen Brief in der Hand.

»Ein realer Brief,« sagte Sigurd, indem er näher trat, »siehst du, Esther, der Prinz leugnet alle Religion außer Buddhismus.«

Ich dachte an Märtyrer, sagte Georg sich schweigend, indem er Esther die Hand gab und fand, daß sie wie ein gutes, schwärzliches Tierchen aussah, süß zum Wegtragen und Füttern. – »Als wir anfingen, Esther,« sagte er, »sprachen wir von Ihnen; nun sind wir glücklich beim Nirwana.«

Sie lächelte. »Das ist eben das Gute an uns, daß ihr von uns überall hingeraten könnt! Ihr müßt immer bei uns anfangen, ihr Männer.«

»Und von überallher zu euch zurückkommen«, schloß Georg lachend. »Ihr seid der Kreis und seid im Mittelpunkt.«

»Ja, Kreis«, wiederholte Sigurd, am Schreibtisch stehend, Georgs Malaiendolch in der Hand. »Was ist mit dem Brief?« schloß er kurz.

Esther erklärte munter, wie sie, um den Brief in den Kasten zu werfen, vor die Tür gegangen, wie die Nachtluft so herrlich nach dem Regen gewesen sei und nach nassem Pflaster geduftet habe, daß sie hergelaufen sei, um Sigurd abzuholen, – und den Brief habe sie dabei in der Manteltasche vergessen. Georg verschlang sie mit Augen dieweil und hörte kaum ihre Worte. Sigurd nahm ihr den Brief wortlos fort, während Georg, ihr aus dem Mantel helfend, freundschaftlich fragte: »Für wen ist denn der dicke Brief, kleine Esther?«

»An meinen Verlobten,« hörte er sie abgewandt sagen, und einen Stich im Herzen, fiel ihm ein, daß Sigurd ihm ja etwas hatte mitteilen wollen, Esther betreffend. Was konnte das wohl gewesen sein? – –

Nun saßen sie schweigend alle Vier, bis Esther mahnte: »Sagt doch was, Kinder, seid ihr immer so schweigsam?«

»Ja, Benno!« – Benno saß ganz grade auf dem Vorderteil seines Sitzes, dieweil eine Dame zugegen. – »Benno hat den ganzen Abend noch nichts gesagt. Also Benno …«

Benno lachte erschütternd. Er habe alles, was ihm für heute zu reden gegeben sei, schon vor Esthers Anwesenheit gesagt. »Nun müßt ihr reden!«

Esther schlug vor, Georg möge etwas vorlesen.

»Ja, Georg!« bat Benno schmelzend und glitt erwartungsvoll unbedacht tiefer im Sessel, richtete sich aber gleich wieder auf. Georg wehrte jedoch ab; er habe nichts Rechtes. Als Sigurd nun aus der Ecke am Kamin fragte, ob und was Gutes Georg zurzeit lese, fühlte er einigen Ärger über Sigurds schlankes Abbiegen und sagte nachlässig bloß: »Jean Paul.«

Keiner von den Dreien erwiderte etwas. Der Name löste wohl zwiespältige Empfindungen aus, die nicht zu Worte gelangten.

»Natürlich,« sagte Georg, »wenn man Jean Paul sagt, sind Alle wie auf den Mund geschlagen. Habt ihr Jean Paul gelesen? Haben Sie Jean Paul gelesen, Esther?« – Esther murmelte etwas vom Katzenberger.

»Dieser ewige Katzenberger! Als ob das nun Jean Paul wäre, nicht wahr! Katzenberger! Das ist wie – wie so eine hornhäutige Ferse am Absatz eines Engels; als solche ja ganz merkwürdig. Aber den Engel solltet ihr reden hören! Wartet –« Sich im Stuhl drehend griff er den kleinen schwarzen Band vom Schreibtisch hinter sich. »Flegeljahre,« sagte er, »ich will euch nur eine Stelle vorlesen, nur eine, und ihr sollt –« Er blätterte erregt. »Nein, wartet mal, wo war doch das! Richtig, ich hatte doch ein Zeichen … An der Stelle ging mir zum ersten Mal mit blendender Klarheit der Unterschied zwischen Dichtersprache auf und – wie soll ich sagen? – da ist die Stelle!«

Georg hatte sein Zeichen gefunden, nahm es heraus, bog das Buch auf und las:

 

No. 16. Berguhr
Sonntag eines Dichters

Walt setzte sich schon im Bette auf, als die Spitzen der Abendberge und der Thürme dunkelroth vor der frühen Juli-Sonne standen, und verrichtete sein Morgengebet, worin er Gott für seine Zukunft dankte. Die Welt war noch leise, an den Gebirgen verlief das Nachtmeer still, ferne Entzückungen oder Paradiesvögel flogen stumm auf den Sonntag zu …

»Das ist es!« rief Georg, »das ist es: ferne Entzückungen oder Paradiesvögel flogen stumm auf den Sonntag zu. Ja, was denkt ihr euch dabei? Ist das irgend etwas Vorstellbares? Ist das nicht unbeschreiblich imaginär? Entzückungen, die fliegen? stumm? auf den Sonntag zu? Und da quillt einem doch das Herz über von etwas geisterhaft Irdischem und Unirdischem in wunderbarster Vermengung, und die Seele über von unsagbaren Visionen des Morgenhimmels und der Dämmerstunde. Und deshalb – nicht wahr – was liegt an den Worten? Das überwogende Empfinden des Dichters schwemmt sie hervor, – vom Rhythmus, der alles ist, ergriffen, ankristallisiert, schwemmt es sie hinüber in uns, wo sie zergehend wieder ausschäumen in Empfinden und in Vision. So spricht der Dichter.«

Still waren die Andern. Wie, keine entzückte Bejahung? – Endlich sagte Sigurd:

