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Drittes Kapitel: Januar

Neujahr

Renate, beide Handflächen gegen die plötzlich entflammenden Wangen pressend, im Sessel vorgeneigt, rief: »Das möchte ich nun einmal wissen, warum du und ich am Neujahrssonntag hier sitzen!«

Saint-Georges, tief im Sessel ihr gegenüber, die Ellbogen in den weichen Lehnen, die Hände flach unterm Kinn gefaltet, blinzelte in die losen Flammen im Kamin; dann sah sie langsam ein immer freudigeres Lächeln um seine Lippen und in den Augen aufquellen, bis es den Mund öffnete und er sagte:

»Nun, das ließe sich am Ende noch beantworten. Was meinst du: stünden wir Beide in einer Geschichte, so würde die Antwort vermutlich lauten: weil es der Autor so will. Übersetze das lateinische Wort, und was kommt heraus? der Willen des göttlichen Urhebers.«

Renate, unwirsch über und über, warf sich zurück, strich mit der Rechten die dunkelblauen Falten aus ihrem Schoß, blickte unter gesenkten Lidern böse zu ihm hin und mußte noch einmal ausbrechen:

»Georges! Ich frage! ich will deutlicher fragen: Warum mußte – ich muß es wissen! – warum mußte das Weltgeschehen diesen Verlauf nehmen, zu dieser Stelle, an der wir nun als diese Menschen in dieser Weise sitzen und miteinander reden und schweigen!«

»Eine Frau«, erwiderte Saint-Georges freundlich, »fragt mehr, als zehn Männer beantworten können.«

Renate lachte verdrossen. »Ist dir denn nie dieser Gedanke gekommen? und wie ungeheuerlich er ist? Daß man hervorging, hervorgehen mußte aus dieser riesenhaften Weltgewalt?«

»Du denkst viel«, sagte er leise.

Renate erhob sich, machte sich einen Augenblick an Teekessel, Tassen und Dosen auf dem Rolltisch neben ihr zu schaffen, ging dann ins Zimmer hinein und, erst langsam, dann rascher auf und ab. Ihre Erregung, ihr selber unfaßbar, begreiflich nur so weit, daß sie entstanden sein mußte vor Jahren schon und gewachsen war seither und wachsen würde – machte sie schwindlig im Sitzen. Plötzlich sah sie Josef. Seit sie ihn in der Stadt wußte, fühlte sie sich umkreist von ihm, wo sie ging und stand, und wohin ihr Gesicht gerichtet stand, da stand er.

»Mir wäre besser,« sagte sie bewußtlos vor sich hin, »ich säße in einer Dachkammer an der Nähmaschine. Armut, find ich, paßt soviel besser zum Leben.«

»Gut, Renate. Gehe hin und tue desgleichen.«

Sie blieb stehn. »Was heißt das, Georges, warum kann ich nicht fort, warum kann man nicht heraus?«

»Richtig,« versetzte er, »daß du ›man‹ sagst, nicht: ich. Im übrigen könnte man ja den Vetter Josef kommen lassen, um zu erfahren, ob er herausgekommen ist.«

Da kam er auch mit Josef! – »Das wäre eine Antwort?«

»Also einfach,« erklärte er, »Fahnenflucht ist keine Kunst. Jeder verbleibe an seinem Platze. Einmal stellt sich doch immer heraus, daß es ein Posten war, auf den uns die Zukunft stellte. Wollen die Vögel auch schwimmen können?«

»Haus, Garten, gut Essen und schöne Kleider«, sagte sie, »sind freilich kein Verdienst.«

Er ließ die Hände fallen und suchte in der Rocktasche. »Sie sind der Einzige«, sagte er dann glatt. »Alle Menschen verdienten dergleichen.«

»Und wenn die Vögel nicht schwimmen wollen,« fuhr sie heftig fort, »will der Mensch doch fliegen.«

»Und dann?« fragte er bloß. Sie murmelte, den Kopf hängend: »Fortschritt …«

»Daran zu glauben, halte ich nun für ganz verfehlt«, meinte er sorglos.

»Und was glaubst du?« Sie stellte sich hinter dem Tisch gegen ihn auf.

»An das Rad«, sagte er aufblickend. Dann, da sie weiter fragte, mit den Augen ergriffen von der Festigkeit seines Blicks, fuhr er, leis lächelnd, fort: »Das Rad weder des guten Lamas im Kim, noch den Roman von Jensen meine ich damit, sondern –«

Renate, mühsam sich zu Ruhigkeit zwingend, glitt wieder in ihren Sessel und hörte zu, anfänglich gefesselt von dem Wohlklang seiner Stimme.

