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Zweites Kapitel: März

Leda

Georg, abgespannt von überhitzten Arbeitswochen in Mozarts Figaro sitzend, merkte schon während des ersten Aktes, daß es ihm wie immer erging: nach dem ersten wunderbaren Durchspültsein von der göttlichen Musik, dasitzend mit geschlossenen Augen, um die Bühnengeschehnisse unbekümmert, entfaltete in ihm sich Phantasie; Bilder, von den Klängen tiefer gefärbt und bewegt, schwirrten auf, schwanden, wiederholten sich und vergingen unter neuen Erinnerungen an dies und jenes, Gedanken an die Zukunft, die er erleichtert sah, plötzlich ein Stück Traumes aus der letzten Nacht, ein Mädchen, eine Frau – deren Gestalt und Züge ihm kaum noch erinnerlich waren, die er geliebkost hatte, wie sie ihn, bis zur höchsten, letzten Wollust liebkost, in einem Garten … worauf er, erwachend, dann merken konnte, daß nur seine Seele geträumt hatte, nicht aber sein Leib. Und wieder, wie in der Nacht, fühlte er das Peinliche der Erleichterung, – und Erleichterung doch. Diese Weise war immer noch besser als – – er zerdrückte das Übrige, sah, die Augen öffnend, ein wenig geblendet von der Helligkeit der Bühne, eben den Grafen, ohne daß ers gleich merkte, den silbernen und blauen Cherubim aus der Decke hüllen, lächelte zerstreut und ließ sich untergehn im harmonischen Wirrwarr der Instrumente und Stimmen, bis der Vorhang fiel.

Benno hinter ihm seufzte tief auf, und sein heißes, gerötetes Gesicht kam zum Vorschein mit ersterbenden Augen. Allein, wie deren Blick jetzt in das Logenhaus hinunter geriet, zeigte sich Erschrockenheit darin. Er faßte Georg am Arm und flüsterte:

»Sieh nur! das Gespenst unten! Drüben auf der Seite, in der dritten – vierten – fünften Parkettloge, wo all die Schauspielerinnen sitzen!«

Georg suchte dort, über die Brüstung der Proszeniumsloge geneigt, und gewahrte in der Tat bald ein seltsam gespenstisches Gesicht, das, als gehörte es zu einem Kinde, dicht über dem grünen Plüschwulst der Brüstung war: gelbes, in die Stirn gekämmtes Haar, unter dem hervor aus dem ganz weißen, altkindischen Gesicht mit spitzer Nase, unbestimmt helle Augen umherspähten, sich verdrehend, so daß darin das Weiße glänzte, äugend in einem abstoßenden Gemisch von Munterkeit und Bosheit. Ein Gespensterwesen ohne Jugend und ohne Alter, fast Knabe und fast Mädchen …

»Siehst du?« raunte Benno. »Ein Vampir!«

Allein Georgs abirrender Blick hing an dem Gesicht daneben fest, aus dem zwei schöne und traurige, dunkle Augen ihn anblickten; ihn? – ja – gewiß – ihn, – und zwar senkte sie wohl gleich die Lider – sehr schwarz und lang mußten die Wimpern auch am untern Lide sein, denn die Augensterne waren rundum verschüttet –, aber im nächsten Augenblick kam der Blick wieder empor und hing an ihm fest, viele Sekunden lang. Dann wagte Georg es, zu lächeln; sie blieb ernst. Nein, nun lächelte auch sie, traurig, und schlug die Augen nieder.

Georg streckte die Hand nach dem Opernglas, das Benno haben mußte, murmelte, er müßte das Gespenst sich näher ansehn, erhielt es und konnte nun die Gesichter beide nahe vor sich sehn und in fast natürlicher Größe. Das des Gespenstes war weiß geschminkt und abscheulich; auch das der Andern war – ein sehr weiches, fast rundes Oval – weiß, eher ein wenig grau, wie von vielem Schminken. Auch diese – waren es wirklich Schwestern? – trug das Haar in die Stirn gekämmt, aber es war tiefbraun, sehr altem Mahagoni oder polierter Eiche gleich, ja, es schien fast einen grünlichen Hauch zu haben wie Bronze, – aber das kam wohl von dem nahen Samtgrün der Brüstung und – ja, auch ihr Kleid war von ähnlich grünem Samt. – Befremdend war der Mund, von dem nur in seiner Mitte ein hagebuttengroßer, tiefroter Fleck der Oberlippe sichtbar war; die Mundwinkel, tief ins weiche Wangenfleisch eingebettet, waren darin wie ausgewischt, ähnlich wie die Augen vom Schwarz der Lider.

Indem sah er sie ein kleines Opernglas heben, aber gleich wieder sinken lassen, – wohl da sie das seine auf sich gerichtet sah.

Und dann, nachdem er das seine fortgetan, blickten sie einander wieder in die Augen, in Pausen, wieder und wieder. Es war süß, melodisch, – fast wie Drosselgesang, dachte Georg. – Dann begann der nächste Akt.

Wer ist sie? dachte Georg, wieder im Dunkel geschlossener Augen und wirrer Harmonien. Hat sie mich erkannt? Ach, wahrscheinlich doch! Überall haben sie ja Photographien von mir aufgehängt. Freilich, wenn die Menschen einen vor sich sehen – im Laden zum Beispiel –, denken sie doch nicht, daß mans sein könnte. Er lächelte, da ihm einfiel, was der berühmte Gaffron, der Mime, ihm einmal erzählt hatte, wie er eine Ansichtskarte von der Wiener Burg gekauft und die Verkäuferin ihm eine empfohlen hatte mit den Worten: Da habens auch den Gaffron gleich mit drauf …

Er wandte sich und suchte im Dunkel der Menschen unten ihr Gesicht, fand es auch, mattweiß leuchtend, und sah, daß sie zu ihm emporblickte. Obwohl er ihren Blick nicht wahrnehmen konnte, fuhr er fort, hin und wieder sekundenlange Blicke mit ihr zu tauschen, dieweil er dachte:

Will sie etwas? Sie sah so ernst aus; das muß echt sein. Nein, dirnenhaft war sie doch gar nicht! Empfand sie wirklich etwas für ihn? Ach, ja so wars immer mit ihm gewesen: die er hätte haben mögen, pflegten ihn nicht zu sehn, solange sie nicht wußten, wer er war, und die Unbekannten, die ihm ihre Geneigtheit zeigten, stießen ihn ab eben dadurch. Auch diese – – sie ging fast zu weit … Und was nun? Nun das Anknüpfen, das unleidlich war. Sie mußte ihm erst doch mehr entgegenkommen, damit er sicher würde, dann wars ja einfach, allein – – um so mehr würde dann wieder die Zudringlichkeit ihn abstoßen … Und natürlich grade heute mußte ihm dies begegnen, wo er nach Wochen und Wochen des Schmachtens und Leidens – nun einmal sich bedürfnislos fühlte! Dieses Leben hier war von allen Bestien die heimtückischeste.

