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Sechstes Kapitel: Oktober

Abschied

Georg, mit Sigurd aus der Universität herübergekommen, der ihm an diesem Wochentage eine Stunde lang zwischen zwei Vorlesungen Gesellschaft zu leisten pflegte, fand sein schönes Zimmer hell im vollen Licht der Sonne, obgleich sie, noch die Fenster nicht erreichend, nur über den Herbstgarten sich ausgoß. Aus den Nischen zwischen den Bücherregalen flammten die mächtigen Farben der Oktoberblumen: gelbe Dahlien und weinschwarze, schneeweiße Lockenhäupter der Chrysanthemen, violette Asternsträuße, und stämmige Büschel rotgeflammten und gelben Laubes.

»Sie haben,« fragte Georg schläfrig und etwas verdrossen, da Sigurd, ohne von alledem etwas zu sehn, seine Mappe in einen Sessel gleiten ließ und zu den Büchern ging, »Sie haben wohl nie bemerkt, daß das Jahr mit denselben Farben beginnt und schließt.«

»Davon versteh ich nichts, Georg«, bemerkte er nur, seitwärts den Kopf tief hinunter beugend, um einen Titel im untersten Fach längs des Buchrückens zu lesen.

»Nämlich gelb und violett. Gelbe und violette Krokus, Primeln, Veilchen und Narzissen, und Astern und Sonnenblumen im Herbst.«

»Schön. Wills mir merken«, murmelte Sigurd und schob die Unterlippe vor, zog plötzlich ein schmales Buch heraus, blies über den Schnitt und klappte es auf. »Kassner,« sagte er. »Von den Elementen der menschlichen Größe. Das kenn ich noch nicht. Würden Sie mirs leihen?«

»Gern.« Georg rollte stöhnend einen Sessel über die Teppiche, gab ihm einen Schwung, daß er vor die offene Gartentür flog, rückte ihn zurecht und ließ sich hineinfallen. Seine Zigarettendose und Feuerzeug hervorziehend, murrte er: »Was haben Sie bloß von all den Philosophen! Von Kassner verstehe ich nicht ein einziges Wort. Sie sollten Verse lesen. In drei Zeilen von Rilke steckt mehr Wissen von den Dingen als in – ich weiß nicht was.« Den ersten, tiefen Zug aus der Zigarette in die Lungen schlürfend, dehnte er die Brust empor und sprach mit tiefem Aufatmen:

»Als wäre die Gebärde
einer Mädchenhand
auf einmal nicht wieder vergangen …

Ja das! Und das von dem Panther:

Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille
und hört im Herzen auf zu sein …

Und so tausend andre! Merken Sie denn, wie einen da die Seele der Dinge anhaucht, durch Mark und Bein? Wie sie alle menschlich werden, und in der Vermenschlichung schon halbgöttlich?«

»Die Seele der Dinge?« hörte er Sigurd hinter sich. »Nun, das ist in diesem Falle wohl nicht viel mehr als das Empfinden des Dichters von ihnen.«

»Ich fürchte, Sigurd, unsre ganze Seele ist nichts andres als unser Empfinden von unserm Leben. Sehen Sie mal …« Die Lider halb schließend, blinzelte Georg in die Sonne, »ich meine so: zur Zeit als der Mensch – nämlich der, der er anfangs gewesen sein mag – den Unterschied zwischen seiner Zeitlichkeit bemerkte und dem, – was er damals Ewigkeit nannte; Ewigkeit, nämlich die länger als sein Ablauf scheinende Dauer seiner Umwelt, bis zu Sternen hinauf, – da – nicht wahr – hielt er sie für ewig und gab diese Ewigkeit einem Gott oder mehreren zur Wohnung, wie er selber in der Zeit wohnte. Da stand also der Mensch – gleich Zeit – gegen Gott – gleich Ewigkeit.«

»Schöne Spekulationen«, hörte er Sigurd kurz hinter sich murmeln. »Vorher, meinen Sie, stand bloß Mensch gegen Mensch?«

»Vorher«, sagte Georg, »nahm der Mensch den andern Menschen als Teil seiner Umgebung, – das heißt, ich meine so: daß Mensch gegen Mensch, gegen seinesgleichen stehe, das konnte er erst als Schicksal empfinden, als er seine Einsamkeit und Kleinheit gegenüber der Ewigkeit spürte, so daß dies Gefühl erst wuchs durch jenes.«

»Die Seele also«, fragte Sigurd, »wäre ein – eine Wunde des Daseins?«

Georg versetzte: »Ja, sehen Sie, ich dachte folgendermaßen: der Körper atmet durch Poren, der Geist – durch Wunden. Die Seele ist eine Wunde; die Wunde des Geistes. Ich kam auf andre –«

»Freilich,« hörte er Sigurd erwidern, »die Lust am Dasein, jedes Wollustempfinden ist denkbar, ohne Seele. Erst die feindlichen Empfindungen, das Bewußtsein … Sie wissen ja: ein Hund fürchtet sich beim Gewitter, ohne zu wissen warum … also: das Bewußtsein übernatürlicher Mächte, unverständlicher Gewalten und Peinigungen, das Bewußtsein von allem Schmerzlichen und Zerstörenden, das macht erst den Menschen.«

»Natürlich! das Feindliche!« sagte Georg. »Die freundlichen Naturmächte nahm er einfach und unbedenklich hin, erst die feindlichen rüttelten ihn auf, mit ganz physischen Mitteln: er mußte sich wehren. Lust bringt nichts hervor, Schmerz macht erfinderisch, Schmerz ist zeugend allein. Lust zweifelt nicht, Lust will bekanntlich Ewigkeit, das heißt Dauer – ihr erster Schmerz ist die Ahnung, daß sie enden muß –, Schmerz will Erkenntnis.« Er verstummte, nicht unerfreut über diese Leistung. – Dann, da Sigurd still blieb, bog er sich um die Rückenlehne seines Sessels, entdeckte aber erst nach einer Weile Suchens ganz hinten nur seinen hohen Kopf zur Rechten der Treppe vor den Büchern; das Übrige seiner hockenden Gestalt war hinterm Schreibtisch verborgen.

»Hören Sie mir eigentlich zu?« fragte Georg unzufrieden. Da schnellte er plötzlich zu seiner Länge empor, und Georg mußte lachen, weil er richtig ein Buch aus der Tiefe heraufgetaucht hatte.

»Ja, jetzt weiß ich, wie Sie's machen«, sagte er. »Sie ziehen in jeder Bibliothek die Bücher heraus, lesen Titel und Verfasser, dazu einen Abschnitt auf Seite siebenundvierzig, und dann kennen Sie's.«

Sigurd schmunzelte geringfügig, ohne übrigens so auszusehn, als ob er gehört hätte, ging zum Schreibtisch und setzte sich davor, worauf Georg die Beine über die Sessellehne warf, um ihn im Auge zu haben.

»Wovon sprachen Sie denn eben?« fragte Sigurd, sein Buch aufschlagend.

»Von den ersten Menschen«, erwiderte Georg zweideutig.