»Und wie, meinen Sie, sprechen wir?«

»Wir? Wir machen uns verständlich. Wir wollen verstanden werden, wollen wirken und suchen den passenden Ausdruck, den treffenden, nicht wahr, Deutlichkeit. Der Dichter will sich niemand verständlich machen, nicht wahr, sondern muß singen, nachsingen, was der Dämon vorschreibt, und dies eben, nicht wahr, daß er vollkommen weiß: er kann sich auf unsre Weise nicht ausdrücken, weil dann nur Deutlichkeit entstünde, aber nicht – Empfinden, Sichtbarkeit, Fühlbarkeit, das – nicht wahr – giebt ihm die Gegensprache vom Ausdruck, das – eigentlich ists ein Verhüllendes, nicht wahr, das – Bild, Gleichnis, die Gestalt, das heißt: er stellt dar. Darstellung und Ausdruck, das sind die beiden.«

»Dagegen«, sagte Sigurd nach einer Weile, »ließe sich wohl nichts einwenden. Wie Sie aber – in dem, was Sie zuerst sagten – das Wort so erniedrigen, zum Mittler des Gefühls erniedrigen können, das verstehe ich nicht. Ich –« Georg, obwohl sprachlos vor Überraschung, daß er erniedrigen sollte, er, dem wie keinem Andern die Einzigkeit, die vollkommene Aristokratie des Wortes bewußt war, – kam nicht zum Einfallen. »Ich empfinde«, sprach Sigurd weiter, »da ganz anders. Ich empfinde –« Vorgebeugt in seiner Ecke, die Ellenbogen auf den Knien, legte er Gelenke und Fingerspitzen der gewölbten Hände mit kleinen formenden Bewegungen gegeneinander – »ich empfinde – den Leib des Wortes. Ein tiefes Erfülltsein, Umschlossensein; kein Überströmen.«

Esther, die sich bislang unteilhaft verhalten hatte, nickte jetzt beistimmend und schüttelte den Kopf. Auch Benno drehte sich.

»Nein, da müssen Sie mich mißverstanden haben«, sagte Georg. »Das Wort als Mittler? Auch ich –« die Zeile Jean Pauls wie auf einer langen Fahne vor sich, ließ er sie auf sich wirken, und sagte, langsam seinem Gefühl nachsprechend: »Ich empfinde das Wort, Leib und Seele. Die Seele aber flutet über die Ränder und – bildet, mich erfüllend, den Leib noch einmal in mir. Und das geht – hin und her, nicht wahr; immer ist eines im andern. Die Seele freilich – auf die kommt es doch allein an – die Seele des Worts ist die mächtigere, die immer wieder überflutet und mich – ahnen läßt, tausendmal mehr ahnen, als das Wort enthält.«

»Sie lassen Ihre Phantasie spielen, Georg. Sie sind Romantiker,« sagte Sigurd, »und –«

»Ich bin kein Romantiker, was fällt Ihnen ein?«

»Dann denken Sie eben an besonders romantische Gedichte, die es ja giebt, die von dieser überfließenden Art sind.«

Esther und Benno nickten lebhaft.

»Aber ich bitte euch!« widerstritt Georg. »Nehmt doch etwas andres, nehmt – was ihr wollt! Nehmt ›Der Wald steht schwarz und schweiget – Und aus den Wiesen steiget – Ein weißer Nebel wunderbar …‹ Was liegt denn an den Worten? am schwarzen Wald und weißen Nebel? Aber eine golden verschattete Welt steigt auf, und das ist die Kunst, wie ich sagte: mit einem Wort hundert und tausend mal mehr zu geben, als es enthält.«

»Und das ist romantisch«, beharrte Sigurd.

»Ja, Georg,« wagte Benno sich hervor, »handelt es sich hier nicht um etwas andres? Das ist doch – Landschaft. Die soll gemalt sein, gesehen werden, und da wirkt natürlich die Phantasie. Hier tut sie's auch bei mir. Sonst aber – verhüllt sie sich eher –«

»Verhüllt sich!« sagte Sigurd. Esther nickte und lächelte.

»Zum Beispiel, wenn du an das von George denkst, dies Wunderbare, du lasest es neulich: ›So war dein sanfter Sang der Sang des Jahres – Und alles kam, weil du es so bestimmt.‹« Benno verhauchte beseligt. Sigurd am Regal lehnend, die Finger in den Westentaschen, das Gesicht vornüber gesenkt, sagte kurz, nach innen grübelnd:

»Es muß etwas anders sein. Sie nehmen die Dinge ästhetisch. Es muß ein ethischer Vorgang sein.«

»Da komme ich nicht mit«, erklärte Georg. »Jeder Vorgang ist an sich rein ästhetisch, nicht wahr? Ethisch wird er allein durch die Erkenntnis – Sie verstehen, Esther –, durch Erkenntnis von Werden und Entstehn, von den Zusammenhängen, von der Form. Hier aber, hier handelt es sich ja um Vorgang und nur um Vorgang. Das Ethische können Sie ja dazu haben, aber – was hat das mit Dichtung zu tun? Das ist doch – abstrakt.«

Benno war nicht einverstanden, und Sigurd bewegte stumm den gesenkten Kopf. »Warum abstrakt?« fragte Benno und mit ihm Esther aus den Augen.

»Warum? Also – – also wenn ich sage: Bauen, – nicht wahr? Wer baut? Einer schleppt Steine, einer legt sie aufeinander, einer macht Fenster, Türen, Fußböden, einer das Dach. Wer baut denn nun? Der Architekt macht Pläne, beaufsichtigt, das alles sind die Vorgänge. Was aber alle zusammen tun, nicht wahr, und auch allein der Architekt durch Planen und Beaufsichtigen, das sehen wir im Begriff ›Bauen‹. Begriff! der kann ethisch sein, aber wie wollt ihr den empfinden, nicht wahr? Wo das Wort so voll Vorgang ist, so voll Vorgang!«

»Das können Sie nicht sagen, Georg!« Sigurd hob voll die heißen Wangen und brennenden Augen gegen ihn. »Ich empfinde das eben.«

»Ich auch, Georg!« rief Benno.

