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Fünftes Buch
Fragmente aus den halkyonischen Jahren II
oder
Cordelia

Erstes Kapitel: Februar

Ulrika

Renate und Ulrika saßen des Abends an den beiden ineinander geschobenen Flügeln unterm Orgelpodium und übten an Johannes Brahms' deutschen Tänzen, als Renate, der Orgel gegenübersitzend, eine dunkle Gestalt hinter Ulrika vorübergehn und die Stufen zur Empore hinansteigen sah. Schreckhaft, wie sie diesen Winter war, nahm sie die Hände von den Tasten, blickte, während Ulrika noch einige Takte weiterspielte, angestrengt durch den rötlichen Nebelglanz der Lichter und sah nun, daß es Saint-Georges war, der sich grade leise in den Drehsessel oben niederließ. Vor drei Tagen war er verreist, um seinen plötzlich verstorbenen Vater zu beerdigen, – ihn, von dessen Dasein Renate niemals etwas geahnt hatte.

Da auch Ulrika jetzt auf und zu ihr herüber sah, sagte sie:

»Georges ist gekommen.« Und zu ihm hin leise: »Schon zurück?«

Er nickte. Sein Gesicht in der dunstigen, rötlichen Beleuchtung der wächsernen Kerzen schien ihr nicht blasser oder trauriger als immer, – doch wars vielleicht eben dies, was sie bewog, aufzustehn, zu ihm hinauf zu gehen und eine Hand auf seine Schulter zu legen.

»Bleib sitzen,« sagte sie, da er eine Bewegung machte, – »ist es gut hier?«

»Das wollte ich sagen, Renate. Ja, wieviel Kerzen habt ihr denn da angezündet?« Er zählte über die dicken gelben Kerzen in graden Silberfüßen hin, die sich in der schwarzen Politur der Klaviere spiegelten, und sprach weiter: »Acht Stück. Eine schöne Zahl, die mir immer angenehm war. Sie enthält so viel und ist so ordentlich und glatt, auch der Laut: acht, – zwei mal zwei mal zwei. Schade übrigens, daß ihr selber das gar nicht sehn konntet, wie ich, als ich hereinkam von weitem, euch dasitzen sah in dem rötlichen Nebel der Lichter an den großen schwarzen Instrumenten, und dazu deinen großen schwarzen Kleidrock, dein farbiges Gesicht, und Ulrikas rotes Haar und braunes Kleid; dazu die graue Orgelwand über euch, und umher –« er machte eine umschreibende Handbewegung – »die sechs gemalten Unsterblichen an den Wänden. Es war nicht ganz düster – und auch nicht sehr froh, – ja, eigentlich wars ganz so, wie wenn man von Begräbnissen kommt und wieder ins Leben will. Dank für den schönen Übergang, Renate,« sagte er zu ihr empor und, ehe sie etwas sagen konnte, »bist du mir zuliebe so schwarz heut? Ja, du bist ein guter Mensch.«

»Möchtest du mir nicht ein wenig von deinem Vater sprechen?« bat sie.

»Ja,« sagte er, »es gäbe wohl allerlei zu er – zählen. Aber das ist nun immer so: wenn ich nur die Klinke an der Vorgartentür anfasse, so weiß ich schon: hier ist alles anders. Jetzt bleibt vieles draußen, denn hier ist die Grenze. Hier endet eine Welt, hier fängt eine andre an. Hin und her zwischen beiden gehen nur die Körper; die Seelen aber sind andre, ganz andre. Ich stand vorhin schon eine Weile bei der Tür und bewunderte die Engel.« Er lächelte zu Ulrika hinunter. »Die gemalten, meine ich. Sie sind jedesmal gewachsen, wenn ich komme; tiefer ist ihre Einsamkeit, mächtiger ihr Schritt, – und da sitzt ihr nun zwischen ewigen Wänden und ertragt es so mühelos. Freilich euch Frauen sind Dinge selbstverständlich, die wir nie begreifen. Es braucht fast nur etwas recht groß zu sein, so seid ihr zuhause darin, als wäre es für euch gemacht. Als wäret ihr darin aufgewachsen. Ja, ihr wachst; unsereiner muß immer Stufen steigen und sie obendrein selber haun. Ich habe dir da ein Paket auf den Stuhl gelegt. Es sind Briefe meines Vaters, die du lesen sollst. Mein Vater lebte fünfundzwanzig Jahr in einer Irrenanstalt, und nun ist er endlich tot.«