»Die im Paradiese,« äußerte Sigurd aufblickend, »wenn Sie die meinen, kannten freilich Gott. Ob sie aber deshalb schon Menschen waren?«

»Gott?« fragte Georg. »Nein. Gott war wohl mehr ihresgleichen. Und sie wußten doch nichts von Zeit, und daß alles einmal enden könnte.«

»Ach, Georg, Sie glauben ja nicht an Gott. Haben Sie übrigens je bemerkt, daß jenes Verbot im Garten Eden, wegen des Apfels, nur an Adam erlassen ist? Neulich fiel mirs auf, als ich zufällig den Text nachlas; Eva war noch gar nicht erschaffen. Wie sollte sie also nachher begreifen? Sie mußte sich einfach auf den Mann verlassen, der es ihr mitteilte, und das gefiel ihr natürlich nicht.«

»Von da an, bis jetzt,« sagte Georg lächelnd, »hat sie sich immer auf den Mann verlassen sollen, aber sie ist immer dagegen angegangen und hat ihn immer zum Essen verlockt.«

Sigurd schien zu lesen. Ich habe doch einmal an Gott geglaubt, dachte Georg angestrengt. An Gott? Ja, an einen einfachen guten Menschengott, – wann war das? Und auf einmal war er fort. Ich wurde konfirmiert, – nein, damals schon, – aber ich entsinne mich doch genau, was für Kämpfe ich seinetwegen gehabt habe, und wie wir Jungens uns stritten halbe Nächte lang – aber, es kommt mir doch vor, als ob schon alles über ihn entschieden war, ehe die Kämpfe begannen. Sie waren mehr der Form wegen, und aus Angst, aber damals fürchtete man sich ja nicht vor der Welt, so getraute man sich schon, es allein, ohne Gott, mit ihr aufzunehmen. Da wars um Gott geschehn. Wann aber glaubte ich wirklich an ihn? – Als ich noch rot werden konnte, durchfuhrs ihn, und er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. Ich erröte ja noch! dachte er – nein, nein, dies ist ein andres Erröten, ich erröte vor mir selber; ich meinte aber das Erröten vor der Welt, in der Gott war, das Erröten, das von Gott kam, nicht dies aus mir selber. – Jetzt klappte Sigurd sein Buch zu, legte es auf den Tisch und sagte:

»Außerdem, fällt mir ein, steht auch von einer Strafe nichts im Buche. In der Bibel, mein' ich. Er sagte nur: ihr dürft nicht. Hätte er gleich zu Anfang gesagt: dann werdet ihr ausgetrieben –«

»Dann«, sagte Georg, »würden sie sich wohl auf den Apfel gestürzt haben!«

»Wie?« fragte Sigurd zerstreut und sprach weiter: »Er verbot nur, wie sollten sie das verstehn? Adam sagte es Eva, worauf sie vermutlich gedacht haben wird: Verboten hat er es zwar, – aber wenn ichs doch tue? – er hat doch gesagt, er wäre ein lieber Gott … Und Adam dachte: Was wohl geschehn wird, wenn … Sehn Sie, er konnte ja nicht anders, er mußte zweifeln, ihm konnte nichts genügen, ihn hungerte nach Erkenntnis, nach dem Apfel, nach Schmerz … Sie sehn, es kommt auf das selbe hinaus.«

Georg, mitgerissen, sagte nachdenklich: »Und schon kam die Angst – Gott hatte noch nichts gesagt! – sie versteckten sich.« Plötzlich wieder in seinen eignen Gedanken, sagte er langsam: »Er muß ganz rot geworden sein, als er aß.«

»Wie meinen Sie?« fragte Sigurd. Georg besann sich; Sigurd, das Gesicht in den Händen, sah auf den Teppich.

»Das Verstecken«, sagte er, »war eine Dummheit. Schuldgefühl verdammt von vornherein. Die Frauen, wie Sie schon sagten, glauben an einen liebenden, verzeihenden Gott – nämlich deshalb, weil sie ihre Schuld gern für geringer halten, als sie ist, denn sie können nicht abwägen –, der Mann an einen gerechten Gott.«

»Nach dem Talmud«, versetzte Georg.

Sigurd schwieg. Nach einer Weile, sich aufrichtend, ohne Georg anzusehn, bemerkte er, das wären so deutsche Unterhaltungen …

»Wieso?«

»Der Deutsche redet am liebsten von Dingen, von denen er zwar nichts versteht, an denen sich aber sehr viel raten läßt, herumraten.«

»In Rußland allerdings«, biß Georg zu, »wird nur von Rußland geredet. Und wissen Sie,« lachte er, »was das Deutscheste an unserm Gespräch ist?«

»Nun, sagen Sie's schon.«

Das Telephon zirpte, Georg erhob sich. »Daß wirs hinterher kritisieren; oder wenigstens feststellen, wovon es gehandelt hat. Nun können wir ja noch –« Das Telephon zirpte abermals – »feststellen,« sagte Georg, indem er hinging, »daß wir festgestellt haben, daß der Deutsche gern feststellt –« Lächelnd den Hörer abnehmend, über den Tisch gebeugt, sagte er: »Georg Trassenberg.«

»Grüß Gott, Georg,« hörte er Esthers Stimme, wie es schien ein wenig matt. »Ist Sigurd da?«

»Grüß Gott, Esther! Ja, er ist hier. Wie gehts Ihnen denn?«

»Danke …« Das kam zögernd; danach nichts mehr.

»Augenblick, Esther!« Georg reichte den Hörer an Sigurd, der noch am Tische saß.

»Ja, Esther. – – Nein, ich wollte heute erst später kommen. Was ist denn?« – – Georg wanderte langsam bis vor den Pensieroso, Sigurd weiter hörend in Pausen: »Du sollst kommen? – Ja, dann fahr doch.«

Georg – sonderbar härtlich hatte das Letzte geklungen – wagte es, den Kopf ein wenig zu drehn, allein Sigurd – er war aufgestanden – drehte sich fort.

»Natürlich mußt du fahren.« Das klang wieder wie immer, kurz angebunden, – doch so war er. »Nach Hamburg erst? Ja, natürlich, sie warten ja darauf. Wie? Sie warten darauf, sag ich. Wann geht denn das Schiff?« Georg zuckte zusammen. Schiff? – Er lauschte mit wildem Herzklopfen plötzlich, doch kam nun endlose Zeit nichts, und er stand, flimmernd Buntes und Grünes vor den Augen, gemartert von der unhörbaren Stimme in der Ferne, die alles sagte. Endlich hörte er Sigurds Stimme wieder.

»Ja, dann wirds am besten – wie? – am besten wirds übermorgen – ja, Fräulein, ich spreche noch!«

Wieder alles still. Also nach Amerika. Fort. Einfach fort. Esther. Das war unmöglich. – Georg hörte seinen Namen, dann deutlich Sigurd, der ihn ans Telephon bat.

»Ja, was ist denn, Esther?«

»Mein Verlobter hat geschrieben, Georg. Er wartet ja schon seit einem, seit dreiviertel Jahr bald. Und er schreibt von einem Schiff, das ich benützen soll, – es fährt Mitte nächster Woche, und –« Georg glaubte, sie Atem schöpfen zu hören. »Und nun erwarten Verwandte von uns in Hamburg, daß ich sie erst noch besuche. Also –« Ihre Stimme erlosch, raffte sich dann wieder auf. »Also werde ich wohl übermorgen fahren. Dann hab ich noch morgen den ganzen Tag zum Packen und –« Es kam nichts mehr.

»Ja, Esther, wenns sein muß. Was kann man da machen?« Böse, einen Stich im Herzen, fuhr er gleisnerisch fort: »Es tut mir nur leid, daß ich Sie dann nicht zur Bahn werde bringen können. Morgen muß ich fechten, und das wird ziemlich schlimm werden, ich – ja, ich kann Ihnen das so nicht gleich erklären, warum. Dann –« seine Brust zog sich zusammen – »dann sehn wir uns wohl gar nicht mehr.«

Keine Antwort. – »Sind Sie noch dort, Esther?«

»Ich – ich könnte ja heute noch – – wenns Ihnen recht wäre … Ich habe jetzt Zeit.«

»Aber natürlich, Esther, herrlich! Also kommen Sie? Auf Wiedersehn! Wollen Sie Ihrem Bruder noch – – Sind Sie noch dort?«

Georg legte, schwer atmend, den Hörer auf, sammelte sich und sah sich nach Sigurd um. Er saß auf der Lehne von einem der Sessel in der Kaminecke, den Kopf gesenkt; das Gesicht war heiß, die Augen finstrer als je. Langsam, die Lippen vor und hin und her schiebend, fing er an zu sprechen.