»Du auch? Ich hätte sonst sagen wollen: Sie, als Jude, nicht wahr, – seien vielleicht eher begabt für das rein Gedankliche.«

»Das sind wir. Herz und Intellekt wohnen bei uns näher zusammen als bei euch.«

»Und darum überschätzen Sie das Wort!«

»Ach das Wort, Georg, doch nicht das Wort!« Benno lief aufgeregt mit schwingenden Armen in den Raum. »Wie wäre es dann mit der Musik, die wortlos ist? Wärens da Töne, Akkorde, Septimen, Quinten und Quarten? Ist es nicht –«

»Und die Musik,« rief Georg aufspringend und sich zu ihm drehend, »die Musik, da du davon sprichst, wie läßt die erst überwogen, sich auflösen, ins Namen-, ins Uferlose, ins –«

»Bei dir, Georg, aber doch nicht bei mir!« schrie Benno vom bronzenen Borgia her. »Die Musik ist eine so völlig klare, gesättigte Sprache wie die der Dichter. Ja, das ists! Sprache, Georg, Sprache! Nicht das Wort, das Ganze – eben – Musik!«

»Das ist wieder was andres, Benno. Meinen Sie das?«

Sigurd nickte.

»Dann also – meint ihr – den Rhythmus, nicht wahr?«

»Es ist mehr, Georg, es ist –«

»Unter Rhythmus«, erklärte Georg, »meine ich die innerste Essenz, die wieder Destillat ist aus dem allen: Worten und Takten, nicht wahr, Reim, Bildern und ihrer Wahl und Ordnung, der Glut der Stunde vor allem – was man Stimmung nennt, nicht wahr? – der Duft, die Seele – und der Leib – all das, all das strömt zusammen zum Rhythmus, der die Seele des Gedichts ist, die Seele der Form. Mit einem Wort, die Form meint ihr, das ganze Gedicht. Ja, dann freilich, – das ist bei mir natürlich auch so. Das Gedicht tritt in mich ein und –«

»Nun kommen wieder Ihre überquellenden Ränder«, sagte Sigurd, der ein Buch aus der Reihe vor ihm gezogen hatte und es eben aufschlagen wollte. Er ließ es aber in der Hand hängen und fuhr fort, zur Bekräftigung damit Stöße gegen Georg führend:

»Der wirkliche Vorgang ist: den Leib des Wortes, samt der Seele, die ganze Form: noch einmal aufrichten, noch einmal baun. Er ist, wie alles in Wahrheit Ethische – ein Schaffen, Neuschaffen von Grund aus.«

»Ja, Georg, ja, Sigurd!« jubelte Benno aus dem Hintergrund, kam hervor gestürmt und stand nun im Licht so lang er war, hoch gerötet in großer Gebärde mit flammenden Augen und fliegender Stirn.

»Georg!« rief er mit ganz unterdrückter, inbrünstig eindringen wollender Stimme, »hast du's denn nie gefühlt? Nie dies tiefe Glück empfunden im Empfangen der Form, das – den – den Einklang, das Vollkommene, die ewige Harmonie des Irdischen mit dem Unirdischen, vollzogen im göttlichen Augenblick? Musik, seht ihr, sie ist nicht der Himmel selbst, aber – sie ist das Zwischengebiet, von uns erreicht, ja von uns erzeugt mit unsern irdischen Kräften und unserm überirdischen Glauben, – wo das Himmlische irdisch ward und das Irdische himmlisch – himmlisch im Tönen, himmlisch in der geschaffenen Form, in der wir nun aufgehn, aufgehn, Georg, in beiden – und doch nur eins noch empfinden: Glück.«

»Wundervoll, Benno, ja, aber das, was du da sagst, das habe ich im Tiefsten immer empfunden. Das ist allerdings ethisch, und es ist dann so, daß ich es unbewußt empfand. Ich kann ja – wenn ich überhaupt ein ethischer Mensch bin – nur hierin das Wunder der Kunst erfahren, und – ja, es ist doch so, nicht wahr: die meisten Menschen – nun, ethisch sind sie natürlich alle, denn wenn einer es sein kann, müssen alle es sein. Sie alle haben, nicht wahr, einen ethischen Grundstoff. Von dem wissen die Meisten gar nichts und können deshalb nur moralisch empfinden, das heißt: das Stoffliche. Die Nächsten gelangen bis zur Anschauung, zum Empfinden der Form, also zum Ästhetischen, nicht wahr, und das sind die, die wir gemeinhin Ästheten nennen. Die Dritten haben nicht nur die Erkenntnis des Ethischen, sondern auch – wie Sigurd, nicht wahr – das Empfinden davon. Und bei mir ist es nun so, nicht wahr, daß ich, als selber Schaffender, zwar die Erkenntnis haben und für sich allein auch empfinden kann, aber der Anschauung verhaftet bleibe. Ich habe Phantasie, ich kann sie nicht unterdrücken; alles was sie, die Anschauung mir zuführt, bewegt mich vor allem andern, und das Ethische – Vischer meinte es wohl auch, wenn er das ›Moralische‹ sagte – versteht sich von selbst.«

»Ja, Georg, dann sind wir ja einig«, bekräftigte Benno mit gerührt sich verbiegendem Körper, als wären sie nach langer Verfehdung wieder Freunde geworden.