Renate wagte nicht, sich zu bewegen. Nur ihre Hand schob sie ein wenig höher, so daß sie seinen Nacken berührte. Sie sah die Kerzenflammen leise sinkend sich zusammenziehn, während andre flatternd in sich standen, sich aufrichten wieder und haardünne Strahlen aussenden. Dann hörte sie von Georges' Stimme leise die Verse Hölderlins:

»Es haben ihn die Götter sehr geliebt,
Doch nicht ist er der erste, den sie drauf
Hinab in sinnenlose Nacht verstoßen
Vom Gipfel ihres gütigen Vertrauns.«

Eine Weile danach löste sie ihre Hand, stieg die Stufen hinunter und setzte sich vor ihren Flügel. Während sie ihr Notenheft lautlos zuklappte und zur Seite legte, hörte sie ihn reden.

»Hölderlins Schicksal hatte er wohl, ein Dichter war er auch, aber niemand wird von ihm sprechen. Es lohnt sich allerdings nicht. In den achtziger Jahren erschien ein Epos ›Elias‹, später auch noch Gedichte, – ihr könnt euch eine Vorstellung machen, wenn ihr an Enoch Arden denkt; ein weiches, mattes Gedicht, in dem viel von Elias' furchtbarer Leidenschaftlichkeit die Rede ist. Sonderbar, daß davon nichts Gestalt wurde. Er selber, der das dichtete, war ein so leidenschaftlich atmender Mensch. Du wirst es sehn in den Briefen. Ich kenne ihn nur als grau-, dann weißhaarigen Mann mit gutherzigen braunen Augen und einer wundervollen Stirn, wie ein Stück Himmel gewölbt. Und drinnen das Chaos.

»Die Briefe sind an eine Frau gerichtet, mit der er befreundet war, – damals. Dann liebten sie sich. Sie war verheiratet und hatte Kinder. Ein Jahr rissen sie Beide an der Kette, aber der sie festgelegt hatte, ließ nicht los. Zwei Jahre danach heiratete mein Vater ein sanftes Mädchen, und ich bin ihr Sohn. Sie liegt nun auch schon so lange in der Erde, wie mein lahmer Bruder lebt, und das ist ihr gut.«

Renate, betrübt, fragte nach einer Weile zaghaft:

»Sage mir, Georges … Giebt es denn das, daß jemand einen Menschen gegen seinen Willen zwingen – –«

Er lächelte mitleidsvoll. »Ich sagte es ja, Renate: hier ist die eine Welt, und draußen die andre, die man auch die moralische nennen könnte. Die Menschen, Renate,« fuhr er aufatmend mit leichterer Stimme fort, »haben Einrichtungen geschaffen, die sind für unsereinen – nicht schlecht, oder sinnlos, oder falsch, sondern sind: unglaublich schlechterdings, nicht zu glauben, auf keine Weise zu begreifen, weil dir dazu Organe fehlen, – so wie der Fisch nicht atmen kann in der Luft. Etwa folgendermaßen: Gesetzt, du bist ein halbes Kind von einem Mädchen, in einer geldarmen aber zahlreichen Familie. Und ein Mann setzt dir zu, mit Jammer und mit Tränen, mit Flehen und mit Drohungen, er stürbe, wenn du ihn nicht heiratest. Und aus reinem Mitleid giebst du nach und giebst dir nun auch Mühe, jahrelang, ihm gut zu sein, und schenkst ihm Kinder –«

Renate schauderte unbewußt. »Was ist, Georges?« fragte sie, da er innehielt. Er lächelte sanftmütig.

»Ja, wenn du schon jetzt schauderst, Renate, was willst du denn später tun?«

»Habe ich geschaudert? Ach – bei den Kindern, – von der Frau, die ihren Mann nicht liebt. Nur weiter«, sagte sie kühl.