»Einmal mußt's ja sein. Nun ist's zu spät.«

Georgs Zunge bewegte sich schwer. »Wieso: zu spät?«

Sigurd bückte sich tief, den einen Fuß anhebend, zupfte an einem Faden im Hosenaufschlag und riß. »Um sie zu halten«, stieß er dabei undeutlich hervor.

»Ja, wer kann sie halten, wenn sie heiraten wollen«, witzelte Georg unglücklich.

»Halten kann man sie schon«, äußerte Sigurd verdrossen und sah in die Luft. – Sonderbar! Das war ja fast wie ein – ein Wink? – Indem fiel Georg ein, daß Sigurd ihm doch einmal etwas hatte sagen wollen, in bezug auf Esther. War es das gewesen? – Er? Konnte er sie, hätte er sie halten können?

Sigurd war aufgestanden. »Also auf Wiedersehn, Georg«, sagte er, ihm die Hand hinhaltend, während er mit der andern seine Mappe aus dem Sessel nahm. »Sie kommt ja wohl her. Dann will ich nicht stören.«

»Adieu, Sigurd.« Sigurd stieg die Stufen hinan. »Vielleicht versuchen Sie's doch noch mal selber!« rief Georg ihm nach. – Sigurd öffnete die Tür, schwieg, sagte dann: »Ach was!« und ging hinaus.

Georg stand verstört. Vor sich niederblickend, entdeckte er plötzlich die farbigen Bänder auf seiner Brust, faßte wütend nach dem Porzellanknopf im Rücken unterm Rock, der sie zusammenhielt, zerrte wütender daran, bis er die Bänder endlich losgerissen hatte, schnellte sie hervor, ballte sie zusammen und schmiß sie auf den Tisch.

Wenn morgen, fluchte er, die Mensur nicht wäre, würde ich mit ihr in die Gegend fahren, und niemals käme sie fort, niemals! – O, wie verstört sie war! Warum? Warum? – Er hockte sich in einen Sessel, tat die Stirn in die Hände und fühlte Angst vor der Abschiedstunde. Ja, soll ich, will ich, kann ich sie denn halten? O Gott, liebe ich sie denn nun oder nicht? –

Da war Esther, da Renate. Da waren Renates Schultern, an dem verwünschten Festabend, – das Herz zog sich ihm zusammen. Und da war Esther, wenn sie frühmorgens aus dem Garten kam, kaum sichtbar hinter einer Garbe frohlockender Blumen, und er im Stuhl mit seinem verstauchten Fuß, und die langen, langen Tage. Und dann dies, – war es denn nun eine Dummheit gewesen? Sie kam herein, und er dachte: ich habe sie auf eine ebenso eigenartige wie ganz unschädliche Weise lieb und werde es ihr jetzt sagen. Da stand sie in der Tür zum Garten, lächelte zu ihm hin, und er nickte und lachte aus seiner Ecke, und wie sie die ganze Last von – Päonien oder Stockrosen, oder was es nun war, auf den Schreibtisch niederwarf, sagte er, nein, da rief er sie zu sich, nahm ihre Hände und sagte, nicht ohne starkes Herzklopfen und das deutliche Gefühl, er solle es lieber unterlassen: Eben, kleines Wesen, ist mir was Prächtiges eingefallen. Ich habe Sie so lieb, wie ich nie einen Menschen gehabt habe, auf eine ganz besondre Weise, was sagen Sie dazu? Ist's Ihnen recht? – Auf ihrem Gesicht flog ein sonderlicher Schatten auf, ein – ja ein Lächeln gleichsam auf Stelzen. Sie ließ seine Hände los und sagte: O ja … Sie ging zu den Blumen, nahm eine auf, warf sie wieder hin, nahm eine andre und roch daran, raffte den ganzen Haufen zusammen und trug ihn ins Speisezimmer.

Und danach, eine lange, endlose, atemlose, schreckliche Zeit, während der er sie nebenan gehen und hantieren hörte, Vasen zusammentragen, Stiele abschneiden, vor die Tür und an die Wasserleitung treten, und hörte, wie das Wasser rauschte, dunkel erst, dann heller, aufsteigend in den Gefäßen, saß er und rang mit sich um Unerkennbares im Herzen und sagte sich schließlich nur, damit die Zeit verginge, auf: Sie also auch, sie also auch, – ganz sinnlos, und dann: Da bin ich ja grauenhaft ungeschlacht gewesen. Sie wußte es nicht, und nun weiß sie's.

Also liebte sie ihn? Und wollte doch nach Amerika. Sigurd wollte sie behalten, und er sollte das besorgen. Ja, wie hatte er doch gesagt? Sie hat immer irgendwen geliebt. Er hielt das also für einen Übergang, auch hier bei Georg, und im Grunde liebte sie eben ihn, ihren Bruder, und fand immer wieder zu ihm. Ja, konnten sie vielleicht einander noch in die Augen sehn, nachdem er damals dies zu ihr gesagt? Nein, sondern da war zwischen ihm und ihr eine Wand von Angst, Gefahr und Süße, durch die ihre Blicke nicht zueinander gelangen konnten, außer wenn sie lachten oder viele Menschen zugegen waren.

Eines Tags aber, würgte er weiter, sah ich Renate in einem goldnen Kleid. Das Unterkleid war erdbeerfarben, darüber das Oberkleid vorn offen und nach rückwärts geschweift, so daß es leicht wehte beim Gehn; es war wie Flügeldecken aus goldener, bräunlicher Seide, ach, und ihr Hals, ihr Hals! – Aber dennoch, – wenn ich es formulieren wollte, so wäre es so: Wäre Renate weniger schön, so würde ich sie lieben; wäre aber Esther weniger schön, so würde ich sie nicht lieben. Das soll heißen, daß ich Renate liebe wie einen schönen Gegenstand (zum Beispiel die Venus von Milo), und nur das Zufällige ihrer weiblichen Gestalt und der sexuelle Reiz spiegelt mir ein wahres Liebesempfinden vor. Esther dagegen, – ja, wie kann man nur zwischen Beiden schwanken? Esther war, – o sie war ja klug und alles mögliche, aber eigentlich war sie doch nur ein süßes Wesen, ja ein so süßes Wesen, daß ich eben unwiderstehlich davon verlockt werde, von den braunen Streifen im schwarzen Haar, von der Stelle der Stirn, an der das Haar ansetzt und das krause die kaum sichtbaren Schatten wirft, von ihrem Hals, und der Biegung zum Kinn, und – und was sollte denn daraus werden? schloß er langsam und stand auf.

Er öffnete die Gartentür, trat ins Freie ein paar Schritt vor und ging ins Zimmer zurück, erregter, angstvoller, wartend, daß sie komme.