»Stelle dir«, fing er an, »ein Rad vor, wie Homer es malte, einen Radreifen mit vier Speichen, erzbeschlagen, und ein Rad, wie ein Heutiger es malt, eine flimmernde Scheibe von konzentrischen Kreisen; darin haben wir den Unterschied. Weiter: lege eine glühende Kohle auf die Erde, das ist der Anfang: ein glühender Kern, der Strahlen versandte, erst einen, mehr, immer mehr, die sich an unserm Horizont der kreisförmig andrängenden Ewigkeit umbiegen und ihren Stoff dort ablagern zu – Geschichte, dem Radband um unsere Zeit. Die Strahlen, immer dichter sich drängend, füllen schon den Kreis; nun wird abgespalten. Zum Beispiel: Malerei. Sie begann mit dem Bildnis, ging über zum Zimmer, zur Kleidung, zum Nackten, zog die Landschaft hinein, ging zur Landschaft hinaus, und es begannen die Techniken, Helldunkel, begannen die Charaktere, die Italiener, Holländer, kamen Holzschnitt, Radierung, Kreide, kamen Impressionismus, Expressionismus, Futurismus. Zehntausend Mannigfaltigkeiten, und doch von Giotto bis Kokoschka ein einziger Glutkern: das Genie, die wahre Kunst, die Techniken und Programme und Richtungen nur benutzt, aber nicht von ihnen abhängt. Oder: Wissenschaft. Zuerst gab es die sieben freien Künste, die in einer einzigen Hand liegen konnten zu Anfang, die anschwollen, daß für jede eine besondere Hand notwendig wurde, ein besonderer Kopf, und wieder jede allein anschwollen, daß sie gespaltet werden mußten, und wieder gespaltet und aber wieder, bis wir heute zum Beispiel unzählbare Fächer der Naturwissenschaften, und so viele Spezialärzte haben wie Organe oder gar Krankheiten. Und siehst du die Abspaltung hier, so sieh die Zusammenfassung auf der andern Seite: Kolumbus, Luther, Giordano Bruno, Spinoza, Kant, Goethe, Bismarck, Darwin, die Bündel von Strahlen zur Garbe banden. Und immer die Ablagerung auf dem Kreisring, die Erfahrung, die Geschichte. Es wird immer anders, – das ist der ›Fortschritt‹. Kannst du glauben, daß, wenn es je ein ›Schön‹ gegeben hat, es heute ein ›Schöner‹ geben könne? Oder ein ›gut‹ oder ›wahr‹ oder ›edel‹, das heut besser wäre, wahrer, edler? Ja, einen Gott, der heute göttlicher wäre oder minder göttlich? – Kannst du glauben, daß du dich an einem Zeitpunkt befindest, tausendsiebenhundert Zeitmeilen entfernt von einem ›Anfang‹? Kannst du dir vorstellen, daß du dich an einem Rande befindest? Muß nicht jedes, all und jedes, was ist, seinen Ursprung in der Mitte des Alls haben, in der Mitte sein? Alles, was ist, ist im Kern. Pascal – falls du nach einem Kronzeugen verlangen solltest – nannte das Weltall eine Kugel, deren Mittelpunkt überall, deren Umfang nirgend sei. – Wir strahlen ein jeder noch immer aus dem ersten und einzigen Kern, haben um uns den Rand, sind selber das Rad.«

Renate, die schlecht und kaum willig zugehört hatte, murmelte vor sich hin: »Nichts ist, was dich bewegt, du selbsten bist das Rad, das aus sich selber läuft und keine Ruhe hat …« Das war Bogners Zeichen unter seinen Bildern. Und keine Ruhe hat … und keine Ruhe hat …

Sie merkte, daß es schon lange still im Raum geworden war. Saint-Georges bückte sich, nahm den Blasebalg von der Erde und begann langsam die Flammen anzublasen, so lange, daß sie das anhaltende Gleichmaß der Luftseufzer kaum noch zu ertragen glaubte und ihm eben Einhalt tun wollte, als das Stubenmädchen erschien und meldete: »Frau Tregiorni.«