Schweren Herzens, als der Vorhang fiel, erhob er sich doch langsam und sah sie aufstehn. Bennos Arm nehmend, schlenderte er durch das heiße Gedränge auf den Treppen und Gängen, behelligt und unwirsch vom vielen Ansehn derer, die ihn erkannten, in den Wandelgang hinter den Proszeniumslogen hinunter, der fast leer war. Sie stand in der Tür ihrer Loge und sah ihn kommen, bewegte sich vor, ging an ihm vorüber, ihn ansehend, ohne zu lächeln.

Und dann begegneten sie sich, Beide umwendend – Benno, aufgelöst in Musik, wanderte blindlings und schweigsam mit –, begegneten sich noch einmal – und lächelte sie jetzt nicht wieder? – und ein drittes Mal, worauf sie verschwand. Das grüne Samtkleid, das schlecht und lose saß, wunderte Georg, ohne seine wachsende Zuneigung viel zu stören.

Oh er würde sie lieb haben können! Wenn sie nur nicht törichten Geistes war, – aber das schien nicht so. Also mußte es sein. Mußte, mußte! Nicht wieder aus Feigheit die Gelegenheit versäumen! Nun – aber wie? – Es mußte sich finden …

Der dritte Akt war noch nicht halb vorüber, als Georg sie mit dem Gespenst flüstern sah. Dann stand sie auf, stand noch einen Augenblick aufrecht, zu ihm aufblickend, und verschwand.

Georgs Herz tat einen Sprung und begann zu rennen. Festgebannt noch für Sekunden, erhob er sich dann doch und sagte zu Benno, er müsse ihn entschuldigen, und, verlegen lächelnd: ein Abenteuer verlangte ihn …

»Aber wie denn, Georg?« fragte Benno fassungslos. »Ich hab doch gar nichts gesehn!«

Georg drückte ihm die Hand, verließ eilig die Loge, ließ sich Hut und Mantel geben und lief mit angstpochendem Herzen hinunter. Noch auf der Freitreppe sah er sie unten in der Halle stehn, – ja was für einen abscheulichen, vergilbten alten graden Strohhut hatte sie denn auf dem Kopf! – Georg fand sie so entstellt, daß er fast dies als letzten Ausweg benutzt hätte, um davonzukommen, allein was sollte Benno denken? – Sie stand – er sah sie von der Seite –, langsam einen schmutzigen weißen Glaceehandschuh anziehend –, und nun wandte sie sich herüber, sah ihn und ging schnell hinaus. Er folgte. Sehr langsam; so langsam er konnte.

Die dunkle, enge Straße war voll von wartenden Automobilen und Equipagen. Die Nachtluft atmete lau. Und dort links bewegte ihr Schatten sich davon, auf das rote Leuchten der breiten Goethestraße zu. Langsam folgte Georg, mit Entschlußlosigkeit kämpfend, mit: Soll ich? und: Soll ich nicht? wechselnd fast bei jedem Schritt. An der Ecke angelangt, gewahrte er sie erst nach einigem Suchen schon fern drüben auf der andern Seite, wo das steinerne Brückengeländer die Häuserzeile fortsetzte, und etwas rascher nachgehend, sah er sie über die Brücke, am Gitter der Molkerei hinabgehn, dann um die Ecke biegend entschwinden. Selber dort – auf einmal ganz verwirrt vom Erinnerungsgeruch der Gegend, durch die ihn jahrelang sein Schulweg geführt, – sah er sie wieder auf der andern Seite der zweiten Brücke über der Flußbiegung, und sie stand still an der Brüstung, flußabwärts blickend, – dorthin, wo am linken Ufer sein alter Schulhof lag und dahinter das rote Haus mit der Sonne auf dem Türmchen …

Ja, nun mußte es geschehn. Unaufhaltsam kam er näher. Was war zu sagen? Abscheulich war das ja! Und dies Wesen war womöglich ihre Schwester mit dem Gespenstergesicht! – Und dann ballte er sein Innres zusammen wie ein Papierknäuel, trat neben sie und sagte – eben zwei näherkommende Männer gewahrend – im Ton alter Bekanntschaft, wenn auch heiser:

»Es ist angenehm kühl hier, nicht wahr?«

Nun erst wandte sie das Gesicht herum, lächelte ein wenig krampfhaft, bewegte die Lippen und sagte endlich, dieweil Georg plötzlich in schönster Sicherheit dachte: sie hat ja mehr Angst als ich! –:

»Ja.«

Und nun gingen sie zusammen weiter, Georg besinnungslos dies und jenes redend, von der Musik, von den Darstellern, ohne zu wissen, was er sagte, – gingen die dunklen, laternenerhellten, gewundenen Straßen, wo Georg jeden Stein kannte, an seiner alten Öltzenstraße, ganz nahe am Pragerschen Hause, am Kolonialwarenhändler Kiffe, am Bäcker Engelhardt vorüber, an den alten Schildern mit Anpreisungen von Malzkaffee, Kindermehl, Leibnizkakes, – wo Georg dann merkte, daß er vor Erinnerungen wieder verstummt war – einerseits, und daß sie ja in der Richtung seiner Wohnung gingen – andrerseits.

»Wohin gehen wir eigentlich?« fragte er da kameradschaftlich.

Sie lachte leise. »Halt in die Allee.«

Und so kamen sie über den Platz und waren bald im Dunkel der noch kahlen Lindenwölbungen. Da schob Georg seinen Arm in den ihren, und siehe da, sie faßte mit der Hand, an der kein Handschuh war, die seine, und er mußte nach einer Weile wieder loslassen, um gleichfalls den Handschuh auszuziehn.

»Und nun,« sagte Georg in völliger Sicherheit, »nun erzählen Sie mir, nicht wahr! Wie heißen Sie? Nur den Vornamen, – Nachnamen interessieren mich nicht.«

»Cornelia«, hörte er sie sagen.

»Cornelia?« fragte er überrascht. Wer hieß denn Cor–? Ach, Cornelia Ring!

»Nicht Cornelia,« sagte sie lachend, »Cordelia mit d, von cor, cordis.«

»Oh Sie können ja Latein!«

»A bissel!«

»Und Bayrisch?«

»Na freilich! Oberbayrisch, mei Muttersprache!«

»Am Ende auch Griechisch?«

»Auch. A weng!«

»Das glaab i nimmer!« versuchte Georg sich Münchnerisch. »Sagen Sie mal was auf!«

Sie sah gradeaus. Er merkte beseligt, daß ihre Finger mit den seinen spielten.