Renate, schlechterdings, sie war zu einer fürstlichen Stellung geschaffen und gehörte ihm. Er nahm den kleinen Band der Odyssee vom Tisch unter der Lampe, blätterte, suchte und fand die Stelle:

Kai tote dä Kronidäs afiei psoloenta keraunon,
Ka d'epese prosthe glaukoopidos obrimopatras;
Dä tot' Odyssäa prosefä glaukoopis Athänä …

Halblaut übersetzte er:

Nieder warf der Kronide den funkelnden Blitz, daß er hinschoß vor der strahlengeäugten, der Tochter des obersten Vaters. Und zu Odysseus sprach die strahlengeäugte Athene …

Das war sie. Eine Göttin in Menschengestalt, Fürstin, Herrscherin, kluge Beraterin, ein Kunstwerk. – Er schloß das Buch, legte es hin, und nun erschien ihm Renate in ihrem weißen, sommerlichen Faltenkleid mit viereckigem Ausschnitt, eine Kette von rosigweißen Korallen, die tief herunterhing, um den Hals, ohne Gürtel und mit weit offenen Ärmeln. So stand sie in der Kapellentür wie ein Legendenwesen, so saß sie an der Orgel, ausgebreitet, schwebende und gewaltige Stimmen entfesselnd, so war sie, stets würdig, stets Anmut, stets Kühle, eine schöne Weisheit in Frauengestalt. An wen erinnerte sie nur? Lange grübelte er in Büchern herum, endlich begann es ihm zu dämmern, seine Kinderstube erschien, und ein altes Buch, quadratisch, braun, abgegriffen, mit Vignetten, – von Richter? Richilde – stand in verschnörkelter Schrift auf einer Seite, ein Ritter ritt durch eine Landschaft, ein spitzbärtiger Ritter kniete vor einem Walfisch, aus der Kelchblüte einer großblättrigen, stilisierten Pflanze winkte ein elfenartiges Wesen mit einem Schleier nach einem Jüngling, der hinter einem Paar schöner, weißer Stiere schritt, – Libussa. – Flugs stieß Georg einen Sessel zur Seite und langte das Buch tief unten aus einem Regal, wiedererkannte es freudig, schlug es auf und fand nach einigem Blättern und Verweilen die Geschichte Libussas, der Elfentochter, der späteren Herzogin von Böhmen, welche die drei höchsten Güter in sich vereinte, nämlich Weisheit, Schönheit und Reichtum; und Libussa hatte in ihm als Knaben jenes Gefühl erweckt, das ihm jetzt von Renate auszugehn schien: sie war ihm zu makellos und wandellos, zu hoheitsvoll, zu leidenschaftslos erschienen, zumal gegenüber den kriegerischen Werbern, – ja, wollte Esther denn noch immer nicht kommen? Wenn ich lese, dachte er, wird sie gleich hier sein, setzte sich und las, und es stellte sich heraus, daß jenes Knabengefühl ganz ungerechtfertigt gewesen war, denn liebte Libussa nicht den Primislav, sieben Jahre getreu, und sandte ihm endlich ihr weißes Leibroß, um ihn zu holen und zu ihrem Herzog zu machen? – Ein rechtes Märchen, aber bei Renate und mir ists ja umgekehrt. – Folgende Stelle las er mit Vergnügen:

›Libussa hatte nicht den stolzen, eiteln Sinn ihrer Schwestern. Ob sie gleich die nämlichen Fähigkeiten besaß, in die Geheimnisse der Natur einzudringen und sich ihrer verborgenen Kräfte zu bedienen: so genügte ihr dennoch an dem Anteil der wunderbaren Gaben aus der mütterlichen Erbschaft, ohne solche höher zu treiben, um damit zu wuchern. Ihre Eitelkeit erstreckte sich nicht weiter, als auf das Bewußtsein ihrer Wohlgestalt, sie geizte nicht nach Reichtum, wollte weder geehrt noch gefürchtet sein wie ihre Schwestern. Wenn diese auf ihren Landhäusern herumtoseten, von einer rauschenden Freude zur andern eilten und den Kern der böhmischen Ritterschaft an ihren Triumphwagen fesselten, blieb sie daheim in der väterlichen Wohnung, führte das Hausregiment, erteilte den Ratfragenden Bescheid, leistete den Bedrückten und Preßhaften freundlichen Beistand, und das alles aus gutem Willen ohne Entgelt. Ihre Gemütsart war sanft und bescheiden und ihr Wandel tugendsam und züchtig, wie es einer edeln Jungfrau ziemt.‹

Auch dieser Satz gefiel ihm sonderlich: ›Sie nahm mit bescheidenem Erröten die Herrschaft über das Volk an, und der Zauber ihres wonniglichen Anblicks machte jedes Herz ihr untertan.‹

O Himmel! dachte er aufseufzend, wenn ich Herzog bin, wird dann alles anders sein? Wer ist denn zur Herzogin hier geeignet, sie oder Esther? – Er lachte fast, hielt kaum rechtzeitig inne.

Das Licht hatte sich verändert draußen, die Schatten waren tiefer und länger geworden, Esther kam nicht. Georg, immer angstbeklommener vor dem, was kommen sollte oder könnte, trat wieder in die Tür zum Garten, der windstill, tief beschattet bei sinkender Sonne, tiefgrün mit schönen großen Farbflecken, gelben, roten, glattbraunen, von Birke, Platane und Roteiche, unter dem reinen, erlösten Himmel ruhte. Darin sollte sie nun nicht mehr umhergehn mit ihren kleinen, ein wenig breiten Füßen, kleinschrittig, von denen der rechte bei jedem vierten oder fünften Schritt leicht nach innen schlug.

Indem hörte er hinter sich die Tür, Esther stand drin, sehr blaß, in dem Kleid, das er liebte, von rotvioletter Seide mit Goldborte an Hals und Ärmeln. Sie kam auf ihn zu und gab ihm die Hand, wie sie pflegte, mit ein wenig vorgeschobenem Leib ganz nah herankommend, und murmelte etwas wie: Sigurd hätte ihm wohl alles gesagt.

»Wann geht dann das Schiff?« fragte Georg.

»Mittwoch.«

»Und Sie bleiben erst ein paar Tage in Hamburg?«

»Ja, ich fahre am Sonntag.« »Und morgen«, sagte Georg trübe, »muß ich wieder auf Mensur.«

»Schon wieder?«

Sie hatten sich unterweil in Bewegung gesetzt und schritten langsam den Weg hinunter. Georg hob eine in den Weg hängende Hopfenranke über Esthers Kopf, dachte: Wenn Sigurd gesagt hat, daß sie immer irgend jemand liebte, so heißt das wohl auch, daß sie mich alsbald vergessen wird, – und verstrickte sich derweil in umständliche Erklärungen: daß er seine letzte Mensur im vergangenen Semester schlecht gefochten habe –

»Ach, als Sie so lange mit dem Kopfkissen herumliefen?« fragte sie lächelnd. Sie meinte das schwarze Stück über der Gazekompresse, das er zum heimlichen Gespött aller Freunde wochenlang nicht vom Mittelkopf los geworden war. Er bejahte und fuhr fort: daß die Mensur ungenügend beurteilt worden sei; daß er Reinigung fechten müsse, und nun habe es sich über die Ferien hingezogen, während er doch für dies Semester seinen Austritt geplant hatte, und schließlich würde er morgen einen so scharfen Gegner bekommen, daß – ja also daß sie sich heute wohl zum letzten Male sähen … Dies schien sie gewußt zu haben, denn sie antwortete nichts.