Als ob sie gesagt hätte: ein Engel! dachte Renate, erlöst aufspringend und zur Tür eilend, die sie öffnete. Sie umarmten sich und beglückwünschten sich zum Fest, – aber Ulrika sah keineswegs gut aus, blaß, das Haar schien die Stirn zu bedrücken und saß nicht vorteilhaft, die Nase trat scharf hervor, die Augen lagen tief. Nachdem sie auch Saint-Georges begrüßt, sagte sie, in einen Stuhl gleitend, die Augen niedergeschlagen und mit tonloser Stimme, wie sie beides mitunter an sich hatte: sie sei eigentlich gekommen, Renate um Vinzent van Goghs Briefe aus Josefs Besitz zu bitten, um – Renate verstand den Grund nicht, indem sie schon zur Tür ging, um das Buch zu holen, woran wieder Georges sie hindern wollte. Dann bemerkte Ulrika gleichgültig, sie könne ja mitkommen, sie sei ohnehin lange nicht oben gewesen, und er merkte wie auch Renate, daß Ulrika mit ihr allein sein wollte, worauf sie sich bei ihm entschuldigten und gingen.

Aber es war kalt im Zimmer oben, die Heizung nicht angestellt. Renate tats, suchte dann das Buch im Halblicht des violetten Lampenumhangs und trug es zum Tisch. Ulrika schien verschwunden in der dunklen Nische des großen Fensters, sie wechselten ein paar Worte wegen der Kälte, – dann setzte sich Renate doch, da die Freundin bleiben zu wollen schien. Das weiße Buch leuchtete still auf der leeren grünen Tischdecke. Und wieder erschien Josefs Gestalt, die Straße heraufkommend, auf eine Laterne zu … Renate fröstelte und wünschte sich einen Schal. Ob sie das Buch kenne, fragte sie Ulrika. Die schien zu verneinen in ihrem Dunkel und zu fragen, wie es sei, worauf Renate allerlei hinsprach, daß es fast langweilig zu lesen, nur vom Malen die Rede sei, von Bildern, an denen er male, oder die er malen möchte, oder gemalt habe, und daß man doch nicht loskommen könne vom Anfang bis zum Ende … Ulrika war derweil herangekommen, stand, den linken Arm hinterm Rücken gefaßt mit der andern Hand, nieder blickend auf das Buch.

Was mag ihr sein? fragte sich Renate. Da war die Freundin wieder die Fremde, die Umschlossene, die alles verschwieg. Wollte sie sprechen?

»Glut und Eifer«, sagte Ulrika ohne Ton, »ersetzen ja manches. Und wenn eine Lebendigkeit tief und gewaltig erscheint, so glaubt man wohl, an die ganze offene Welt angeschlossen zu sein, alle Stimmen zu hören, alles Weben zu sehn, denn man sieht –« Sie hob den Blick schweifend über Renate weg, die bei sich dachte: Nun ist sie ja schon dort, wohin sie wohl kommen wollte …

Immer noch gesenkter Lider glitt sie nun in den Sessel, der hinter ihr stand, legte ein Knie über das andre, zog den Kleidrock nach unten und faltete die Hände darüber.

»Hast du«, fragte sie aufblickend an Renate vorüber, »dich je gefragt, wie man im Traume sieht? Man sieht durch die schlafgeschlossenen Lider, deshalb ist immer alles so – unklar, wie durch Wasser gesehn. So wars all die Monate mit mir, und nun –« Sie schwieg.

»Ist es anders geworden?« wagte Renate leise zu fragen.

»Eifer und Glut, Wollen und Glauben,« sagte Ulrika wie zu sich selber, »die genügen ja nicht.«

»Weil sonst jeder etwas Großes werden könnte, meinst du, der es sich nur ernstlich vornähme, und eben das nur diejenigen können, die auch – die Gabe haben?«

»Auch nicht die Gabe«, versetzte Ulrika ernst. »Auch die läßt sich haben, so mancher hat sie; aber deshalb hat er noch nicht – – das Leben«, schloß sie unsicher.

Renate mußte das Wort Liebe denken und sagte es leise, doch nun fielen Ulrikas Hände auseinander. »Auch nicht,« sagte sie emporblickend, »nein. Das genügt alles nicht. So jedenfalls nicht, wie man das Wort versteht. Was tut er denn, dieser Maler,« lächelte sie flüchtig auf, »glaubst du vielleicht, er liebt die Kunst, so wie wir, du, ich sie lieben?« Sie sprach eilig weiter. »Nein, was tut er, was tat dieser van Gogh? Sie atmen Kunst ein, und sie atmen sie aus. Sie leben – weiter nichts. Ihr Leben ist Kunst, sie haben das Leben. Sie denken ja nicht nach, oder wenn sie nachdenken, ists doch wieder etwas für sich, ist kein Malen, kein Leben. Ach, all das ist so schwer zu denken und zu sagen!« Sie stand mutlos auf.