»Ja, und Sie, kleine Esther,« sagte Georg, vor sie hintretend, »Sie haben überhaupt nichts gesagt.«

Ihre Augen glitzerten. »Oh ich,« lächelte sie errötend, »ich freue mich, wenn kluge Männer sprechen, daß ich verstehen kann, wie sie es meinen.« Sie lächelte mehr bei jedem beziehungsvollen Wort:

»Ich folge gern, denn mir wird leicht zu folgen,
Ich höre gern dem Streit der Klugen zu –
Wenn die feine Klugheit,
Von einem klugen Manne zart entwickelt,
Statt uns zu hintergehen, uns belehrt!«

Georg, die ganze Zeit, während sie sprach, stark und stärker versucht, ihr Gesicht in beide Hände zu nehmen und zu küssen, konnte es nun nicht lassen, wenigstens ihre Schultern leicht zu berühren, indem er lachend spottete:

»Aber das war ja auch nicht von Ihnen, Esther, das war ja von Goethe!«

»Wir müssen gehn«, sagte Sigurd. »Es ist höchste Zeit.«

Drei Gespräche: Das dritte

Renate schrieb:

»Tage und Nächte, Tage und Nächte! Da liegst du nun auf der Lauer über deiner Arbeit wie ein Panther, und ich stehe dabei und weiß nichts. Wie in der Ermattung dein Menschliches von dir abfällt, so tritt alltäglich, daß ich ihn sehe, der Gott aus deiner Brust, sitzt da groß, durch Wind und Wolkenriß hinunterspähend auf das Werdende; Länderflucht und Wolkenschatten jagen durch seine unbewegten Augen. Warum muß ich ausgeschlossen sein aus deiner Seele, in einer andern Welt, sprachlos wie Echo in einem Walde, den niemand betritt? Will mir denn niemand dies Geheimnis lösen, warum dir alles sichtbar ist, nur nicht ich? Überstrahle ich sie nicht alle? Bringe ich nicht Glück hin, wo ich eintrete? Ach, daß ich alle Spiegel der Welt zerschlagen könnte und kein Bild mehr haben, damit du es merktest, wie ich dürste nach deinen verhängten Augen! Ich ertrage es nicht, du! daß ich dastehn muß wie unbekannt, unsichtbar vor dir in meiner Fülle, und dein Auge blinzelt nicht einmal! An wen soll ich mich denn wegschenken, sag, damit du endlich, endlich begreifst am Zerschlagenen, was dir aus den Händen fiel!«

Sie hielt ein, glühend über und über, fliegend, warf die Feder hin, knüllte ihr Taschentuch in der Rechten, faßte mit der Linken in den Ausschnitt ihres Kleides am Halse und zerrte. Sie schlug das Buch zu, löschte die Lampe vor sich und stand auf; teilte den Vorhang und sah hinaus. Da war nur Finsternis, undeutlich, aber nach Augenblicken wurde der schwarze Schattenriß des Kapellendaches sichtbar über dem Gewipfel gegen den gestirnten Himmel, dann auch darunter da und dort der gelbliche Schein und die Form zweier Fenster. Dort saß er! dahinter saß er! Saß, malte und sonst nichts. – Sie preßte die Stirn gegen das kühle Glas, atmete tief und wurde ruhiger. Es ist beschämend, dachte sie, ich muß es jetzt vergessen; man könnte es mir ja vom Gesicht ablesen, was ich in das Buch schrieb. – Sie sah in die Tiefe ein wenig rechts und gewahrte den Lichtschein, der aus dem Verandazimmer breit in den Garten fiel, darin die Schlagschatten, über Weg und Rasen hin, der dünnen, rankenumwundenen Pfeiler und der hangenden Reben voll Weinlaub; grau schimmerte, wo die Helligkeit am Boden endete, der Sandsteinsockel der Sonnenuhr. Nun sah sie auch, daß eine weiße Gestalt zwischen den Büschen umherging, jenseit des Rasenplatzes; bald kam sie unten zum Vorschein auf dem Wege, langsam dahinschlendernd, ging durch den Lichtschein – es war Magda – die Unterarme hinter dem Rücken zusammengelegt, am Hause vorüber und wieder in die Tiefe, wo sie schwand, aber nach einer Weile wieder sichtbar wurde, stehen blieb und nach oben schaute. Einen Augenblick glaubte Renate, sie spähe nach ihr, aber sie stand ja im Dunkel und war dunkel gekleidet. So blickte sie wohl zu dem gotischen Fenster empor, wo Georg und Esther unter der Lampe saßen; sie hatte ja dort auf einmal weglaufen müssen, um zu schreiben.

Magdas weiße Gestalt wendete sich wieder und ging zurück und kam abermals wieder und verschwand auf dem Weg zum Gemüsegarten. Renate, all ihr Eigenes kräftig niederdrückend, folgte ihr zärtlich mit Gedanken. Sie öffnete leise das Fenster und beugte sich hinaus. Gleich drang mit der schönen Nachtkühle und dem Geruch des vielerlei Blühenden eine gedämpfte Musik undeutlich an ihr Ohr – o, sie übten ja an ihrem Brahmsquartett in der Kapelle –, und nun standen deutlich sichtbar alle drei spitzbogigen Fenster, dunkelgelb leuchtend, im Finstern. Über den blütenlosen Massen der Baumwipfel war das Heer der Sterne in reicher, strahlender Stille aufgezogen. Ganz fern zur Linken schimmerte noch Weißes, – wohl Magdas Kleid.