»Na, fällt Ihnen nichts ein? Dann übersetzen Sie mal: Anär tis athänaios – uk ebuleto fotografizestai!«

Leicht auflachend stutzte sie. Hatte sie gelogen?

»Was heißt denn das?« fragte sie dann. »Ein griechischer Mann, der nicht photographiert werden wollte? Wo kommt denn das vor?«

»Also wahrhaftig. Sie könnens! Das ist so ein alter Schülerscherz. Dann können wir ja griechisch weiter reden.«

»Awo!« sagte sie, seine Hand drückend. »Sagens mir lieber, wie Sie heißen?«

»Wissen Sie das nicht?« fragte er unbedacht. – Sekunden vergingen, bis sie ihn ansah und fragte: »Nein, – woher soll ich das wissen?« Und Georg atmete auf.

»Ich heiße Georg.«

»Georg? Ach, das ist schön!«

»Und auch griechisch.«

»Ja: ge–oor–gós,« sagte sie mit genauer Betonung schulmäßig, »der Landmann. Sans a Landmann, gell?«

Oh dies ›gell‹ war entzückend! Georg schüttelte nur lachend den Kopf, und sie wanderten langsam weiter, schweigsam, während Georgs Herz immer zärtlicher, sein Geschlecht immer begehrlicher empfand. Sie nahm jetzt den Hut ab, schüttelte den Kopf, und Georg sah, daß ihr Haar kurz geschnitten rund um den Nacken fiel. Darüber erlag er plötzlich, blieb, sie festhaltend stehn, umschlang sie und drückte sie an sich, während ihr Kopf schon hintenüber sank, ihr Mund emporkam, doch traf er, sie küssend, erst die Wange. Dann, als er ihren Mund gewann, brauste sein Blut siedend auf, durchflammt von der erschreckenden Süßigkeit dieses Mundes. Er stolperte, sie schwankten, ließen sich dann los und gingen hastig weiter, Georg trunken und beglückt. Bald nahm er ihre Hand, dann zog er sie davon, durch die Bäume der Allee und in einen der Wege in den Anlagen. Und dann saßen sie auf einer Bank, er hielt sie fast auf den Knien, ihre Brust lag an ihm, sie ließ sich küssen, Gesicht und Hals, küßte wieder und atmete tief und wild.

Wieder stille geworden nach dem Ausbruch, fragte Georg, ganz froh vor glücklicher Überraschung:

»Nun sag, was möchtest du? Hast du Wünsche? Wollen wir nach Ägyptenland reisen? Oder nach Stockholm? Na?«

Sie schwieg; ihre Augen blieben geschlossen an seiner Schulter.

»Aber erst muß ich wissen, wer du bist, nicht wahr?« sagte er leise scherzend. Da schlug sie die Augen auf und sah ihn lange an. Endlich sagte sie ganz ernst und mit tiefer Stimme:

»Ich bin nur eine arme Seele!«

Und eine Weile später hörte er, übermannt von Mitleid, Zärtlichkeit und Staunen, sie sagen:

»Bist du denn so reich? – I moan,« setzte sie hinzu, »weils du von Reisen redst.«

»Möchtest du denn reisen?«

»Ich will, was du willst«, sagte sie leise.

Ihn überliefs. Was war das hier? Was hielt er denn hier im Arm?

Lange wars still. Ob ihr nicht kalt sei, fragte er.

Oh nein, sie sei ja ganz glühend.

»Aber schad, daß nicht Mai ist«, meinte sie dann träumerisch vor sich hin.

»Die Nachtigall …« fing er an.

»– müßt halt schlagen«, ergänzte sie wohlgemut, halblaut wie aus dem Schlaf.

»Also gehn wir doch hin, wo sie schlägt, Cordelia. Du wolltest dir doch was wünschen. Wünsch doch mal! Na, was möchtest du wohl jetzt?«

»Was i möcht?« Sie lächelte geschlossenen Auges und fuhr sachte mit lieblichem, innerm Humor fort:

»Ich sollt in eim Schloß sein dürfen … im Garten von dem Schloß –, und in an – Teich. Ja, in dem Wasser, dem kühlen, – da sollt ich stehn dürfen, bis zun Knien. Und auf meinen Armen – so ausgestreckten Armen weißt und am Kopf und den Schultern – da sollt alles voll sein dürfen von – Papagoyen. Naa! ich mein' ja nicht Papagoyen, ich mein' – Lerchen. So a kloans Gsindl, weißt! Aber – – das bräucht halt a net! Bloß das kühle Wasser bis zun Knien, das sollt schon dürfen«, schloß sie bescheiden.

»Und das Schloß?«

»Und das Schloß halt«, wiederholte sie befriedigt.

»Dann also los, gehn wir hin!« entschied Georg, sprang, sie abgleiten lassend, auf und zog sie mit sich den Weg hinunter auf die chaussierte Straße zum Schlößchen. Sie sagte lange Zeit nichts, wohl im Glauben, er scherze. Plötzlich aber hielt sie an, faßte ihn mit beiden Händen bei den Schultern und fragte, ihre Augen fest und ganz nah unter die seinen haltend:

»Georg! bist du wirklich reich?«

Er bejahte verwundert. Langsam irrte ihr Blick ab, fiel, sie senkte die Stirn gegen seine Brust.

»Ach, das ist schade!« seufzte sie tief auf. »Ich dachte, du wärest auch arm … Aber gut bist du, nicht wahr?« sprach sie, ihn wieder anblickend, hastig weiter, »bist du nicht? Ja, du bist gut! Oh sag doch, daß du gut bist, bitte sags, bitte, bitte sag mirs doch!« wiederholte sie bettelnd, gequält, bis er Ja sagte.

»Danke«, seufzte sie leise. »Dank dir viele Male. – – Gehn wir nun zum Schloß?« fragte sie kindlich zum Spaß. Er nickte nur, verwirrt von all dem sonderbaren Hin und Her, aber sehr gerührt, dankbar und voll Vorfreude über die kommende Überraschung.

»Ists das?« fragte sie, als zur Linken die Hausecke im Dunkel sichtbar wurde. Er nickte nur und zog sie weiter an der Hand, die Rampe empor vor das Portal, wo er sein Schlüsselbund hervorholte und mit den Worten »Wolln mal sehn, ob einer paßt!« einen nach dem andern versuchte, bis er den richtigen nahm und aufschloß.

»Es geht ja auf!« schrie sie ganz entsetzt. Er aber war schon im Saal, drehte die Lichtkurbel, nahm den Hörer des Haustelephons von der Wand, hörte nach Sekunden – dieweil er sie dastehn sah, ihren alten Hut in der Hand, fassungsloses Staunen überm ganzen Gesicht – des blassen Egon verschlafene Stimme und trug ihm auf, Limonade und zwei Gläser ins Arbeitszimmer zu bringen.