Renate, nun ganz ruhig und sanft, fragte liebevoll hinüber: »Muß mans denn denken und sagen?«

Ulrika blickte wieder auf das Buch und gab ihm, das Ende des heraushängenden Lesezeichens fassend, eine kleine Drehung. »Man muß wohl«, sagte sie schwach lächelnd.

»Sie sind eben die Seltenen, diese«, fuhr sie wieder fort. »Man kann ihnen in keiner Weise gleichen. Was tun sie denn nur?« Sie grübelte angestrengt nach. »Ich glaube, sie tun nichts, als daß – ja, daß sie sich selber schaffen jeden Tag. Und dadurch schaffen sie Welt. Ja, wie? Ihr Schaffen ist – ist –, die Welt sichtbar zu machen, Sichtbares und Unsichtbares erst sichtbar zu machen. Denke dir Kunst fort aus der Welt – es ist ja nichts mehr vorhanden. Keiner wüßte, wo er stünde, keiner« – sie lächelte hell, zum Zeichen, daß sie Bogner zitierte – »wüßte, wie Baum und Sonne und er selber aussähe, wenn nicht eines Tages einer angefangen hätte zu malen. Hier sind doch neue Gesetze, begreifst du? Nicht unsre, gar nicht die Naturgesetze, ganz eigne.«

Wie leuchtete nun ihr erhitztes Gesicht! »Ja – – du bist ja aber glücklich, Ulrika!« sagte Renate ergriffen. Die hellen Augen erloschen augenblicks hinter fallenden Lidern.

»Ich sollte es ja sein«, erwiderte sie dann ruhig. Plötzlich trat sie zurück in den Raum, blickte funkelnd und heiß und sagte: »Ich war es ja, war es ja bis heut! Sie war ja schon Lebenskraft geworden – meine Musik. Kannst du's denn verstehn? Wie soll ichs nur erklären? Das Leben haben, sagt' ich, nun – und was ist das? Allwissend sein, wissend um alles Werden, alle Entfaltung, alle Geschichte, die Leiden kranker Kinder, die Not geplagter Eltern, die Trübsal der Gebrochenen, das Elend der unentrinnbar Verstrickten, und die Wonne des Sommerabends, die Augen der Sterne – dies alles wissen und – hochheben im Werk, zeigen im Werk, sich als dessen Durchgang, dessen Werkstätte fühlen, wo es umgeschmolzen, umgewirkt wird zu Ordnung, zu Klarheit, zu Gesetz, aus dem es dann alles wieder strömt –: verwandelt, so daß wirs empfinden. Nun, und ich – ich war wohl noch weit davon, aber – ja, wie sage ich es denn nur?«

Verzweifelt umherblickend, trat sie an das nächste Bücherregal, legte die gefalteten Hände gegen seine Kante, die Stirne darauf und sagte wie herausbetend: »Daß es eben nicht Musik war, was ich spielte! nicht Noten, Quinten, Synkopen und Fugen, Sonaten, Konzerte, sondern – Menschenwerk, Menschenleben, Weltleben, Weltwerke. Formen allen Seins und allen Leidens, Erzeugnisse einer unendlichen Liebeskraft und einer unendlichen Daseinsnot, nicht Musik – nein, Liebe und Leiden, und nicht Allegro, nicht Andante, sondern – Kindheit und Wachstum und Älterwerden, Schmerzen eines Knaben, Zweifel eines Mannes, Hoffnung auf weiche Hände, Enttäuschung, ach – und das Aufstehn frühmorgens, die Schwermut am Abend – alles all, was ist, was wir Alle sind.«

»Und nun nicht mehr?« fragte Renate, ganz heiß durchströmt von dem Brand.