Renate dachte, daß sie das grüne Fenster von unten gesehen haben müsse, wie sie selber immer wieder leise betroffen von seiner Stille im Schweben, und es wurde ein alter Vers in ihr wach, – vielleicht summte auch Magda ihn im Gehen vor sich hin, sie kannte ihn ja:

Gottesauge still und klar
Zwischen dem Gezweige!
Wandellos im Sternenjahr,
Dulde, daß ich wandelbar
Meine Seele vor dir neige,
Die verzweifelt war …

Bist du nun am Land, Kind? dachte Renate. Du bist es, ich weiß. Deine Gedanken gehen kleine Wege, wie deine Füße im wohlbekannten Garten von selber sich durch das Dunkel finden; gehen ein Stückchen neben Georg, laufen zu Bogner, der unbekümmert um das musikalische Getöse hinter seinem Rücken vor seinem Wandstück sitzt und mit Kohle Landschaft und Gestalt in den großen Linien festhält. Du brauchst deine Gedanken, die dir nicht mehr weh tun, wenn sie sich nur bewegen, nicht mehr zu hüten; es giebt kein Hinaus mehr aus der wunderbaren, nur mit Gottes Hülfe zu begreifenden Schmerzlosigkeit, die all deine Poren erfüllt …

Sie atmet leicht, sagte Renate, ich weiß es. Ihre Gedanken halten sich ans Geschaute, rühren an die alltäglichen Vorgänge, an Menschen und Dinge umher nun mit einem sicheren Gefühl und machen sie milde. Nein, es gab nichts Hartes mehr für sie; ein wenig schattenhaft war alles geworden, ein unveränderliches Abendrot von unirdischer Gläubigkeit ruhte am Himmel aus, von dem die sehnsuchtslosen Schatten ein sanftes Dasein bekamen; da mußten alle Stimmen leiser gehn, auf den Gesichtern lag das starke, aber milde Leuchten des Sonnenscheidens, – hatte sie ihr selber nicht einmal gesagt, wie durchsichtig die Gesichter ihr schienen, bis ins Innerste der Gedanken; von ihrem eignen, Renates, Antlitz hatte sie es gesagt und hinzugefügt, was sie Saint-Georges einmal von ihm hatte sagen hören: Niemals kann es welken …

Da war sie schon wieder bei sich. Ein halbes Jahr jünger war die Freundin als sie und schien älter fast um zehn Jahre. Sie aber stand im Anfang ihres Herzens und – Renate richtete sich auf und ging durch das dunkle Zimmer hinaus.

Im Treppenhaus blendete sie das grelle Licht, und als sie durch das erleuchtete Verandazimmer gehen wollte, erschrak sie plötzlich vor einer schönen und großen Gestalt, die auf sie zuschritt in einem großen, dunkelgrünen Kleide, – bei Gott, sie selber wars, vor der sie erstaunte, die aus dem Empirespiegel auf sie zugeschritten kam. Sie blieb stehn, lächelte verzweifelt zu der drüben hin und spottete sie an: Ist es wohl nun zu begreifen, daß du hier herumgehst so groß wie ein Pferd, und kein Mensch sieht dich? – Achselzuckend trat sie an den Tisch; dort standen Früchte in Schalen, Brombeeren und Himbeeren, auch Bananen und mächtige Trauben von schwarzblauen Beeren. Von denen nahm sie eine in jede Hand, drückte sie zu beiden Seiten unterm Kinn gegen den Hals, trat so vor den Spiegel, aber das half alles nichts, im Gegenteil dachte sie, daß ihre Augen genau wie die Weinbeeren aussähen, und das ärgerte sie irgendwie, sie warf eine der Trauben wieder auf den Teller, erschrak aber und sagte: Nun mußt du sie auch essen, warum hast du sie angefaßt! – Warum nicht? Gerne! – So schlenderte sie auf die Veranda, nachdem sie der Verschwendung des elektrischen Lichts Einhalt geboten, sah ins Dunkel, aber es war niemand zu sehn. Sie trat an die Brüstung, legte eine der Trauben darauf, lehnte sich gegen den eisernen Pfeiler ins Rebgewind und fing an, Beere um Beere sachtsam ablösend, zu essen, und nach einer Weile, als ihre Hand sich mit den Schalen füllte, die folgenden in den Garten zu spucken. In diese Aufgaben vertieft, angenehm durchtränkt von dem süßen Saft, als ob sie Beeren aus Nachtkühle äße, hörte sie Schritte unten auf dem Sande, blickte auf und sah Jason al Manachs Schattengestalt und weißes Gesicht unverkennbar um die Hausecke kommen. In der Nähe der Stufen zur Veranda blieb er stehn und sagte: »Guten Abend.«

In der Meinung, er habe sie erblickt, wollte sie gerade antworten, als sie unter sich Magdas Stimme: »Guten Abend, Jason!« sagen hörte, und sich überneigend gewahrte sie richtig Magda, die auf der Bank dicht unter der Veranda saß. Jason ging zu ihr und setzte sich neben sie.

Eine Weile blieb alles still. – Ich habe Lust, dachte Renate, hier stehen zu bleiben und zu hören, was sie reden. Vielleicht reden sie von mir. Vielleicht reden sie von Bogner. Sicher reden sie irgend etwas Gutes. Es muß angenehm sein, hier in der Nachtkühle zu stehn und gute Dinge zu hören, die im Dunkel beredet werden.

»Nun, Jason, woran denkst du wohl?« hörte sie Magdas Stimme.

»Woran möchtest du denn, daß ich denke?« kam es freundlich zurück.

»Wie ich vorhin im Garten herumging, mußte ich viel an Ulrika denken. Sie kommt mir so verwandelt vor. Was mag mit ihr sein?«

Minutenlang herrschte Stille. »Ulrika Tregiorni,« hörte Renate Jasons Stimme ganz langsam, »Ulrika Tregiorni hatte bis zum Heimkehrtage Benvenuto Bogners, des Malers, niemals nachgesonnen über das Leben, seine Gewalt und Verhängnisse, vermochte also nicht zu wissen, daß es Menschen giebt, die eines Tages aus weiter Ferne herkommen, vielleicht um in ein Haus zu treten und zu jemand zu sagen: Tue dies! und wieder fortgehn, keiner weiß wohin, und unbekümmert um Verwirrung oder Zerstörung, die sie angerichtet haben mögen und hinter sich dort zurücklassen, wo Ordnung und gelassene Zufriedenheit das Gesetz aller Tage gewesen war.«

»Wie sonderbar du sprichst, Jason!« klang Magdas Stimme. »Als ob du eine Geschichte anfangen wolltest.«