»Oder magst du lieber Wein? Ich trinke keinen«, fragte er sie, die mit runden feuchten Augen immer noch langsam umhersah. Dann schien sie ihn zu erkennen, ihre Augen verdunkelten sich schwer, auf einmal war sie vor seine Füße hin an den Boden geglitten, legte die Stirn an seine Knie und sagte:

»Habe Dank, Herr!«

Und nach einer ganzen, für Georg fast verzweifelten Minute in der Scham seines Nichtseins und Scheinens:

»Ich bin dein eigen.« –

Dann gelang es ihm endlich, sie hochzuziehn. Sie ließ sich geduldig küssen wie ein erschöpftes Kind, lachte dann leise und verlangte, wieder in ihrem kindlichen Spaßton, »das Übrige.«

Georg schloß aus alledem mit Bestimmtheit, daß sie Schauspielerin war; zwar hatte er nie eine gesehn, die so fortwährend agierte; aber die Art, wie sie's tat, war ihm bezaubernd.

Als aber bald darauf im Arbeitszimmer die Mondsphäre aufleuchtete, war sie vor Andacht kaum zu bewegen, daß sie die Stufen herunterkam, und dann ging sie umher und bewunderte und berührte ein jedes, die Kostbarkeiten, die Blumen, die Möbel, mit einer kleinen, scheuen, bittenden und vertraulichen Bewegung der Hand, bis sie vor dem Pensieroso in vollkommenes Schweigen versank. Unterweil brachte Egon Limonade, Georg mischte ein Glas, brachte es ihr, und sie nahm es, ohne es zu bemerken, trank und gab es ihm wieder.

»Man möcht ihn immer anschaun«, sagte sie endlich. Und, die Hände faltend vor der Brust:

»So möcht man auch einmal können sitzen – immer so – und nachdenken, immerfort nachdenken, wie das alles kommt …«

»Ja, nun bin ich im Schloß!« stellte sie erwachend fest. »Und du bist also der Prinz. Schad, wie a Prinzessin schau ich net aus da herum!« sagte sie, den Fuß vorstreckend, um ihn auf ihr altes Kleid aufmerksam zu machen.

Georg lief zur Truhe neben dem Kamin. Darüber gebückt, in den seidenen Zeugen wühlend, erinnerte er sich mit Macht, aber er wollte sich nicht Esthers erinnern, wühlte stumpf weiter, den roten und blauen Bademantel hervor, den Sigurd, den Kimono, den Ulrika getragen. Es mußte etwas Dunkles sein für Cordelia, – nein, es war nichts, das gepaßt hätte, außer Esthers Gewand. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, als er es Cordelia brachte und sie, ganz wie Esther dazumal, ins schnell erleuchtete Schlafzimmer damit drängte. Dann kühlte er sich mit Limonade und versuchte, zu glauben, daß Esther das Kleid gerne hergab.

Ihre Stimme hinter sich hörend, drehte er sich um. Oh sie sah nun köstlich aus in dem düstern Kleid mit feurigen Blumen, das sie, nacktfüßig, mit beiden Armen an den Leib drückte, schmitzäugig flüsternd; sie habe nichts drunter an; so weich sei's, so …

Er glaubte, alles zu begreifen, sprang auf sie zu, ergriff ihre Hand, lief mit ihr zur Gartentür, öffnete und zog sie ins Freie, den Weg hinunter durchs Gebüsch bis an den Wassergraben. – Das sei der Teich, den er hätte. Aber ob es ihr denn wirklich nicht zu kühl sei …

Sie stand, den Kopf im Nacken, lange nach oben blickend. Endlich flüsterte sie melodisch und auch theatralisch:

»Nicht Mond noch Sterne in der Nacht. Dann will ich leuchten!« und ließ das Kleid an den Boden fallen.

Georg zitterte in den Knien. Er wagte fast nicht, sie anzusehn, sah die dunkle Wasserfläche, das schwarze Strauchwerk drüben, auch – einen grauen Fleck im Schwarzen der Flut – den jungen Schwan, der sich bewegte, und endlich sie selber, die wieder erhobenen Hauptes aufwuchs aus der Erde, völlig wie Marmor so bleich weiß, so weich und schmal, aber mit vollen, schönen, breit aufgesetzten Brüsten. Sein Blut lief über, er lag an der Erde und küßte ihre Knie, ihre Füße, sprang wieder auf, wollte sie an sich ziehn, erschrak, ihre Brust berührend, weil sie kühl war, nein kalt, wie Marmor, jedoch weich, – allein sie wies ihn leicht ausweichend von sich und ging schnellfüßig die schräge Uferböschung hinab bis ans Wasser. Er sah, daß sie strahlte mit ganzem Leib. Nun rauschte die Flut, in die sie watete. Stehen bleibend, drehte sie sich nach ihm um; er hörte durch das Brausen in seinen Schläfen ihre Frage, ob der Schwan gefährlich sei, und sah, leise verneinend, sie tiefer in die schwarze Flut gehn. Der Schwan kam jetzt mit leichten Stößen heran, – er war jung und zutraulich –, bewegte voll Anmut den Hals auf und nieder, drehte den Kopf, beschrieb einen Kreisbogen, sie streckte die Hände nach ihm aus und lockte, da kam er näher, ganz nahe zu ihr, richtete sich auf, spreizte sich und schlug mit den Flügeln. Stillehaltend danach, ließ er sie sich zu ihm bücken und ihn liebkosen, schmiegte den Hals an ihr empor und legte den Schnabel auf ihre Brust.

Fast kühl ward es Georg im Hinsehn. Die Nacht war unbewegt, windlos, geräuschlos, wie ohne Jahreszeit, nur Nacht, und, ins Vorjahrgras der Uferböschung niedergleitend, fühlte er das Rieseln über Rücken und Armen vom unbegreiflichen Schauder einer Furcht, bis er jetzt ganz überronnen, schamhaft wie ein Knabe das Gesicht in den Händen verbarg, dann völlig verwirrt, glücklich, schwellend von tausend Gefühlen, sich auf dem Rücken ausstreckte.

Leise rauschte es wieder in der Flut. Er sah sie heraufkommen, nicht dort, wo er lag, ein wenig links von ihm, und hingleiten. Lange Sekunden mußte er ohne Bewegung bleiben, nach oben blickend, trunkenen Auges. Als er sich dann zu ihr wandte, lag sie abgekehrt, ganz still, und wie er nun die Hand ausstreckte nach ihrer Schulter und sich hinüberbog, erkannte er, daß sie den Kopf auf den Arm gelegt hatte und weinte. – Erschrocken zog er die Hand zurück, streckte sie wieder aus, wollte etwas sagen, blieb stumm, ratlose Bestürzung im Herzen und Mitleid, so wenig er begriff.