Sie standen jetzt am dunklen Wassergraben; ringsum loderte der Herbst, das unbeschreiblichste Grün, mit Gelb gemischt, lohendes Rot, prangendes Kaisergelb flatterte hoch oben vor der vergoldeten Bläue der Luft; noch höher wehten weißliche Geister aufgelöst durch den Oktoberhimmel. Ach, wie lieblich war ihre verschleierte, huschende Stimme! – Sie sagte, es würde ihr wohl sehr schwer fallen, nicht mehr des Morgens in diesen Garten gehen zu können, und Georg murmelte etwas Unklares von Kalifornien, Palmen und: auch sehr schön … Dann setzten sie sich auf die Bank, die hinter ihnen stand. Esthers Hände lagen im Schoß.

Georg dachte daran, wie er ihre Hand zuerst im Handschuh gefühlt, halb leblos, und wie sie hier mit Jason gesessen hatten, der ihren Handschuh von der Bank nahm und davon sprach. Sie schwiegen. Kein Blatt fiel. Etwas simmte an Georgs Ohr, und eine verspätete Mücke setzte sich auf seine Hand, aber sie sog nicht. Da vertrieb Esthers Linke sie mit einer flatternden Bewegung, die an ihrem Haar endete, und Georg sagte mit einem Versuch zu scherzen:

»Und nun will so ein kleines Mädchen ganz allein über das große Wasser fahren?«

»Der gute Jason«, sagte sie – dies war ihr letztes Lächeln! – »wird mich bringen. Merkwürdig, nicht: Eben traf ich ihn, und er brachte mich hierher. Als ich ihn scherzend fragte, war er gleich bereit, und im vollsten Ernst. Er hätte längst mal nach Amerika gewollt, sagte er.«

Jetzt wird sie in Tränen ausbrechen, dachte Georg und vermied den Anblick ihres Gesichts, sah aber doch, geradeaus blickend, neben sich ihr Profil, ein wenig vorgeneigt, unterm straff zurückgespannten Haar, die Stirn glatt, ganz wenig gerunzelt, das fremdgeschnittene, bewegungslose Auge, den unbeweglichen Mund. – Um nur etwas zu sagen, fragte er: »Warum der gute Jason?«

»Ich weiß nicht«, meinte sie nach einer Weile. »Einmal, das fällt mir ein, wollte er ein Buch auf den Tisch legen, und es fiel daneben. Da sagte er ganz erschrocken: O entschuldige, Buch! – Ich mußte so lachen.«

»Ja, er ist mit allen Dingen, die sich nicht selber helfen können, wie mit kleinen Kindern. Wissen Sie eigentlich etwas aus seinem Leben?«

»Nein, gar nichts.«

»Ich war dabei,« sagte Georg leiser, »als er sich das Leben nehmen wollte, zweimal, und doch glaube ich, daß dies nicht das Schlimmste in seinem Leben war. So wie er jetzt ist, ist er noch gar nicht sehr lange.«

Hörte sie eigentlich, was er sagte?

»Wissen Sie,« begann sie nach einer Weile, – »aber Sie dürfen nicht lachen, – nein, ich meine – – Sie dürfens nicht zu ernst nehmen – –«

»Immer was Sie gern wollen, Esther.«

Sie schwieg.

»Wollen Sie es für sich behalten, dann –« er zögerte – »nehmen Sie es mit nach Amerika.«

»Oh!« stieß sie schmerzlich hervor, beugte sich vor und sah nach oben.

»Schön ist doch der Herbst,« sagte sie dann wie beruhigt, »das sanfte Scheiden.«

»Ja, es wird gut mit uns gemeint.«

Auf einmal schnürte sich ihm das Herz zusammen, er suchte nach gleichgültigen Dingen, fand nichts und bat:

»Was wollten Sie denn eben sagen?« Sich vorneigend wie sie, sah er sie nun an und merkte, daß ihr Gesicht von innen kalt und bleich geworden war.

»Ich wollte sagen,« sprach sie sehr langsam und ohne Betonung, »es muß gut sein, zur rechten Zeit sterben zu können. Ich glaube, der Tod –, ich meine: das Sterben, der letzte Augenblick giebt dem Menschen eine Klarheit, eine Kenntnis, ganz sichere, über Leben und Tod. Gut kann die sein oder sehr schmerzlich. Und die gute wäre, daß man zur rechten Zeit stirbt.«

Sie hatte nun ganz leise und mit rauher, verhauchender Stimme gesprochen, und Georg, obgleich er kämpfte, konnte es nicht lassen, tiefer zu gehn und zu fragen: »Esther, sind wir denn so traurig, daß wir statt vom Scheiden vom Sterben reden müssen?«

Sie stand auf, zuckte mit den Schultern, wie um etwas abzuwerfen, und sagte: »Ich muß gehn.«

Jenseit des Grabens stand eine junge Roteiche, reich mit großen, heftig gezackten Blättern überhangen, rot wie neues Kupfer und so einzeln, daß sie sich zählen ließen; im bläulichen dunklen Wasser unten hing ihr Spiegelbild, umgekehrt, verdunkelt. Uns, dachte Georg mit seltsamer Empfindung, uns und unsre Spiegelbilder sieht von drüben der stille Baum, und nun war ihm, als sähe er selber sich und sie – in dem schön violetten Kleide mit goldenen Borten sie und sich in dem dunkelgrünen Anzug – wie zwei geschmückte Geister in einer elysischen Gegend, weltferne Zwiesprache haltend. Aber, sich umwendend, fand er Esther nicht mehr neben sich und sah sie schon fern zwischen den grünen Büschen den Weg hinunter auf einen Trupp hoher, verdorrter Sonnenblumen und schwarzroter Dahlien zugehn; ihr Gang war nichts als ein notwendiges Bewegen der Füße, aber daran daß der rechte nicht nach innen –, doch, da schlug er nach innen, und nachdem Georg eben gedacht hatte, er müsse sie so weiter und weiter und fortgehen lassen, eilte er ihr jetzt nach, holte sie aber erst im Zimmer ein, wo sie stand und sich umsah.

Eiskalt war ihm am ganzen Leibe, er zitterte, wußte aber gleichwohl, daß er imstande sei, die simpelsten Höflichkeiten zu sagen, redete auch ganz bedeutungslos draufzu, indem er sie bat, sich doch etwas zum Andenken mitzunehmen. Sie bewegte den Kopf langsam hin und her. Gleich darauf sank er tief herunter, ihre Brauen zogen sich wie grüblerisch fest zusammen, doch war es wohl etwas andres, und er konnte es nicht mit ansehn und trat an den Schreibtisch. Mit dem Rücken gegen die Platte gelehnt, sah er, wie sich ihr Kopf langsam wieder hob; sie stand aufrecht und sah ihn an, ohne zu lächeln. Jetzt kommt es! dachte er im Frost, was soll ich jetzt tun? was fragt sie jetzt hinter ihrer Stirn?

Indem fiel ihm ein: Wenn aber nun alles Einbildung ist? Ja, wie, wenn sie nicht meinetwegen so verzagt ist, sondern Sigurds wegen? Sollt' ich so närrisch sein? – Fast ward ihm da leichter; er dachte: also muß es geschehn …

»Esther«, sagte er, nur um nicht zu schweigen, um nicht – –

Und sie kam. Er nahm ihre erfrorenen Hände und legte sie auf seine Brust. Sie blieb, sie würde bleiben, sie mußte, er konnte sie nicht entbehren. – So blickte er in ihre Augen, sah ganz nah die schönen Brauen, sah winzig sein eigenes Gesicht, ganz wenig verschwollen in dieser, in jener schwärzlichen Pupille, und die Reflexe vom Licht, sah die kleinen schwärzlichen Härchen neben den Mundwinkeln und mußte die Lippen darauf drücken. Seine Augen schlossen sich. O, wie süß war dieser Mund! O nicht fremd wie – wie – –

Da öffneten seine Augen sich wieder, sie war zurückgetreten, er sah sie zum Stuhl gehn, ein flacher, grauer Hut lag darauf mit grünen Blättern und schwarzen Rosen, den hob sie auf. Ja, mußte denn noch etwas – –, mußte er noch etwas – –? – Er sah sie den Hut aufsetzen, die Nadeln festmachen, und da lag auch eine Jacke, die sie nun anziehen wollte, und er hätte fast vergessen, ihr zu helfen. Noch einmal, während er den Kragen ihres Kleides in die Jacke hineinglättete, ihren Hals berührte, sah er ihren Haarknoten, weich geschlungen, ganz nah, aber dies galt schon nicht mehr, und sie wandte sich und gab ihm die Hand, und er sagte: »Leb wohl!«

Das Schluchzen stieg ihm in die Kehle, sie sagte nichts, ging zur Treppe, der Raum kreiste, etwas klang hart, Esther war nicht mehr im Zimmer.