»Sind wir nicht Alle Geschichten?« sagte er leise und sprach weiter: »Dies wußte sie nicht. Ihre kühlen, beschränkten Mädchenaugen hatten nie mehr als den Glanz gerader und gefälliger Oberflächen erfaßt; und sie hatte es nicht anders gekannt, als daß alle Dinge, zwischen denen sie aufgewachsen war, ihr dienten und ihr weiterdienen und mit ihr gehn und sich nie verändern würden, so wie sie selber einfach und geraden Weges aus einem Kinde ein Mädchen und Weib geworden war, das den natürlichen Gang des Geschehens auch darin erblickte – – nun, Ulrika, du kannst fortfahren, auch darin erblickte …« Richtig, da stand ja Ulrika Tregiorni, weiß gekleidet, im Dunkel vor den Beiden. »Spracht ihr von mir?« fragte sie. »Worin soll ich was erblicken, Jason?« Damit wurde sie für Renate unsichtbar; sie setzte sich wohl auf die Bank, zwischen die Beiden, kam es Renate vor.

»Ich sagte,« wurde Jason wieder hörbar, »es sei außerordentlich natürlich für dich gewesen, eines Tages zu heiraten.«

»Ach, Jason, ist heiraten natürlich oder unnatürlich vielleicht?«

»Unnatürlich, Ulrika, ganz gewiß, denn man spricht von natürlichen Kindern.«

Renate, während die unten herzhaft lachten, biß sich auf die Lippen, um nicht laut zu werden.

»Ist Bogner in der Kapelle?« fragte Ulrika. Einer von den beiden Andern mußte wohl genickt haben, denn sie sagte gleich darauf: »Er muß morgen wieder in die Haide, ich weiß nur noch nicht, wie ichs anstelle, er sieht ja schauerlich aus. Ich werde ihm alle Pinsel in Ölfarbe stecken.«

»Du bist doch ein glücklicher Mensch, Ulrika«, sagte Jasons Stimme.

»Hünde,« sagte Ulrika, »Hünde, hörte ich einmal ein kleines Mädchen sagen, sind doch glückliche Menschen!«

Es gab wieder ein kleines Gelächter. »Glücklich?« kam nach einer Weile Ulrikas Stimme. »Ja, da fand ich Hölderlins Gedichte oben auf dem Tische und darin die Worte, – er sagt vom Menschen: »Daß er verstehe …« Wie heißt es genau, Jason?«

»Alles lerne der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für alles lern'
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.«

Wieder war es still unten. Ulrika sagte, ein wenig leiser als zuvor: »Wie sonderbar du das betonst: daß er ver stehe die Freiheit! Ganz so sagte mirs Bogner, als ich mit ihm darüber sprach. Und ich begreife noch nicht recht, daß Freiheit etwas so Sichtliches –, wie soll ich sagen, so einfach Vorhandenes sein soll, daß auf das Verstehen das meiste ankommt. Aber es wird schon so sein.«

Jason sagte: »Die Freiheit ist das Natürliche, mein Kind, das weißt du doch auch, denn die Natur ist frei, auch du, wie du da geboren bist und mit sämtlichen Gedanken. Wenn du dich einmal unterworfen haben wirst, wirst du auch verstehen, was Freiheit ist.«

Lange Zeit herrschte Schweigen; Renate hörte den Nachtwind in den Bäumen oben, dann tiefer unten. Es rauschte, bald hier, bald dort; es kam kühler aus der Tiefe. Eine leise Frauenstimme sagte dort gedankenvoll: »Ja, so meinte er es wohl«, ohne daß Renate erraten konnte, ob die Stimme den Dichter meinte oder Bogner. Jetzt war alles still, ein kleines Gelächter Ulrikas ward hörbar, und sie sagte:

»Eben fällt mir etwas so Nettes von ihm ein.« (›Ihm‹ sagt sie, dachte Renate betrübt, als ob es nur den Einen gäbe.) »Als wir neulich in ein Dorf marschierten und der Maler gerade mit seinem ungeheuren Baß eine schauerliche Musik machte, kam uns ein winziges kleines Mädchen entgegen, blieb bei unserm Anblick, andachtsvoll den Finger im Munde, stehn, rannte plötzlich aus Leibeskräften auf den Maler zu, der es anguckte, und hatte ihn schon bei der Hand erwischt, was er aber, immer herrlich singend, gar nicht recht zu merken schien; er schleppte es so am Zeigefinger mit sich, es trabte eifrig, da stolpert' es, fiel hin und erhob ein so jämmerliches Geschrei, daß er es schleunig auf die Arme nahm. Was nun kommen sollte, wußte er augenscheinlich nicht, aber das Gesicht des Kindes – es war kränklich und schmutzig mit übergroßen braunen Augen – blieb mitten im Weinen stehn, und als er sich nun mit einem beruhigenden Gemurr darüber beugte, wurde es ganz still und sah ihn an. – Ich weiß nicht, was er da gesehen haben mag, aber später zeichnete er das Gesicht des Kindes in sein Buch aus dem Gedächtnis, und es war sonderbar, während er zeichnete, hatte sein Gesicht denselben Ausdruck wie vorher, als er das Kind anblickte, so daß es ruhig wurde und ihn ernsthaft ansah. Es läßt sich nicht sagen … Er lächelte ein wenig, und von Güte, von Beruhigung, von Väterlichkeit, von Verständnis, von all dem war etwas darin.«

Einen Augenblick, nachdem sie geendet hatte, setzte die Musik in der Kapelle wieder ein mit einem schwunghaften Angriff aller Instrumente, deren jedes deutlich zu unterscheiden war, Klavier, die Geigen zusammen und die knarrende Stimme des Cellos. Renate hörte zwar wieder Sprechen nach einer Weile, doch war nichts zu verstehn. Sie wollte schon hinunter gehn, aber die Musik brach plötzlich ab, und Ulrikas Stimme wurde hörbar. –

»Nein, nie! Davon spricht er scheinbar höchst ungern, und ich habe ihn beinah im Verdacht, daß er mit seinem Schweigen bloß seine Dummheit bemänteln will, aber …« Sie lachte und fuhr fort: »Ich versuche es ja immer wieder, auf den verzwicktesten Umwegen ihn dazu zu bringen, aber kaum daß ich ihn habe, wo ich will, beweist er mir einen gräßlichen Irrtum und sagt: Da denken Sie nun mal schön darüber nach!«

Renate riet noch, um welch geheimnisvolle Sache es sich wohl handeln möge, als derselbe Angriff der Musik wieder aufbrach, so daß sie nichts mehr verstand. Nun wartete sie nicht ohne Ungeduld auf das Ende des Satzes; er war nicht lang, wie sie wußte.