Plötzlich lag sie auf den Knien, das Haupt tief hintenüber zum Rücken gesenkt, die Arme schlaff. Trotz des Dunkels konnte er sehn, wie ihre Brust sich hochwölbte und spannte, bis ihr Mund mit einem haschenden Wehlaut aufbrach, und sie seufzte ein sterbend tiefes, erschütterndes: Ach!

Im nächsten Augenblick war sie aufgestanden und ging langsam, ohne nach ihm zu sehn, das Ufer hinauf, den Kopf gesenkt, schlaff hangender Arme, und weiter und zwischen dem schwarzen Strauchwerk fort, wo das Weiß ihrer Glieder noch lange schimmerte. Endlich klang leise die Tür zum Haus.

Georg wartete, still in sich hinein lächelnd. Sie schämt sich nun, dachte er, oh wie werde ich sie lieben können!

Als aber sein Blut anfing, heftiger zu sausen, das Zittern der Begehrlichkeitsangst über der Herzgrube wütender pochte, spiegelte er sich vor, sie erwarte ihn drinnen, im Schlafzimmer womöglich – und ging, jedoch langsam.

Das Arbeitszimmer war leer. Die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen, und drinnen war Licht. Er trat leise näher und spähte hinein. Niemand war darin.

Georg fühlte sich einen Augenblick versucht, die Schränke zu prüfen, ob sie sich in einem versteckt halte, doch brachte ers nicht fertig, ging ratlos ins Zimmer zurück, und als er absichtslos über den Schreibtisch hinblickte, schien ihm dort irgend etwas verändert. Nähertretend sah er auf dem weißen Löschblatt der Schreibunterlage große Schriftzüge, mit dem Blaustift geschrieben, der noch darüber lag.

»Dank! Dank! Dank!« las er; und darunter: »die arme Seele.«

Haß und Enttäuschung, die aufquellen wollten, kamen doch nicht hoch vor dem Schauder der Ratlosigkeit und des Staunens. Seine Stirn sank langsam vornüber, indem er in den Stuhl hinabglitt. Er hätte weinen mögen vor Bitterkeit. Dann verging auch diese in offenbares Nichtverstehn. Sie wieder im Wasser unter sich sehend, beneidete er den Schwan. Bald fühlte er sich müde, stand kopfschüttelnd auf, lächelte mit Anstrengung und begab sich ins Schlafzimmer.

Renate

Renate erwachte beim Frühgeläut aus der nahen katholischen Kirche, dehnte sich, machte die Augen versuchsweise ein paar Mal auf und wieder zu und stellte fest, daß sie friedlicher und behaglicher Laune war. Vielleicht, dachte sie, kommt ein Brief, oder Besuch, und sie streckte sich gerade aus, faltete die Hände unterm Nacken, sagte sich, wie wunderbar breit ihre Muschel von Bett sei, heftete die Augen auf die bei der Dämmerung kaum kenntlichen Züge der dunklen Madonna Feuerbachs drüben an der lichten Wand, schnurrte schließlich gähnend wie eine Spirale in sich zusammen und sprang aus dem Bett. Im Schlürfen ihre bastenen Badeschuh an die Füße bringend, ging sie ans Fenster, das weit offen stand, schlug den Vorhang zurück und fand den kaum ergrünten Garten angenehm verschleiert von einem lautlos fallenden Regen, worauf sie mit schönem Schaudern wieder unter die Decke kroch, um sich zu erinnern, was sie geträumt hatte. – Allein unvermutet entglitt sie sich selber, und langsam, nicht wissend, ob sie wache oder träume, sah sie es vor ihren Augen sich entfalten …

Sie glaubte, daß sie auf der Veranda stehe und über die Stufen in den Garten schaue, in dem es nicht dunkel, nicht hell war; schattenloses Traumlicht herrschte, es war alles grün, Bäume und Büsche standen dichter und stiller als sonst. Da begann etwas Weißes sich im Garten umher zu bewegen, und sie erkannte sich selber, die auf dem um den Rasenplatz führenden Wege plötzlich deutlich sichtbar ward und sich in das enge Grün hinein entfernte. Darin taten sich immer neue Wege auf, und ihr Gehen war schön und friedlich anzusehn, und jetzt war sie es auch wirklich selber, die ging, und sie sah sich nicht mehr. Hinter ihr sagte die Stimme Bogners: Jetzt kommen die großen Verneigungen. Da war wieder die weiße Gestalt, sie selber, und hatte auch schon angefangen, sich zu verneigen, mehrere Male, im Gehen, und aus Verneigung und Sichaufrichten wurde ein sehr ernster Tanz, der endete, indem all dieses verschwand in einem grenzenlosen, leidenschaftlichen Schluchzen, das aus allen Tiefen und Höhen zugleich herauszuquellen schien, zusammenschlug und sie verschlang. – Renate ging suchend im Garten umher, Magda wars, die sie hinter allen Gebüschen suchte, immer ängstlicher und aufgeregter, allein immer, wenn ein Weg und ein Blick frei zu werden schien, verstellte etwas die Aussicht, ein Mensch, den sie umgehn, ein Busch, ein Zaun, ein kleines Haus, um die sie laufen mußte, und auf einmal befand sie sich vor ihrer Orgel, die mitten in einem Walde stand. Es war dämmrig geworden, und oben auf den matt glänzenden Pfeifen saßen regungslos viele dunkle Vögel ohne Augen, und sie sagte: Das sind die Eulen. Sie mußte die Bälge wohl angetrieben haben und dachte, wenn ich ganz leise spiele, werden die Eulen es vielleicht nicht merken, sonst würden sie gewiß aufgeplustert und in die Luft geworfen werden, und sie zog Vox humana und das Flötenmanual auf, aber indem sie nach ihren Füßen blickte, die sie auf die Pedale setzen wollte, hörte sie hoch über sich die Vox humana ganz fern Agnus dei singen, vor ihren Füßen aber rauschte Wasser klar hervor, die Orgelpfeifen standen darin, und in der hellen Flut wurden erst Hände, dann Bogners Züge sichtbar, die langsam nach oben schwebten, anzusehn wie ein grüner Wassergott …

Renate fuhr zusammen und spürte, daß sie lag. Und jetzt, da das Glockengeläut schwieg, hörte sie die kleinen Takte und Pausen der schwarzen Amsel und wußte, daß die es gewesen war, die im Traum Agnus dei sang.