»Gern, Renate. Immerhin wollen wir uns einen Augenblick lang darauf besinnen, daß – wir zwar da sind zu dem, was wir wollen, also auch um zu lieben, was und wen wir wollen. Daß aber die Welt nicht da ist, um zu lieben, sondern um zu bestehn, also sich fortzupflanzen, wozu sie Frauen braucht, die Kinder gebären. Das tun sie auch. Und auch das ist Liebe.«

Er schwieg. Renate erwiderte nichts. Er fuhr fort.

»Gesetzt also, du tatest alles dies, und eines Tages siehst du nun, es geht nicht, er ist ein trauriges, stumpfes Wesen, mit dem sich nicht leben läßt, er streut Bitterkeit umher, er macht dich zu Alltag, er verstaubt dich mit Nörgelei und Gejammer, und du siehst und kennst dich nun selbst, da du in die Jahre dazu kamst, merkst tausend schöne Kräfte in dir, Flügel deines Geistes, Taster, zarte, innige, deiner Seele, Lust, in dein Weltgetriebe hunderthändig hineinzugreifen, so hilft dir doch alles nichts, und du mußt dir die Seele besudeln und dir eine Hölle machen lassen aus deinem, zum Segen dir geschenkten Dasein, solange – solange er deinen Leib nicht schlägt, denn so lange gehört ihm nach dem Gesetze dein Leib, und alles andre sind Fisimatenten. Wenn du aber am Ende einen Andern findest, einen Menschen, einen Edlen, Gütigen, Zarten, Wissenden, und Worte der Ewigkeit klingen an dein Ohr und erinnern dich an dein Herz und was du schuldig bist, dir und den Menschen und deinen Kindern zumeist: nämlich einen so vollkommenen Menschen du aus dir zu machen weißt, und dazu: Freiheit, dein Himmelslehen, die dich rüstig macht, deine Seele zu reifen, deine Kinder blühen und schön zu machen, – und erinnern, was du verschuldet hast, weil du nicht warten konntest, warten Jahre und aber Jahre, bis das kam, was du träumtest, und nicht lieber mit allen Träumen wie eine triumphierende Meereswoge in dein Grab gestiegen bist, so hilft dir all das doch nichts, denn du bist kein Mensch, du bist eine Sünderin bloß, auf die jeder den ersten Stein zu werfen bereit ist, am ehesten aber ihr Mann, und bist nicht würdig, Kinder zu haben, denn du bist gemein. Denn mit einer Ehe verhält es sich so, daß du sie nur nicht zerbrechen darfst, brechen darfst du sie in Hirn und Herzen wohl tausendmal bei Tag und Nacht; aber wenn du nur deinen Leib im alten Bette läßt, so bist du edel und würdig, Kinder zu haben.«

Renate war so heftig aufgesprungen, daß der Deckel des Klaviers, auf dem ihre Hände lagen, zuschlug und alle Saiten nachdröhnten.

»Es ist Wahnsinn,« sagte sie, »es ist mir unerträglich zu hören.«

In ihrem großen, schwarzen Kleide rauschte sie in der Kapelle hin und her, blieb stehn, faltete die Hände vor der Brust und rief zu ihm hinauf:

»Ich will nicht, daß es wahr ist, Georges, ich will es nicht! Es macht mich unrein in allen Frauen, die so etwas dulden können. Sage, daß es – vergieb mir, Georges,« bat sie leise, »ich habe dich über mir vergessen.«

Sie wogte, ihr war, als müßte sie in Tränen ausbrechen. »Ulrika, was sind wir für Wesen,« klagte sie, »es ist ja nicht zu sagen!«

»Dies, Renate,« hörte sie Saint-Georges von oben, derweil Ulrika gesenkten Hauptes verblieb wie vorher, »dies ist ja alles nichts. Auch das ist nichts, daß ein Mann, weil er zu schwach ist, daran zugrunde geht. Aber daß eine Frau, eine solche Frau, die ich beschrieb, es nicht nur leidet, sondern sich daran gewöhnt, das ist – sagen wir – erstaunlich. Erinnerst du dich«, fragte er, »Dora Vehms, der Schwägerin Irenens?« Renate nickte. »Ich denke,« fuhr er fort, »die muß dir gefallen haben. Ich weiß Einiges von ihr, sie soll an Lebenskräftigkeit, an sachlicher Tüchtigkeit ein Wunder sein; ihr sah das Bild jener Frau, das ich bei den Briefen meines Vaters fand, etwas ähnlich, und ich glaube, sie wars auch im Wesen. Nun denke dir solch eine Frau, und weiter denke dir folgendes.