Endlich war es still, aber auch im Garten herrschte Schweigen. Ein wenig übergebeugt, sah Renate alle Drei unten sitzen, Ulrika in der Mitte, die Hände um das übergeschlagene rechte Knie gefaltet. Gleich darauf sagte sie:

»Aber wie ich schon sagte: Nachdem ich ihm die schwierigsten Sachen vorgeführt, Technisches und Handwerkliches, den Orgelpunkt und auch Kontrapunktisches, soviel ich davon weiß, meinte er, es bestehe nicht der geringste Zusammenhang.« Womit denn nun? dachte Renate verzweifelt, ich muß doch hinuntergehn, – während Ulrika weitersprach: »Alle Künste, sagte er am Ende, sind so völlig voneinander getrennte Gebiete wie die fünf Sinne, wenn sie auch alle an derselben Stelle verankert sind. Und seht ihr, so macht er's nun! Mir fiel nämlich ein, daß es ja auch fünf Künste giebt, wie fünf Sinne, und ganz geschwind setzte ich ihm auseinander, wie das sich auch entspräche, denn Gehör und Gesicht haben ihre Kunst, auch der Geschmack, sicherlich, denn die Kochkunst und ihr Genuß, wenn ihr's euch richtig vorstellt, ist eine wahrhafte Kunst, wie das Dichten und Gedichtegenießen; für das Gefühl steht die Dichtkunst, innerlich und äußerlich, denn unsre Sprache ist doch die Vermittlerin unseres Fühlens; nur der Geruch habe keine Kunst entwickelt, sagte ich, und das entspricht nun genau der Architektur, die auch keine Kunst an sich ist, sondern im Zweck wurzelt, versteht ihr, wie ich es meine? Der Geruch ist uns ganz Mittel geblieben, während die andern Sinne sich doch über ihre Zweckmäßigkeit zu reinem Empfinden, zum Genuß des Schauens und Hörens entwickelt – ist es nicht so?«

»Was für ein kluges Mädchen du doch bist, Ulrika!« sagte Jason.

»Das hat er auch gesagt,« versetzte sie gleichmütig, »und dann meinte er, es wäre alles Unsinn, und nun sollte ich mal drüber nachdenken, – ich sagte ja, so macht er's.«

»Hast du schon?« fragte Jason.

»Was?«

»Nachgedacht?«

»Noch nicht, aber vielleicht hilfst du mir!«

»Gerne,« sagte Jason, »aber nun fängt die Musik wieder an, und Renate versteht kein Wort mehr.«

»Renate?« fragte nach einer Weile Ulrika verdutzt. –

Renate lehnte sich über die Brüstung.

»Jason, du schmählicher Verräter!« sagte sie leise.

Die beiden Frauen wandten die Gesichter herauf, auch Jason langsam. »Hast du uns wahrhaftig belauscht?« rief Ulrika.

»Wahrhaftig. Es war so schön, hier oben zu stehn und euch sprechen zu hören. Der Wind rauschte, aber die Musik war vorhin wirklich zu laut. Nun sind sie ja am Adagio, und Jason kann ruhig weitersprechen. Auf eurer Bank ist ja sowieso kein Platz mehr. Los, Jason, was wolltest du sagen?«

Ulrika flüsterte Magda etwas zu, dann flüsterte Magda, dann waren sie still, und Jason fing an.

»Was denkst du eigentlich vom Tanzen, Ulrika?« fragte er, »ist das keine Kunst?«

Ulrika schien betroffen. »Wenn man will …« sagte sie endlich zögernd.

»Nun, wolle nur!« redete Jason ihr zu, »und denke auch gleich einmal an die Mathematik. Nicht an die angewandte, die du so kennst, sondern die reine. Und Reiten, wie steht es damit? Ist es keine Kunst, mit einem Tier so zu verwachsen, daß es keinen Willen mehr hat als dessen, der es lenkt? Und bedenke, was nötig war! Es muß doch Jahrhunderte gedauert haben, bis das Pferd so weit gebracht war, und gleichzeitig wurde obendrein das ganze Pferd umgewandelt und aus einem kleinen, bösen Vieh ein großes, seelengutes Tier. Für Gefühl hast du die Dichtkunst einfach eingesetzt, aber mir scheint, die Tanzkunst entspricht dem noch viel einfacher, da sie die empfangenden Nerven an die bewegenden anschließt, innere Wollust in erleichtertes Bewegen auflöst und wieder auf die Sinne zurückwirkt, betäubt und befreit, – und was meinst du, wäre ein tieferer Zauber aller Künste als eben der, zu betäuben und zu befreien, im Wechsel auf und nieder?«

»Mit dem Reiten«, sagte Renate von oben, »scheinst du mir zu übertreiben, aber das tat nach meinem Gefühl auch Ulrika, ich konnte es bloß nicht sagen vorhin, mit ihrer Kochkunst. Nur mit der Mathematik magst du recht haben, ich weiß nur nicht ganz, wie.«

»Ich will es erklären«, sagte Jason.