Eine Weile noch lag sie still; die Amsel sang nicht mehr; sie hörte das Hausmädchen, das die Treppe fegte und mit dem Schmutzblech klapperte, und auf einmal – fühlbar – merkte sie den Stillstand in sich und fragte: Wie kommst du hierher, Renate? – Sie lag und mußte still liegen, und es war Unveränderlichkeit, das wußte sie, solange sie diese Lage festhielt. Nichts konnte geschehen, zuvor war alles ein beständiges Fließen, Gleiten, Nachfolgen gewesen, nun aber war sie hier angelangt, aus gelinder Flut den Kopf an ein schlichtes Gestade hebend, rückschauend über Strom, Brücken fern, Stadt und Türme, – wie fremd sah alles aus! Wer denn hatte sie hierher getragen? Es schien ihr nun, als ob einmal viele Arme und Hände sie umschlungen hatten, worauf ihr Leben sich zerstreut, immer zur Hälfte, zu Dritteln, zu Fünfteln sich weggegeben hatte, und jedesmal entstellte und beraubte der fortgegebene auch den gebliebenen Teil. Wann hatte das angefangen? Als sie in dies Zimmer kam, in dies Haus. Ja, hatte sie vordem nicht allein auf sich gestellt hingelebt? Zugleich freilich ihrem Vater, aber wie war der ihr gewohnt gewesen! Der war nun schon so lange tot, daß sie, seiner gedenkend, nichts empfand als sein gütiges Gewesensein in ihrem Leben, nichts sah, als sein immer freundliches altes Gesicht. – Dann, ja, dann war dies hier gekommen, Erasmus, Josef, der Onkel, und bald alle die Andern, die Friedliebende Gesellschaft, Saint-Georges und – Bogner. Und lange schon waren Viele von ihnen wieder fort. Herbst, Winter, Frühling, – das waren Namen, – für was? Orgel- und Klavierspiel, Arbeit mit dem Freunde, ein Konzert, ein Besuch, ein Mensch, der von der Reise kam, Gespräche, viel Bücher, immer Beschäftigung, und alldas – wozu? Wellen durchs Herz, spurenlose. Sie mühte sich eine Zeitlang, deutliche Erinnerungen zu finden, aber im Augenblick hatte alles ins Unsichtbare sich hinweggezogen, es war leer, Windstille, Eisvogelbrüten. Siedendheiß ward ihr plötzlich. Liebte ich nicht jemand? fragte sie lautlos, aber beinah grimmig in die Stille hinein, richtete sich auf und heftete die Augen angstvoll ratlos in die regenumschleierten Wipfel draußen. Wie weiß das Zimmer ist! dachte sie plötzlich, und, mit Heftigkeit die Knie an sich ziehend, die Hände neben sich aufstützend, zur Tür blickend, sagte sie laut: Hier kommt niemand herein. –

Da mußte sie lächeln über diese Versicherung an sich selbst. Und was habe ich schon davon, murmelte sie und ließ den Kopf hängen. Eine Flechte fiel an ihrer Wange herab, sie ergriff das Ende davon und strich damit über die Decke wie mit einem Pinsel.

Ich bin wohl, sagte sie sich kühl, zu Manchem hingegangen; wer kam zu mir? Niemand. Wie? Kam nicht Josef, nicht Erasmus? Georg vielleicht, war der nicht auch auf dem Wege gewesen, und wie war das mit Sigurd? Aber du, du, du, eiferte sie böse, du kamst nicht, und was sollten mir also die Andern! – Sie schleuderte ihr Haar hinter sich zurück, packte es mit beiden Händen am Hinterkopf und warf sich so ins Kopfkissen. – Mein ganzes, unverbrauchtes Herz habe ich so in der Hand, knirschte sie wutentbrannt, wie dies Haar, meines Weges bin ich dahergeglitten, und nun kommen die tiefen Verneigungen. – Da mußte sie nun lächeln, ihres Traumes gedenkend, und jetzt gedachte sie einen schönen Namen zu flüstern, einen selbstgesprochenen Namen zärtlich zu hören, aber statt dessen schleuderte sie die Füße unter der Decke hervor und saß nun aufrecht auf dem Bettrand, vorgebeugt, die Hände aufgestemmt, und horchte. Alles blieb still, aber ihr Herz schlug laut und langsam. Plötzlich schlug es dreimal schnell hintereinander, setzte aus und ging wieder ruhig. War sie erschrocken? Sie lächelte über sich selbst. War jemand ins Haus gekommen? Die Klingel konnte sie hier nicht hören. Sie blickte auf die Uhr, es war acht. Gleich darauf klopfte es an der Tür, und das Mädchen meldete Frau Tregiorni.

Als Renate nach beschleunigtem Bad und Ankleiden herunterkam, wurde ihr gesagt, Ulrika sei in der Kapelle. Es regnete heftiger, sie mußte unterm Schirm hinübergehn. Ulrika, in einem nassen Lodenmantel und Kapuze, frisch und lebendig aussehend, stand vor einem von Bogners Engeln. Ja, nun mußte Renate erst ihr Kleid von allen Seiten in Augenschein nehmen lassen und erzählen, daß sie sich für den Winter als Haustracht drei solcher einfacher Röcke habe machen lassen, einen russischgrünen, einen violetten und einen eisengrauen; die Blusen hatten die Form eines russischen Kittels mit ledernem Gürtel, an dem der Hals frei blieb und der Verschluß von der rechten Seite des Ausschnittes schräg über die Brust hinunter zur linken Hüfte lief. Ja, und der graue Kittel war orangefarben gepaspelt, und man konnte jeden Kittel zu jedem Rock tragen, und so trug sie heute Grau und Grün zusammen. Alle Farben könnte sie tragen, jammerte Ulrika, sie mit ihrem roten Haar hätte bloß ihr ewiges Blau oder Grün, und an Festtagen Lila. »Braun hab ich dir doch offenbart«, lachte Renate und umarmte sie. – Warum sie aber wohl in aller Herrgottsfrühe herausgelaufen sei? – Dies wußte Ulrika keineswegs; es hätte so schön geregnet. Und sie hätte so seltsam geträumt, sagte sie nachdenklich.