An einem Eisenbahnfenster über vorbeisausender Felderlandschaft erschien Esthers Gesicht; darauf stand geschrieben: Trostlos. – Georg näherte die Hände dem Gesicht, ermannte sich, schüttelte den Kopf, nahm eine Zigarette vom Rauchtisch, zerbrach ein Streichholz, noch eines, noch eines, tat endlich den ersten Zug und setzte sich.

Ja, sagte er, ja, ja …

 

Nicht mit Absicht berauschte Georg sich an diesem Abend sinnlos, das heißt, er setzte sich nicht in der Absicht, sich zu betrinken, zum Trinken nieder, sondern es kam so. Quid quod, sagte er in der letzten hellen Minute, das ist eine lateinische Redensart und heißt ungefähr: Was soll man dazu sagen? – Einige Zeit später weinte er sehr am Halse seines Leibfuchsen, der auch weinte, und abermals eine Zeit später wachte er mit riesigem Schädel und ohne Denkvermögen in seinem Bette auf, tat unbewußt das am Morgen Nötige des Badens und Ankleidens, saß ein paar Stunden, bloß eine kahle Bouillon im Magen, bei den Mensuren herum, übrigens ein wenig voll Ekel, ein wenig voll Wut und ein wenig voll Beschämung, worauf er sich anbandagieren ließ, heftig angewidert von den nassen, warmen, nach Blut, Schweiß und Äther stinkenden Binden am Halse. Armer Tozzi, heut gehts mir schlecht, dachte er, die Zähne zusammenbeißend, als die eiserne Brille auf seine Nase gepreßt wurde, und nieste. Dann stand er da und arbeitete schwerfällig mit dem Schläger, fühlte bald, wie ihm das Blut vom Kopf rieselte, es gab Pause, er saß, stand wieder, es gab endlose Pausen, um ihn schwirrte und raunte es, er hörte ein Flüstern: laß dich lieber abführen! – aber das wollte er nicht. Der Speer ward ihm fortgeschlagen, noch einmal fortgeschlagen, er wankte und taumelte bei jedem Hiebe und stand dann, den Kopf gesenkt, von dem das Blut herunterlief, wie Spülwasser so dünn vom Alkohol. Dumpfe Wut hielt ihn aufrecht, aber er ermattete immer mehr, nach jedem Gang schien eine Pause zu kommen, er trank Wasser, trank Kognak, ihm ward zum Erbrechen elend, und dann merkte er noch, auf dem Stuhl sitzend, daß sein Blut nicht mehr lief. Und was war das mit seinem Herzen? Das machte ja Sprünge! Von allen Seiten beugten sich höfliche, neugierige, ein wenig mitleidige Gesichter, er hörte wieder die Stimme des Sekundanten von weit fern her: Also noch einen Gang, weiter! Stand auf, schwankte, hörte hoch über sich die Worte verhallen: Baltoborussia führt ab nach dreizehn Minuten, und verlor die Besinnung.

Sonnenblume

Renate, in der Hand die Gartenschere, trat am frühen Morgen auf die Terrasse hinaus und blieb über den Stufen stehn. Warm schien die Sonne, aber es wehte so heftig, daß sie mit den Händen in den Falten ihres dunkelgrünen Kleides hinunterfuhr, um sie gegen den Leib zu drücken; sie bauschten sich schwer hinter ihr, und die langen Enden der dicken, silbernen Kordel, die sie unter der Brust um den Leib geschlungen hatte, flatterten wie ihr Haar. Der Garten, schon sehr entblößt, war ein flatterndes Gewimmel von Blättern und kleinen Zweigen, gelb und lockrig ließen die Wipfel überall den hellen, dunstigen Himmel durchscheinen, aufgelöst ins Trinken des reichen goldenen Lichts. Vollhängende Fuchsiensträucher schwankten unter der Veranda. Wege und Rasen waren mit Blütenblättern bestreut; der Gärtner hatte den mit Laub verschütteten Rasenplatz zur Hälfte gekehrt und war zum Frühstücken gegangen; nun rollte der Wind die braungelbe Masse von einer Seite auf die andre mit einem kindischen Vergnügen. – Renate kämpfte sich gegen den Wind die Stufen hinab, ging auf dem Wege zur Linken weiter, durch die Büsche und rechtsum unter den sechs Linden am Gemüsegarten hin auf die Rückseite der Kapelle zu. Dort flammte, gegen den Wind geschützt, die ganze Schar farbiger Georginen und Dahlien, schwarze, rote, scharlachne, weiße und gelbe. Renate schnitt von ihnen, langsam auswählend, einen Arm voll. Da hörte sie ihren Namen, fern von Magdas Stimme gerufen, antwortete: Hier! und sah bald darauf, sich wendend, Magda den Weg unter den Linden herbeieilen, ein Zeitungsblatt in der Hand, heftig atmend und mit schreckerfüllten Augen.

»Du weißt noch nichts?« fragte sie atemlos. »Das Schiff –«

»Was für ein Schiff?«

»Mit Esther! Es ist untergegangen.«

Renate schrie: »Magda!« ließ die Schere fallen, preßte die Blumen an sich, griff nach der Zeitung und las unter strömenden Tränen entsetzliche Dinge von einem Eisberg, bei Nacht, und Hunderten von Toten.

»Vielleicht ist sie doch gerettet«, weinte sie. Der Wind riß an dem großen Zeitungsblatt, sie kämpfte, um es zusammenzulegen, packte dann ihr Blumenbündel hinein und suchte nach ihrem Taschentuch im Gürtel. Da sah sie es nicht weit von ihr auf dem Wege liegen und eilte darauf zu, damit es nicht wegfliege.

»Weiß Sigurd es denn?« rief sie Magda zu, die mit zusammengelegten Händen dastand. Die fuhr aus ihrer Versunkenheit auf, sagte, ja, sie sei ja gekommen, um mit Sigurd zu telephonieren, und eilte eifrig an Renate vorüber nach dem Hause.

Mit ihrem großen, bunten Blumenbündel im Arm, heftig weinend und an Nase und Augen wischend, schwankte Renate den Weg zurück, über den Rasen und bis zur Sonnenuhr, blickte lange darauf, als wollte sie die Zeit enträtseln, und legte dann, heftiger aufschluchzend, mit einer wilden Gebärde die Last auf das Zifferblatt; das Zeitungsblatt öffnete sich und flatterte. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Postament, wurde langsam ruhiger, blickte wartend in die Veranda. Schritte wurden hörbar, Sigurds lange Gestalt erschien, er kam herunter, rote Flecken im Gesicht, die Augen geschwollen. Er blieb dicht vor ihr stehn und ließ den Kopf hängen.