»Bei den Briefen meines Vaters – die er also scheinbar von ihr zurückerhielt, wie er ihr die ihren zurückgab, denn ich fand keine – lagen zwei mit einem Jahre späteren Datum; der eine von seiner, der andre von ihrer Hand. In dem ihren stand etwa folgendes. Er möge ihr doch nicht schreiben; er wisse, daß sie versprochen habe, jede Gemeinschaft mit ihm abzubrechen, und sie wolle das halten. Nun wolle sie ihm aber noch mitteilen, daß sie sich sehr über die Nachricht von der Geburt eines Sohnes gefreut habe; ja, so sehr, daß sie gedacht habe, nun dürfe sie auch noch einmal eine Freude haben, und die sei ihr denn auch erfüllt, und sie habe vor einiger Zeit einen Sohn bekommen.«

Renate sagte: »Au!« ohne es gewollt zu haben.

»Wunderst du dich«, hörte sie Georges, »über die Logik? – Das also schrieb sie und setzte noch hinzu: alles was je zwischen ihnen Beiden gewesen wäre, das sei unvergänglich, oder so ähnlich. Und zum Schluß wiederholte sie: er möge ihr, wie gesagt, nicht schreiben. Wenn er ihr aber doch schreiben wolle, so möge ers gleich tun, denn ihr Mann sei eben verreist. – Sagtest du was, Renate? Sag au, Renate, immer sag au, aber bitte: denke dir keine alberne Gans als Schreiberin jenes Briefes, denke dir Dora Vehm, die du kennst, ja denke eine so verständige Frau, wie du selbst bist, und wundere dich nur, wie – Erniedrigung die Menschen erniedrigen kann! – Sie bekam also einen Sohn von – dem Mann.

»Und der andre Brief,« redete er mit einer grausamen Leichtigkeit weiter, »den ich fand, der von meinem Vater, der war augenscheinlich nicht abgeschickt worden. Es stand nur darin, daß er auf ihre Nachricht hin nichts weiter sagen könne, als daß sie durch die fortgesetzten Keulenschläge auf ihn, und damit auf sie selbst, sich gleichsam immun gehämmert habe. Er empfinde deshalb weiter keinen Haß gegen sie, müsse aber doch sagen, daß, wenn er hören würde, jemand habe sie durch ein rasches Gift oder durch einen Messerstich aus der Welt geschafft, daß es ihm nicht leid sein würde.«

Er schwieg. Renate saß so völlig leer von Gedanken und Gefühlen, daß sie mit einem seltsamen Schauder die Flammen der Lichter, die Gestalt von Georges, Ulrikas Kopf, die Wände, alles in sich hereinschweben spürte, als ob sie Luft geworden wäre und alles umfassen könnte. Dann schmerzte ihr Kopf; sie kam zu sich. Saint-Georges sagte:

»Was haben wir denn, wir – Andern? Wenn es denn schon Niedriggeborene giebt, und wenn sie uns zwingen können, was haben wir denn für uns, als: besser zu sein und immer besser zu werden? Wenn sie niedrig sind, so ist doch ihre schlimmste Niedrigkeit die, daß sie uns nicht verstehn, und daß sie uns verurteilen, wir aber, wir können sie verstehn und ihnen die Niedrigkeit nachsehn. Dieser Mensch da, dieser Andre, ihr Mann, der hatte nie etwas andres als sich selbst und seine Begierden. Die aber sind es, die nichts haben als sich und ihre Begierden, die sich zum Schutze jene Gesetze ausgedacht haben, nach denen nun alles geregelt wird. Wenn du nach Jahren des Jammers und des Ekels, der Ohnmacht und der Verzweiflung dich eines Tages vergißt und in deinem armen, unseligen Mädchenhunger nach ›Glück‹ den Rest der Süße, die dir noch verblieben ist, mit einem andern Mann teilst, als deinem Ehegatten, so bist du nur gemein und wert, davongejagt zu werden. Giebst du aber nach, weil du Kinder hast und weißt, man stirbt an vernichteter Liebe vielleicht, aber niemals an Mutterliebe, und bleibst und läßt dir Leib und Seele vergewaltigen, so bist du edel und gut, und ob du gemein bist oder edel, das hängt nicht von dir ab, sondern von dem, was du zu tun scheinst. Die Kinder aber, die du geboren hast, mit deinen Schmerzen, mit deiner Todesnot, mit deiner unbeschreiblichen Gutwilligkeit, etwas herauszuschenken aus deiner Fülle, und wenn es dich das Leben kostet, die du ernährt hast und erzogen, jahrelang allein, während sie deinem Mann ein unverständliches Spielzeug waren, und späterhin, wo er nicht viel mehr Zeit für sie hatte, als sie Sonntags zu prügeln für die Wochensumme ihrer Unarten, – diese Kinder legt er dir als Kette um dein Herz und erdrosselt dich mit deiner eignen –« Er verstummte und fuhr gleich darauf leiser fort: »Das Gesetz, so heißt es nämlich, ist für Alle da und muß deshalb schematisch sein. Verfolgst du nun aber einen Scheidungsprozeß, so findest du Monate und Jahre womöglich an Zeit und Mühseligkeit aufgewandt, um jeden Schmutzfleck, jedes Staubkorn aufzudecken, um alles und aber alles aufzuhäufen, was mit dieser Angelegenheit nur von fern einen Zusammenhang haben könnte, aber geurteilt wird am Ende nach dem Schema. Ist das nicht ein ekelhafter Widersinn? Dies aber ist möglich, denn hier liegt das Gesetz mit seinen angestellten Richtern und hier die Einrichtung der Anwälte. Denn das Gesetz, heißt es, muß da sein, danach kann es verdreht und gedeutet werden. Wem aber kommt dies zugute? Den Findigen, den Hurtigen, den Geschickten, und allemal sind auch dies die Untiefen, die Leichten, die Liederlichen, die zur Ehe zusammenlaufen und wieder auseinander, die ihre Kinder verwahrlosen lassen oder zerdrücken, die gar nicht wissen, was ein Kind ist, dies heilige Geschöpf, die finden im Gesetz ihre Möglichkeiten, ihre Erlaubnisse, ihre Freiheiten. Aber der Edle, der Schwere, der Wahrhaftige, der Zarte, der Scheue, der Liebende, der Fromme, wenn der sich fürchtet, vor allen Augen den Unrat zu offenbaren, mit dem er beschmutzt wurde, so kann er von jeder Bestie vergewaltigt werden, deren Eigentum er zufällig ist wegen einer jahrealten Unbedachtheit. Bei Gott hat dein Vetter Josef recht, als er sagte, daß der Mensch vielleicht gut sei, alle zusammen aber eine Gemeinschaft von Bestien.«

Nachdem seine Worte stets eisiger und härter geworden waren, hörte Renate ihn nun mit Gelassenheit sagen: »Merke dir für alle Fälle, was ein Gesetz ist. Ein Gesetz ist keine Einrichtung, um zu nützen, zu schützen, zu erleichtern, den Guten zu helfen und die Schlechten zu unterbinden, das Gute zu fördern und das Böse auszutilgen, sondern ein Gesetz ist dazu da, daß die Menschen nach ihm gemessen und beschnitten werden, daß sie mit ihm sich gegenseitig verurteilen und mißhandeln, Gewalt antun und verkröpfen.«

Er war, noch während er den letzten Satz hinwarf, aufgestanden, kam vom Podium herunter und reichte Ulrika die Hand. Neben Renate stehend, sagte er:

»Lies die Briefe. Sie sind schön, sie sind leidlos. Die übrigen hab ich verbrannt. Es steht nirgend der volle Name der Frau drin, an die sie gerichtet sind, und das ist ganz gut.« Renate sah trübe zu ihm auf, aber er lächelte nun und schien alles für erledigt zu halten. Sie faßte seine Hand und fragte ängstlich:

»Sag mir noch –, ist die Krankheit deines Vaters – –, hängt sie zusammen mit –«

Er schüttelte nachdenklich den Kopf und erwiderte: »Laß das Fragen. Es weiß keiner genau. Krankheiten des Gehirns kommen wohl niemals von außen, sie können höchstens beeinflußt und – vielleicht – verfrüht werden. Also vielleicht ein Unterschied von fünf Jahren, um die ich länger einen Vater gehabt hätte. Er ist nun tot und hat Frieden. – Draußen ist Februar. Da zieht ein Winter nach dem andern herauf. Er und die Gestorbenen bleiben sich unveränderlich gleich, und dazwischen leben wir und geben uns keine Mühe. – Gute Nacht, Kinder, gute Nacht!«

Es war lange Zeit still in der Kapelle. Ulrika stand auf, ergriff die Lichtschere und beschnitt alle Dochte vorsichtig und säuberlich. Renate ging in der Kapelle hin und her, stieg zur Orgel hinauf, setzte sich. Sie schauderte leise, bedenkend, daß der Freund nun wieder durch die Winternacht ging, allein, zu dem gelähmten Bruder und der Aussicht auf die Gefängnismauer, die sie plötzlich begriff. Tief aus ihrer Versonnenheit fragte sie endlich Ulrika, die wieder vor ihren Noten saß: »Und was sagst du zu alledem?«

Ulrika hob langsam den Kopf. Gegen die Dunkelheit hinter ihr zeigte sich, von den Kerzenflammen hell beschienen, ihr Profil, streng Nase und Brauen, wie wenn sie spielte, und in dem für Renate sichtbaren Auge glänzte es feucht und rötlich auf vom Lichterschein. Sie sagte nichts, sondern klappte das Heft vor sich zu, stand auf, ging um den Flügel, legte es hin, legte, in der Einbuchtung des Flügels stehend, beide Unterarme auf die Platte, senkte schließlich den Kopf tief darüber und sagte:

»Ich bin auch verheiratet.«

Renate zuckte zusammen und regte sich nicht. Aber da richtete Ulrika sich schon wieder auf, strich eine Haarsträhne aus der Stirn, machte sie fest, wandte sich und sagte:

»Du mußt nichts Falsches denken. Mein Mann ist sehr gut. Ja, er ist wohl noch viel besser, als ich bisher gedacht habe, nach dem, was ich heute höre. Aber die Menschen werden wohl allerlei reden, weil er niemals hier ist.«

Sie legte die Arme wieder auf die Platte, ließ die Augen umherwandern und sprach leise weiter:

»Du mußt wissen, daß ich niemals etwas andres gekannt und gewußt habe als mein Klavier. Ich verlobte mich, weil es so kam und wir uns sehr gern hatten, und am Ende heirateten wir auch, aber ich dachte nicht, daß das etwas Besondres wäre. Ich wußte ja nichts. Gar nichts. Und so – nun, so war ich am andern Tage wieder bei meiner Mutter. Ich bin dann wieder zurückgegangen, aber – seine Frau bin ich nie gewesen. Ich weiß nicht,« sprach sie schnell weiter, »all das hat mir immer ganz einfach geschienen, nur dies eine, das er von mir verlangte, als etwas Ungeheures, und jetzt ist es plötzlich umgekehrt, und es scheint, als wäre es ungeheuerlich, daß er sich in alles fügte, aber das eine hätte ganz einfach sein sollen. Oder doch nicht? Wer sagt mir das nun? Da ich nichts wußte, so wußte ich doch auch von mir selber nichts. Ich brauchte mich selber ja nicht, ich hatte ja mein Klavier, wozu mußte ich das eine für mich behalten? Wem hab ich damit gedient? Mir doch nicht. Wie er leben mag, das weiß ich freilich nicht, er ist in seinem Auslandgeschwader, und wir reisen jedes Jahr ein paar Wochen zusammen. Das ist freilich keine Ehe.« Sie brach ab und legte das Gesicht in die Hände.