Während Ulrika ihren Traum erzählte, frei in der leeren Kapelle stehend, den Blick im offenen Fenster, wogten so seltsame und wirre Empfindungen durch Renate, daß sie plötzlich erschrak, da sie allein, als habe sie Ulrika geträumt, vor ihrer Orgel saß. Nachträglich begann jetzt Ulrikas Erzählung sonderbar in ihr zu klingen, in einem langsam schreitenden Takt, der die Worte allmählich ordnete, und sie begann in das erste beste Notenbuch vorn auf die leere Seite den Traum aufzuschreiben, folgendermaßen:

Mir träumte: In der nächtigen Allee
Entgegen kam ich ihm; ich sah: er war es,
Jedoch ein Fremder schien er, und er ging
Vorüber mir wie ich an ihm, jedoch
Nach wenig Schritten mußte ich mich wenden.
Da stand er hergewandt nach mir, und Beide
Entgegen kamen wir uns nun und sahn
Uns lange ernsthaft, ernsthaft in die Augen.
Ich kann nicht sagen, was ich da empfand.
Wir gingen nun zusammen, er und ich,
Hinab die finstere Allee ganz schweigsam.
Am Ende blieb er stehn, ich aber bog
Zur Seite in den Park, und um den Teich
Ging ich und sah nicht um, doch als im Bogen
Ich weit herumgekommen war, da sah
Ich ihn, wie er mir langsam nachging. Endlich
Fand ich die Bank, wo wir einmal die Drossel
Am Abend hörten und gesprächig wurden.
Dort setzt ich mich. Da kam er, und er sah
Nicht mich und ging vorüber als ein Fremder.
Verschwunden war er, aber ich stand auf
Als eine andre; als ein andrer Mensch;
Neu war ich, reif, vollkommen, ganz in Frieden,
Mit mir, mit euch, mit Gott; nicht klug, nicht reich,
Jedoch gehalten, aufrecht, und von innen. –
Sag, warum weint ich so, als ich erwachte?

Sag, warum weint ich so, als ich erwachte, wiederholte Renate noch willenlos, auf die geschriebenen Bleistiftzeilen starrend. Dann errötete sie langsam, während sie sich fragte: Habe denn nun ich das geträumt, oder wer? – Sie sah Gegend und Menschen dieses Traumes dergestalt leibhaft, daß ihre Vernunft ihr in Verwirrung zu geraten drohte. Auch die Amsel sang in diesem Traum, bloß hatte Ulrika gesagt: Drossel. Nein, ›entgegen kam ich ihm‹, das hatte sie nicht gesagt, sondern: ›Bogner‹.

Renates Augen, die gedankenleer langsam nach oben gingen, trafen sie selbst in dem kleinen Spiegel über ihr. – Ja, so schreckhaft bin ich geworden, sagte sie vor sich hin, daß ich den Spiegel da habe machen lassen. Manchmal kam Onkel ja herein, während ich spielte. Wie oft saß ich schon hier, sagte sie, sich immer ansehend, entfremdet hinter dem Spiegelglas, seltsam zusehend, wie in den Zügen Bewegungen entstanden, eine Wendung des Halses, ein Senken der Lider, die doch sie selbst machte, die aber da drinnen von selber vor sich zu gehn schienen, – wie oft saß ich hier, spielte nicht, hatte die Hände im Schoß und hatte in ihnen so wenig wie im Herzen. – So saß sie nun wieder, müde an sich selber, ratlos, tatlos, sah durch das in ihrer Nähe offene Fenster das matte Regengrün des Gartens, hörte die Spatzen und die ersten Töne der Grasmücken. Verging nun Zeit? Ja, es regnete nicht mehr; ganz fern, kaum hörbar sang die Amsel. Verging Zeit? Sie schloß die Augen, sie hörte wieder das spitze Picken von Regentropfen auf Blättern, und nun strömte es schwer herunter, es wurde dunkler, es rauschte ganz um sie her, schließlich spritzte es naß zu ihr herein, und sie stand widerwillig auf, ging die Stufen hinunter und schloß das Fenster, hinter dem die Sträucher sich unwillig im Regenstrom hin und her warfen. Ihr fiel ein, daß es Zeit sein müsse, zu Saint-Georges zu fahren, aber sie brachte es nicht fertig, die Uhr hervorzuziehn, sie stand vor dem großen Engel, der mit der kleinen Harfe in ausgestreckten Händen durch die Landschaft über die Wand hineilte, dachte: So läuft er an mir auch vorüber! und ärgerte sich ungemein, daß sie immer und immer an ihn dachte. Da schüttelte sie sich, ging zur Tür, sah nichts mehr, fühlte nur das große Rauschen der Wasser, das alles in sich hinabschlang, fühlte sich ergebungsvoll und nachlässig gefangen gehalten. Durch diesen Regen komme ich ja nicht, sagte sie. Wozu hinaus? Ich schlafe langsam vor meiner Orgel ein, die Eulen setzen sich lautlos auf die Pfeifen, damit kein Staub hineinfällt, und ich werde hundert Jahre so sitzen. Nicht Jahre, nein, Jahr-en! sagt man hierzuland. Die Orgel schläft über mir, der Regen braust, wir wachen niemals auf.

Auf einmal war sie dabei, nachzurechnen. Jeden Vormittag vier Stunden Arbeit mit Georges; jeden Tag wenigstens zwei bis drei Stunden Klavier und Orgel; jeden Tag mindestens ein Besuch bei Kranken oder Bedürftigen; dazu Küche, Haushalt und all die Rechnungen, nur Abends Erholung, ein Buch, ein Konzert, ein stilles Gespräch mit Georges. Es ist so viel, daß ich mitunter nicht zum Nachdenken komme. Warum genügts mir denn nicht? Ist mein Herz nicht dabei?

Sie verlor sich, lange gedankenlos, mußte sich mühsam besinnen, schreckte zusammen und flüsterte: Nein, so ists aber nicht! Mein Herz ist immer dabei, und ein jedes ist mir Freude, solange ich dabei bin … Aber eben: solang ich dabei bin nur, und wenn ich jetzt daran denke, so meine ich – so mein' ich …

Wieder sich verlierend, ertappte sie sich, daß sie schief auf dem Stuhl saß, den rechten Ellbogen auf dem Knie, die Hände gefaltet, vornüberhängend, aber sie war minutenlang unfähig, die Haltung aufzulösen, saß nur gelähmt und vermochte sich nicht zu helfen, bis ein Gezwitscher draußen vorm Fenster sie aufzuschauen bewog und sich grade zu setzen.

›Die rechte Freude am Leben‹, träumte sie dann, ›kann nur von einer tiefen liebenden Erregtheit kommen, gleichviel auf was sie sich richtet, Gott oder Mensch oder Sache; denn dann findet sie ihre Erfüllung in jedwedem Tun, jedem Geschäft und Gedanken, und alles wird liebevoll. Dann formt sich das ganze Wesen in Tätigkeit aus, nichts wird gespart, nichts unterdrückt, und die Belohnung ist guter heilsamer traumloser Schlaf.‹

Das war Papas Rede, dachte sie, Wort so für Wort. Ja, so war er selber erfüllt von Gott, und ich wars von ihm, aber heut bin ich leer.