»Ja, hier ist es immer schön«, sagte er nach einer Weile, umhersehend.

»Sigurd,« bat sie leise, »ich –, ist es denn – ist es – ist es denn gewiß?«

Er zuckte die Achseln.

»Für mich ist sie tot«, sagte er nach einer Weile abweisend.

Renate wußte nichts zu sagen, legte ihm nach einer Weile eine Hand auf die Schulter, in der sie ihr kleines Taschentuch zusammengedrückt hatte. Sigurd, den Kopf senkend, blickte darauf und sagte: »Ganz naß …«

Seine Lippen zuckten, er begann: »Esther –« Dann: »Was war sie nur? Ja, was hat sie euch viel bedeutet! Ein kleines Gartenland, – ausgerauft.« Er stockte. »Esther, mein Gott!« sagte er, faltete die Hände, blickte irr und schrie auf einmal: »Ich dachte, sie wäre hier! Ich dachte, sie wäre hier, und nun ist sie ja nicht da!«

Über den Stufen der Veranda erschien Magda in ihrem mattblauen Kleid und blieb da stehn, an einer Weinranke zupfend. Sigurd wand sich verzweifelter.

»Helfen Sie mir doch,« sagte er, »wie soll ich denn das verstehn, daß sie auf einmal tausend Meter tief im Wasser liegt, und die Fische schwimmen drüber weg, und man kann sie nicht heraufholen. O ich Mensch! o ich Mensch!« stöhnte er, die Finger in den Haaren, »daß ich sie habe allein fahren lassen! Aus Trotz ließ ich sie weg und hetzte diesen Prinzen, diesen Literaten, diesen Hanswurst –«

Magda blickte langsam nach ihm hin; Renate sagte leise: »Sigurd! Wir können uns doch beherrschen.«

Er hielt mitten in seiner Wutgebärde inne, blickte sie erstaunt an, schien ihr Gesicht zu erkennen und stürzte zu ihren Füßen hin, laut schluchzend, röchelnd und sich schüttelnd. Das Gesicht auf ihren Schuhn, umschlang er ihre Knie und riß daran, – Renate schwankte und griff nach dem Zeiger der Sonnenuhr hinter sich, um sich daran zu halten. »O, ich liebe dich doch,« jammerte er laut, »ich liebe dich, und nun ist alles aus!«

O das war schrecklich. Da er wieder ruhiger wurde, gelang es Renate, seinen Kopf zu fassen, zu heben und an ihre Knie zu drücken. Da stand er schwerfällig auf, zog sein Taschentuch und brachte Gesicht und Haar in Ordnung.

»Eins zieht das andre nach sich«, sagte er trocken. »Daß man sich in Sie verliebt, ist freilich natürlich. Ich wußte ja, wenn sie den Prinzen näher kennen lernte, so konnte sie nicht widerstehn, niemals konnte sie's. Dann ging alles seinen Gang. Eines Tages war die heillose Verwirrung da, und sie wußte nicht mehr, wohin sie sollte, nach Amerika, zum Prinzen, oder zu mir. Da dachte ich, wir müßten es probieren, und wenn wirklich ich die Hauptperson in ihrem Leben war, so würde sie sich ja auch aus Amerika zurückfinden. Nein, Gott, nein, wie hätte ich allein bleiben können! Mein Dasein hatte seinen Glanz und seine Freude doch bloß von ihr, und ohne das ist man doch in einer steinernen Öde und friert. Aber da hatte ich mich ja selbst von ihr abgewandt und zu Ihnen. Nun, freilich, was das schon hieß, aber mein Gefühl, ja, mein Gefühl war doch dadurch schwächer geworden gegen sie, und dafür bin ich nun gestraft. Ihm aber, bei Gott, Renate, ihm aber werde ichs einmal heimzahlen, daß er sie zu sich herüberbog so weit und dann wieder fahren ließ, dieser Bastard von einem Literaten! Konfus hat er sie gemacht,« schrie er aufgebracht, »und da zeigte der Tod ihr einen Mittelweg, und sie folgte natürlich wie immer. Meinen Sie denn etwa,« fragte er mit zornigen Augen, »ich wüßte nicht, wie sie gestorben ist! Meinen Sie, ich hätte –, ja, glauben Sie etwa, Jason wäre auch ertrunken?«

Da er einen Augenblick schwieg, um Atem zu schöpfen, murmelte Renate: »Der gute Jason …« Auch sie konnte sich nicht denken, daß er tot sei.

»O Gott,« stöhnte er nun wieder vor sich hin, »ich seh ihn ja immer und immer herumlaufen, über alle Verdecke, durchs ganze Schiff, oben, unten, in alle dümmsten Winkel spähn, und die Angst … Und ich bin mit ihm herumgerast und hab geschrien: Esther! Esther! Esther! – Aber sie«, schloß er leise und verwirrt, »lag wohl schon lange unten und war auch – wohl ganz froh …«

Nach diesen Worten drehte er sich langsam und vergrämt um und ging fort, die Stufen empor, wo Magda einen Arm um ihn legte und mit ihm weiterging. Sie waren verschwunden, aber nach einer Weile erschien er wieder allein, blieb über den Stufen stehn, hob die Hand winkend und rief: »Machen Sie sich keine Sorge um mich!«

Renate lief auf ihn zu, wollte ihn fragen, was er denn vorhabe, da kam er herunter zu ihr und erklärte ihr ruhig und zurückhaltend, er könne natürlich nicht hier bleiben, wo an jeder Straßenecke und in jedem Zimmerwinkel Esthers Schatten stünde, sondern ginge nach Berlin, wo er noch gerade rechtzeitig zur Immatrikulation kommen würde.

»Geld,« sagte er, »habe ich ja nun mehr als früher. Dann, wenn ich die Examina gemacht habe, – das muß schnell gehn, höchstens in einem Jahr geh ich nach Rußland zurück. Da können sie mich vielleicht brauchen. Jedenfalls bewegt sich das Leben dort in den Kreisen, die mir nahe sind, so, daß ich hineinpacken kann; ich muß mich ja nun wohl an das Allerreellste halten, was man so ›Taten‹ nennt, und – und vielleicht kann man die Dinge doch fühlen; ich will versuchen, sie wieder anzuwärmen; der Tod pflegt ja alles erst mal kalt zu machen. Sie werden wohl zuweilen an den letzten Mohikaner denken.«

Renate nickte nur und sah ihm liebevoll in die Augen; er ergriff ihre Hand, küßte sie ungeschickt, ging ruhig und kehrte nicht zurück.