Ringsum war alles still. Jason sagte: »Was, meint ihr, ist denn nun Kunst? Ja, nun müßt ihr meine Worte recht verstehn, denn nun will ich vom Allerfeinsten reden, vom Gefühl, vom Empfinden, und das ist, als ob ich Seifenblasen mit Handschuhen anfassen wollte. Aber doch scheint mir ›Heilen‹ das beste Wort. Kunst ist Heilkunst. In Heilkunst liegt Heilkunde zuerst, nicht wahr? Und Mathematik ist Zahlenkunde, da habt ihr schon einen kleinen Zusammenhang. Und nun denkt euch einmal ein Kunstwerk, eine Dichtung oder eine marmorne Figur, wie sie dasteht, wie sie einfach ist, wie sie klar ist, so leicht zu begreifen, so unweigerlich, so sichtlich und mit den zehntausend unsichtbaren Verknüpfungen in ganz unbekannten Schächten eurer Seelen verankert, euer Dunkel erhellend im Augenblick und tiefer vertiefend, – und nehmt dagegen eure Welt, alle Verworrenheit, alle Irrtümer, alle Unkunde, alles ewig Schmerzliche, den Tod und die Wege der Liebe, Trübsinn und Weisheit, Erraten und Verfehlen, Schwinden und Funkeln, Erstehn und Verfallen, die ungeheure Gesetzlosigkeit, die unzählbaren Ahnungen, – und wieder blickt nun zurück! Da stehen mitten in dieser traurigen, zerrissenen, unbekannten Welt zwei Dinge: die Zahl – und das Werk. Beide innig verbunden durch eins: Harmonie. Gott machte die Sterne, wir aber machen schöne Werke immerhin, die uns erfreuen, die, wie sie auch sein mögen, heiter und tragisch, bitter und schwer und voll Elend geschilderten Jammers, doch den tiefen Glanz der Ordnung haben, des Selbstgewollten, des Geregelten, der Harmonie. Den Schein immerhin von etwas Absolutem, das tiefe Feuer der Notwendigkeit, denn mußte nicht Kunst kommen? Mußte sie nicht, wie eines Tages die Zahl entdeckt wurde, daß sie sei und gelte allgegenwärtig? Heilkunde trägt die Kunst; unsre immerwunde, betrübte, seelenkranke Herzenswelt heilen wir mit dem schönen Werk, ja den Tod heilen wir und heben ihn auf mit dem unvergänglichen, dem unsterblichen, dem ewigen Werk. Und Heilkunde, Heilkunst ist auch die Mathematik, weil sie nach dem Reinen strebt, weil sie Gesetze erkennt, und so ein jedes Betreiben, ein jedes irdische Geschäft, das über irgendeinen alltäglichen Zweck hinausgeht gegen das Ewige; das mehr will als Menschliches, mehr als sich selbst, das Unabhängigkeit will, eignes Wirken, Freiwilligkeit, Freude, denn am Ende ist dies doch wohl das gute, einfache Wort.«

Jason schwieg, still blieb es im Garten, in der Nacht, bis mit so erschreckender Plötzlichkeit aus der Tiefe der Büsche die Stimme des Cellos, tief und inbrünstig, einen stürmischen Seufzer aushauchte, daß alles umher zusammenzuschaudern schien. Renate fühlte im Augenblick die Erinnerung an die Stunde vor dieser, oben in ihrem Zimmer, in sich heraufschießen mit einem so unermeßlichen Schmerz um Bogner, daß sie glaubte, es nicht ertragen zu können. Aber der Schmerz ebbte langsam und schwand später. Renate fühlte ihr Haar wehn auf der Stirn, kühle Atemzüge strichen über ihre Wange, ihre Stirn, den Hals, es rauschte allenthalben in der Nacht, es bewegte sich, Ulrika stand groß und weiß unten, die Hände im Nacken gefaltet, das Antlitz emporgerichtet. Die andern Instrumente hatten den Seufzer längst mit Beruhigung und Verschleierung in ihre sanftere Gemeinschaft zurückgezogen, gleich darauf verstummten sie nacheinander, der Garten lag schweigend.

Hinter Renate im Saal flammte das Licht auf, nach Augenblicken wurde Esther sichtbar, hinter ihr Georg, aber sie sahen Beide Renate nicht. Esther lief die Stufen hinunter, Georg folgte langsamer quer über den Rasen. So verließ Renate ihren Platz, schritt die Stufen abwärts, fand unten aber nur noch Magda, die ihr entgegensah. Jason war verschwunden. Ulrikas Gestalt entfernte sich zwischen dem Buschwerk nach der Kapelle hin. Renate, in unbestimmte Gefühle verloren, hörte Magda fragen, ob Obst im Zimmer stünde, nickte nur freundlich und ging weiter.

In der Kapelle herrschte Vergnügtheit. Esther stand da, drehte sich, als sie Renate hörte, zu ihr, rief »Fertig!« und schwenkte einen herrlich glitzernden Kissenbezug. Ganz rechts in der Ecke hockte der Maler vor seinem Wandstück und rauchte. Über den Pulten und am Klavier, wo Benno glücklich saß, brannten rötlich die vielen Kerzen, Ulrika und Irene haschten nach Esthers Kissen. Ja, und der Prinz und Saint-Georges und Sigurd waren ja auch da. Gleich darauf erschien Magda mit den beiden Schalen voll Obst, und alles stürzte sich auf sie. Renate sah Ulrika eine Handvoll roter Himbeeren greifen und damit hinter den Maler schleichen. Über seinem Kopf hob sie die Hand empor und ließ die Beeren fallen; eine blieb in seinem Haar hängen, er faßte, völlig geistesabwesend das Gesicht herumdrehend, mit einer Hand danach und zerquetschte sie grausam. Was er zwischen den Fingern behielt, betrachtete er nachdenklich, bis Ulrika kam und ihm unter vielen Entschuldigungen mit ihrem Taschentuch die Finger putzte.

Erst als Esthers Kissen ihr an den Kopf flog, endete Renates Verwirrung.


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