Plötzlich schrak sie zusammen. Ihr Herz schlug laut, sie atmete schwer. Was ist das, mein Gott, dachte sie angstvoll, ich war doch so leicht und bewußt beim Erwachen? Was geht denn vor? Was geschieht jetzt? – Und einen Augenblick lang war sie völlig wie verzaubert, gelähmt, nicht imstande, ein Glied zu bewegen. Aber dann wußte sie: Mein mattes Herz, meine schwache Seele, mein müder Geist, die lähmen mich so. Nutzlosigkeit, sagte sie langsam vor sich hin. Und danach, mit Anstrengung, sich selber verlockend:

Es ist nicht die Stille. Es ist nicht das Unglück dieses Hauses, nicht das finstre Wesen des Erasmus, nicht die Angst vor dem Onkel, nicht mein Schuldgefühl, was mich so lähmt, mich so ungefüge, so nutzlos, so kleinmütig, so beklommen, so elend macht. Vielleicht, ja, es wird auch all dieses mit sein, aber seit wann bin ich denn so, daß Fremdes mich hindert, anstatt mich gut und hülfreich zu machen?

Tief in ihr schrie eine gellende Stimme: Was ich bin und habe, Leib und Seele, Leib und Seele, alles, alles, Herz und Schoß, Brust und Knie, Haar und Augen und Lippen will ich – will ich – –

Auf einmal lief sie gepeitscht durch den Raum, aufs Podium, drückte sich mit dem Rücken, die Hände ringend, in die Nische der Tabulatur zu den Registern hinein, warf den Kopf in den Nacken, als biete sie den Hals einer Kralle, einem Gebiß, das hineinschlagen solle, wehrte sich, kämpfte, überwand sich, senkte das Haupt wieder, blickte starr, schloß die Hände, rang die Hände. Sie demütigte, zerknirschte, öffnete sich, wollte, versuchte zu sprechen, flüsterte, gestand und sprach: Ich will bekennen.

Wieder warf sie sich herum. Ich will, ich kann nicht, hilf mir, mein Gott! Und sie umklammerte mit den Augen ein Bündel Pfeifen und sagte laut und deutlich empor:

Auf dich warte ich jeden Tag. Um deinetwillen leide ich, durch dich bin ich so müde, so lahm, so nichtswürdig, so arm. Ich liebe dich, du! Ich liebe dich, ich liebe dich! Von mir und dir rührt all dies Elend her, an deinem Leben hänge ich, an deinen Lippen schlafe ich, von deinen Augen träume ich, du machst mich so schwer. Für dich singt die Drossel, zwitschern die Vögel, grünen die Bäume und blühen die Sträucher, aber ich habe meine Augen abgewandt, und all das ist mir nichts. Vergieb mir, du, meinen Stolz, höre mich an, erhöre mich, sei gut zu mir, tröste mich, richte mich auf, mache mich wieder gut, komm zu mir, komm zu mir! Ich vergesse die Welt, wenn du da bist, ich vergesse mich, wenn du da bist, ich bin leicht, ich bin gut, ich bin schön, wenn du da bist. O vergieb mir, du bist ja langmütig! vergieb, du bist freundlich, vergieb, ich war so klein! Sage mir, daß du bist, so will ich alles Elend der Erde tragen. Sage mir, daß du an mich denkst, so will ich tapfer sein und nicht sorgen. Sage mir, daß du morgen kommen willst, so will ich mich ver–wan–deln …

Sie brach ab, denn sie hatte unweigerlich einen Schritt auf den Steinfliesen der Veranda gehört, und doch war das unmöglich, denn die war viel zu fern. Sie schwankte todbleich. Was habe ich getan? Hat er mich gehört? Rief ich ihn her? Und indem wurde sie ganz kühl. Jetzt kommt Ulrikas Freund, dachte sie friedlich, und siehe da, in der Tür stand Bogner, schwenkte einen triefenden Hut, lachte und rief, ob Ulrika nicht da wäre. Renate lachte gleichfalls und erwiderte, sie sei eben gegangen. Der Maler kam einen Schritt vor, drehte und besah seinen Hut, schien unschlüssig und murmelte endlich verlegen, ja, dann könnte er wohl wieder gehn. Scheinbar war er in Ulrikas Wohnung gewesen, aber er vergaß natürlich, das zu sagen. Einen Augenblick später war er verschwunden. Renate aber hörte, eigentümlich melodiös und schmeichelnd die Worte auf sie zuschweben: Ja, wenn du lebtest, wäre vieles nicht. Der Tag nicht blaß, es glänzte dein Gesicht. Die Nacht nicht schwarz, du leuchtetest mir gern, ach, du bist fern, bist fern, bist fern, – ich weine nicht. –

Freilich nein, gütiger Himmel, sie weinte nicht. Ja wenn – du – leb–test! sagte sie mit listiger Betonung vor sich hin. Bogner? Das war ja ein gänzlich fremder Mensch gewesen! Sie mußte sich umdrehn und an den Orgelpfeifen emporsehn, ob da vielleicht noch von ihrem Bekenntnis etwas hafte und ihr beweise, daß es ihm, Bogner gegolten habe. Nein, da war nichts. Dieser Bogner aber war nur ein Bild, eine Heiligenfigur gewesen, und sie hatte an ganz jemand Andern gedacht. An wen? An irgendwen! Und was war nun? Erlösung? Freiheit, Guterdingesein, Hoffnung, Sicherheit, Zukunft, Irmelin Rose, nämlich: alles was schön ist? – Nichts davon, nein, sondern eine furchtbare Traurigkeit senkte sich in schwarzen Schauern über sie, Schritte waren im weichen Sand des Gartens hörbar, langsam, unbekannte, – nein, war das – –?

Und langsam, wie ein Geist in ihren Augen anzusehn, dem sie entsetzt entgegenstarrte, stieg die schwere Gestalt des Erasmus die Stufen in der Tür herauf, den Kopf gesenkt, und nun sah er sie erst, zuckte ein wenig die Stirn empor, stand still, murmelte: »Verzeih, ich dachte –« Dann ganz heiser: »– bei dem Regen …«

Dann warf er die Schultern auf und nieder, als wende er sich im Rock angewidert hin und her, wütend, daß er gekommen war. Renate glaubte, sie würde im Augenblick zu ihm hinfliegen, ihm zu Füßen, ihn anzuflehn, er solle gut sein, anders sein, – ja, was denn? – – Aber sie stand, ganzen Leibes in die Tabulatur hineingedrückt, die Augen im Schrecken weit offen, und danach, als er wieder verschwunden war, sank ihr der Kopf langsam wie abgeschlagen vornüber auf die Brust.

Viel später fand sie sich, durchnäßt vom Regen, mitten im Garten, wie sie zu den Fenstern aufsah. Ohne Willen machte sie sich dann zurecht und fuhr zu Saint-Georges wie alltäglich.


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