Ulrika richtete sich auf, und wie sie nun wieder zu ihrem Sitz ging und sich hinließ, war sie wieder die Abwesende, die wohl preisgeben wollte und es doch nicht vermochte, in sich gefangen. Sie sagte bedrückt:

»Die Worte machen ja alles so anders. Nichts war ja so, wie ich sagte, ich lebte ja nur, ich fühlte mich auf die eine Weise, bis er kam, und nun auf andre Weise. Aber die erste ist doch nun nicht mehr, also ist es auch nicht anders, – kannst du denn herabsehn auf dein Leben? Man steht doch immer darin, man fließt mit, und alles ist unentrinnbar. Ach, wenn man nur fühlen könnte! Dann wäre kein Mord eine Untat. Sage das Wort nicht – was ist dann?«

Renate verlor die Worte im Hören, ohne sie begriffen zu haben. Eine Weile danach kam sie zu sich, unwissend woher, und erkannte, daß Ulrika von einem Bilde sprach – ja, einem Bilde, an dem Bogner malte, wieder malte, nachdem er es schon als Knabe geplant: der Kampf um Troja, Achilleus auf dem Wall, wie er um Patroklos schreit so gewaltig, daß die ganze Schlacht zurückrollt gegen die Stadt … »Ja, kann man denn Schreien malen?« fragte sie ungewollt.

»Ich sagt' es ja eben,« erwiderte Ulrika, »er selber behauptete, es sei unmöglich, ganz sinnlos, und doch muß er an diesem Bild schon bald zwanzig Jahre sitzen …« Wieder vergeßlich, versunken ins Anschaun dessen, wovon Ulrika sprach, der hundert Studien, Leiber, verrenkter Gliedmaßen, Verwundeter, Sterbender, Arme, Beine, schreiender Münder, dann auch eines Eisenbahnunglücks, das Bogner mitgemacht habe, und dessen Schmerzensausdrücke bei den Verletzten er später bei den Aktstudien aus der Erinnerung noch habe übertragen können, hörte sie langsam die etwas klagende Stimme der Freundin wieder deutlich werden:

»Und wie ich dastand in dem öden Raum, der ganz voll war von diesem wilden Leben, Rossen und Wagen, Kampf und Verzerrung, immer wieder dieselbe Gebärde des Grauens sah, dazwischen Entwürfe zu einem schwarzen Sonnenuntergang, in dem der Heros ganz klein stehen sollte, während vorne die zurückflutende Schlacht sich bäumt, – o Gott, all dies Stückwerk zu sehn, Rüstungen, Schienen, Fäuste, immer wieder Fäuste mit abgebrochenen Schwertstücken, Beine, nackt, verdreht, Rippen, von Armen herausgepreßt – und zwischen all dem er, so unbekümmert, bei aller Zweifelei so im Triumph seiner Ganzheit, in der die tausend Stücke einmal aufgehen würden, – da – ja, da trat ich glaub ich ans Fenster, ganz mutlos und hoffte nichts, als daß – nun was? Aber ich sagte etwas wie: ›Wenn ich dir helfen könnte …‹ Da legte er seine Hände auf meine Schultern, zwang mich ihn anzusehn und sagte ganz leicht, ich hülfe ihm ja – nun, noch dies und jenes, was ich nicht mehr weiß, was lag auch an den Worten! – Mir ward leicht, ganz leicht.«

»Und nun?« mußte Renate endlich fragen, da sie vor sich niederblickend schwieg.

»Nun siehst du's ja: ich bin hier. Ich kam heim, ich saß bei Mama, dann legte sie sich bald, sie kränkelt ja immer mehr, dann kam eine Schwester von ihr – da wurde ich auf einmal unruhig und ging hierher. Unterwegs –«

Renate horchte auf, da sie Schritte im Treppenhaus hörte; auch Ulrika schien sie zu hören, denn sie brach ab, erhob sich, nahm das Buch und sagte: »Es ist ja auch nichts weiter zu sagen.« Sie trat auf Renate zu, die sich erhob, schloß sie in die Arme und meinte, es würde wohl alles wieder anders werden, wer könne wissen … und dergleichen, während schon Saint-Georges den Kopf ins Zimmer steckte und erklärte, dies gehe zu weit! Dreiviertel Stunden sitze er allein, am Neujahrsabend!

Wie er doch den rechten Augenblick abgepaßt hat – für Ulrika, dachte Renate, obschon selber ratlos, was das Ganze nun bedeuten sollte. – Als sie einen Augenblick später hinter den Beiden, die miteinander sprachen und lachten, die Treppe hinabstieg, empfand sie bekümmert die Linderung, die aus Ulrikas Unruhe ihre eigene durchflossen hatte.

Es ist am Ende nur, daß ich zuviel allein bin, dachte sie dann; man hängt sich selber zu sehr nach, und – die Andern sind immer warm und wärmen; ist man dann allein, muß man sich doppelt kleiden und einspinnen ins eigene Fühlen und Grübeln, aber … aber …

Renate wußte nicht weiter. Sie waren unten angelangt.


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