Renate, noch hinter ihm her sehend, erinnerte sich, daß Josef der letzte war, der ihr die Hand geküßt hatte. Dem einen war alles genommen, der andre wollte nichts mehr haben. Sie sah über das Dach des Hauses hinauf, wo die kleinen grauen Steinfiguren sich vor dem leichten Gewebe von Wolkenweiß und Himmelsblau zu bewegen schienen; die Sonne brach kräftiger hervor. Seltsam war mit dem Ende von Sigurds heftigem Ausbruch auch der Wind stiller geworden; es wehte nur leise durch den Garten hin. Sie zog die silberne Schnur, deren Knoten sich gelockert hatte, fester zusammen, nahm ein zusammengerolltes Blatt von ihrem Kleid, glättete die grüne Seide, in der schwarze Linien von oben nach dem Saum hin liefen, und sah die Blumen auf ihrer Zeitung auf dem Postament liegen; der Wind zauste darin wie ein Kakadu; einige lagen am Boden. Die sammelte sie gedankenlos auf und legte sie zu den andern. Ja, nun mußte sie wohl zu Saint-Georges –, nein, es war ja Sonntag. Sie dachte an ihre Orgel, irgend etwas aber trieb sie, den Weg, den sie vorhin gekommen, zurückzugehn. Vor einem Trupp halb welker Sonnenblumen stand eine sehr hohe mit nicht sehr großem Antlitz, das sich mit einem geringen Ausdruck von Ernst und Hoffart herabneigte. »Wie stolz du bist, Schwester Sonnenblume,« sagte sie, »laß dich küssen.« Sie bog das gelb und schwarze Sonnengesicht zu sich hinunter, küßte es leicht in die Mitte, knickte den Stiel dicht unterm Kopf ab, hielt einen Augenblick die weiche Blätterschale in den Händen, hängte sie dann vorn in den spitzen Ausschnitt ihres Kleides. Dann ging sie weiter, langsam an einer Linde nach der andern vorüber, die den Weg mit welken Blättern bestreuten, blieb endlich am letzten Stamm stehn, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, den Blick durch die fast entlaubten Wipfel emporgerichtet. Ununterbrochen trieb und flatterte es von oben durch das Licht. Sie spürte, in Gedanken verloren, wie ihr Kleid unten zuweilen seine Falten regte, sich bauschte und wieder hinsank.

Saint-Georges kam die Allee herunter und blieb bei ihr stehn; sie sah ihn durch den dünnen Schleier an, den eine vom Wind gelockerte Haarsträhne über ihre linke Wange breitete, und las in seinen ernsten Augen, daß er alles wußte. Er sagte nichts weiter als seinen Gruß; nach einer Weile begann sie leise:

»Ach, Georges, hören Sie die Glocken?«

Lauschend vernahmen sie Beide das ferne, dunkle Getöse, das in der hohen Weite gegen den Wind ankämpfend umher wanderte und nach Gläubigen hinunter rief.

»Eben war mir,« fuhr sie fort, »als hätte ich schon ein Jahr hier gestanden und die rufenden Glocken im Winde gehört. Alles war mir so fern, – daß Josef ging, und der Zorn des Erasmus, und Sigurds Schmerz und Empörung. Hier bleibt es immer still.«

Ihr fielen bei diesen Worten Sigurds ganz ähnliche ein, die er beim Kommen gesagt hatte, allein sie vermochte nicht zu begreifen, wie das zusammenhing. »Entblätterte Linden,« sagte sie wie zu sich selbst, »entblätterte Linden … Am Boden wirbeln gelbe Blätter ruhlos, – wer weiß, wer weiß, wohin einst wir verschwinden!«

Getrieben vom Verlangen, ihre eigne Stimme zu hören, um die Stille und die ferne Stimme Sigurds abzuwehren, sprach sie weiter: »Sie sind nun bald alle fort. Wissen Sie, daß auch Magda geht? Ihr Lehrer ist an die Berliner Oper gekommen, sie will ihn nicht aufgeben, ein Wechsel wäre ja auch ungesund für die Stimme. Bogner ist irgendwohin; Ulrika ist mit ihrer Mutter nach Süden; wo ist Jason? Jason ist verschwunden. Sigurd geht, Georg ist fort, und Esther … Ach, mir gellt immer noch das Todesgeschrei all der Menschen in den Ohren, das ich hörte, als Sigurd: Esther! schrie. – Ich bin geblieben, – wie kommt das? Was wird aus ihnen, dort, wo ich sie nicht mehr kenne? was wird aus mir?« Sie faltete die Hände und sah ihn ängstlich an.

Saint-Georges' ruhige, lichte Augen umfaßten ihre Gestalt, berührten die Sonnenblume, sie hörte ihn sagen: »Ich sah Ihre Blumen auf der Sonnenuhr liegen, – hatten Sie die schöne Last in die Zeit fortgelegt? Da dachte ich, daß –« er sprach sehr langsam – »daß Ihnen nichts geschehen wird, solange Sie in diesem Hause sind. Hier können Sie leben und sterben unwandelbar; verlassen Sie es nie.«

»Josef«, entgegnete sie nachdenklich, »muß vor langer Zeit einmal etwas gesagt haben, worin das Gegenteil von Ihren Worten stand.«

Er lächelte nun abwehrend, berührte mit einer Hand leicht die Sonnenblume und sagte nach einer Weile versonnen: »Wissen Sie, woher das Wort Heiland kommt?«

Renate meinte, es bedeute doch wohl heilend. Ja, das lege man dem Wort wohl jetzt unter, versetzte er, »aber,« fuhr er aufblickend fort, »die Sonnenblume heißt griechisch Helianthos, und daraus wurde Helianth, Heliand, wie es noch im Frühmittelalter hieß, dann Heiland.«

Renate schauderte leise unter einem unkenntlichen Gefühl und hörte ihn weiter sprechen:

»Carossa sagt: ›Wenn uns gegeben wäre, immerfort ein Wesen zu schauen und zu denken, so würden wir uns langsam in dasselbe verwandeln. So glaubten Heilige, und so verbürgt es die Form der Sonnenblume.‹«

»Und wissen Sie,« fuhr er fort, »wer dasselbe geglaubt hat, und wessen Antlitz es uns verbürgt?«

Sie lächelte und sagte glücklich: »Ech-en-Aton.«

Und, kaum wissend, was sie tat, griff sie nach der Blume, löste sie vom Kleide und reichte sie ihm, ließ aber ihre Hand noch am Stiel, den er faßte. Den Kopf hielt sie tief gesenkt, und, in blinde Wonne versinkend, sah sie mit unbeschreiblichem Staunen eine kleine Gestalt in weißem Gewande vor sich stehn, den König, der an ihr vorüber sah mit dem fortschwebenden Blick, den er immer hatte, und sie reichte ihm die Blume, demütig, die er nicht sah. – –

Plötzlich schrak sie leise schaudernd auf, blickte auf die Blume und rief: »Aber –, sie ist ja schwarz, die Blume, mit goldenem Rand, umgekehrt wie die Sonne.«

Nun standen sie Beide, die Blume zwischen sich haltend, und Saint-Georges schien nicht minder betroffen als sie.

»Ja,« sagte er endlich, »so weit ist sie gekommen, diese große, eifrige Blume. Da sie keine Augen hat wie wir, so ist es wahrscheinlich, daß sie die Sonne als scharfe Lichtscheibe wahrnimmt, und herum ist es schwarz; davon ward sie das Negativ, und so auch wir: Denn der Gott ist das gewaltige Strahlen in der Finsternis; wir aber, finster von Leiden, wir können einmal strahlen, – schön, Renate.«

Langsam ließ sie ihren Blick aus seinen Augen gleiten, ließ auch die Blume los, nickte, sich fassend, und ging an ihm vorüber den Weg hinab.

Saint-Georges sah: Es flatterte und rieselte gelb und grünlich über ihre große, grüne Gestalt; das Kleid wehte nach links in schwerem, gebogenem Bausch, vom Hacken bis zur Hüfte zeigte sich in Festigkeit die Linie des rechten Beines, das sich gegen den Stoff preßte, seltsam lebendig, geheimnisvoll anzusehn, als wäre es der Leib der Dryade, an den Stamm, ins Gezweige geschmiegt. Etwas vorgeneigt ging sie, langsam Fuß vor Fuß, ihr Haar wehte, ein bräunlicher Schleier, die Arme hatten ab und an eine leichte, anmutvolle Bewegung. Da blieb sie stehn, wandte sich, hob mit sanfter Gebärde das Haar aus der Stirn, so daß es wie ein Winken schien, und Saint-Georges folgte ihr nach.


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