»Wenn es dich beruhigen kann,« sagte Renate sanft, »ich würde so gehandelt haben wie du.«

»Ach,« sagte sie nun, aufschauend erhitzt und rot, »das ists ja wohl gar nicht, was mich plötzlich beschwert. Ich habe ja auch meine Freiheit und kann –« Sie brach wieder ab, legte jählings den Kopf in die Arme und auf das Instrument und weinte.

Renate glaubte, alles zu wissen. Sie stand leise auf, ging hinunter und zog die Weinende in ihre Arme. Dort wurde sie bald ruhiger, trocknete ihr Gesicht, lachte leise und sagte:

»Du meinst nun, ich dächte, es könnte mir so ergehn wie der Frau, von der er erzählte, aber findest du nicht, daß ich einen Vorsprung habe? Oswald ist doch gut, ich weiß, er ist gut«, sie faltete die Hände, drückte die Unterarme gegen die Brust und die rechte Wange gegen den Handrücken und fragte ängstlicher: »Glaubst du nicht, daß er gut ist? Nach allem, was wir hörten –, aber –« sie warf Hände und Arme auseinander, ließ den Kopf sinken und sagte: »Da hab ich zeitlebens in die Noten gestarrt, und wenn was passiert, werde ich selber schuld sein. Endlich kam Bogner und machte ein Fenster auf; das war er selbst, und vor lauter Wundern und Gegenständen draußen sah ich ihn selber nicht. Da kommt nun dieser Saint-Georges und macht das Fenster einfach zu, und da steh ich nun, und da seh ich ihn nun, und es ist finster, und draußen mögen die schrecklichsten Dinge bevorstehn –« Sie verstummte und starrte verloren an den Boden. –

»Komm,« sagte sie plötzlich, »ich muß heim.«

Sie fing an, die Lichter auszublasen. Renate ging willenlos zur Kurbel für die elektrische Lampe, die häßliche Helle bedrückte sie, und Beide verließen eilig und schweigsam den plötzlich ungastlich gewordenen Raum.

Renate, in ihrem Zimmer später, glaubte beide zu spüren: von Ulrika her Schatten einer Zukunft, von Saint-Georges her die Schatten des Vergangenen, und ihr Herz zog sich schauriger als je zusammen. Dann aber ließ dies ab, und statt dessen brachen von innen die Schauder der Gegenwart, da sie sich mit deutlichen Worten sagen mußte: Da stehst du unversehrt und freust dich dennoch nicht, sondern du ängstigst dich vor Kommendem, und gleichfalls wäre dir alles andre lieber als diese deine schöne Leere. – Da – plötzlich – erschien die immer fremde Freundin ihr, wie sie zuvor neben dem Flügel stand im Lichterschein, seidenbraun, rot im Haar, und bleich neben dem schwarzen Ungetüm, und die Arme auseinanderwarf und etwas sagte, das Renate nicht mehr wußte und verstand, in den schmerzlichen Brauen aber, in den Winkeln des Mundes und in den Augen so viel jäh ausbrechende Inbrunst und innerstes Leuchten, daß Renate erschrak. – Sie ging auf und ab im Zimmer.

Ihre Brauen –, an denen hing sie jetzt fest. Was ist denn, Ulrika, du fremde Seele, nun habe ich Jahre schon, sooft du saßest und spieltest, deine Brauen geliebt – fast – ja fast wie ein sehr schönes, adliges Tier, einen Aar, einen Sperber – so ernsthaft ausgebreitet schwebten sie dunkel überm großen Strom der Musik, – und immer doch habe ich sie vergessen müssen, wenn der Strom endete und – du selber da warst. Dann blieb da ein feines, zartes, unendlich gescheites, ernstes und liebenswertes Geschöpf, aber zwischen ihm und mir – war Zwischenraum, und ging er nicht von dir aus? eine Zauberluft, in der du dich abschlossest? Und warest du erst abwesend, so vergaß ich dich fast, und du warst nicht viel mehr als ein farbiger Schatten.

Und das wars natürlich auch – ja, das wars vor allem: Wann hätte sie je von sich selber gesprochen? Oder so sie's tat, wars – Musik; ihr Lernen, ihr Vorwärtskommen, Konzerte … Warum aber das? Ach, sie war doch verheiratet, hatte einen Mann –, wovon zu sprechen natürlich gewesen wäre, aber dies – hatte ja kein Dasein in ihr, es sei denn ein so verfehltes, daß es verdeckt werden mußte vor ihr selber. Und er – mein Gott, ja – er, der Einzige, der ihr der Nächste sein sollte – ihn mußte sie immer fernhalten von allen Gedanken, vom ganzen Leben, – und davon blieb die Haltung dann wohl, die innerlich abweisende Gebärde, die Einsamkeit, in der dem dunklen Göttervogel an ihrer Stirn die Flügel hingen, bis er sie wieder ausbreiten durfte im pfeilgraden Flug über Strömen.

Sie blieb stehn und sah den Ech-en-Aton, der aus seiner Ecke über sie hinweg blickte, wie seit ewig. Ja, staunte sie, du ja auch! In Ulrikas Haltung nicht, nicht in den Zügen, – im Wesen war dieser Blick – über alles hinweg, der mir manchmal – wie Hochmut schien, trotz deines warmen und glühenden Herzens, für alles was edel, rein und wahrhaftig ist. Doch verurteiltest du manchmal, und wo du nicht verstandest, da wolltest du auch nicht verstehn. Oh gleichviel, bin ich vielleicht besser? – Diese Frau – Renate wandte sich ab –, wie Georges sie erklärte, war sie unsäglich liebenswert und traurig, allein – – Sie blickte wieder das kleine Königsantlitz an. ›So glaubten Heilige, und so verbürgt es die Form der Sonnenblume‹, murmelte sie. Sich verwandeln, wie? Ja – Ulrika, – sie war Musik und nichts andres. Wie sagte sie selber? »… daß ich nie etwas andres gekannt habe als mein Klavier.« Das wars wohl. Und du, Bogner – ah, wars das, was dich zu ihr zog: Glut, unstillbar, wie die deine, zum einen Ziel, und die Verwandlung? Du aber bist doch nicht einsam, nicht verschlossen, obgleich … Sie brach seufzend den Gedanken ab.

Nicht einsam? nicht verschlossen? nicht mir ewig fremd?

Und doch, fing sie nach einer Weile wieder an, kaum bemerkend, daß sie auf einem Stuhl saß, – Ulrika war – mehr als – beschlossen. Sie war – – Angestrengt nach einer Vorstellung suchend, fand sie schließlich: befangen. Das ungefähr, dachte sie, gefangen in sich selber, unfrei irgendwie in der einen Aufgabe. Georges – Renate lächelte –, was würdest du nun sagen? – Jedoch fiel ihr ein Wort Josefs ein: Tennisspielende Frauen werden schief; tennisspielende Männer niemals. Und – hatte er hinzugefügt – jeder Frau, die alles an eine Sache setzt wie ein Mann, es sei denn an die natürliche, ergeht es wie den Tennisspielerinnen.

Ist uns denn – mein Gott! – murmelte Renate verzagt, wirklich nur die eine Stelle im Dasein gegeben, um zu lieben und ganz wir selber zu sein und schön?

Wieder war über ihr das Königsgesicht, fortblickend ins Ewige. – Er lächelt ja! durchzuckte es sie leise. Sie senkte den Kopf: Und was steht vor deiner Seele, Renate, und fordert die Verwandlung?

Lange Zeit blieb alles leer in ihr und dunkel. Dann fiel ihr ein, daß sie das Paket mit den Briefen in der Kapelle hatte liegen lassen. Also ging sie fröstelnd und traurig, – von Treppe zu Treppe, von Zimmer zu Zimmer von dem auflohenden und verlöschenden Licht begleitet, durch das dunkle Haus, den zerstörten Frostgarten und in die Kapelle, wo sie noch die halbe Nacht, da Streichhölzer fehlten, unter der hochhängenden Glühbirne saß und schaudernd in der Nachtkälte mit heißem Gesicht las, als wäre sie es Saint-Georges schuldig, was sein toter Vater einst schrieb.


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