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Sechstes Buch
Fragmente aus den halkyonischen Jahren III
oder
Die Schleuse

Erstes Kapitel: November

Berlin

Georg sah, als er eines Nachmittags den dunklen Gang in seiner Berliner Wohnung hinunterging, einen Brief hinter der Korridortür liegen, augenscheinlich durch den Postschlitz geworfen, und erkannte im Aufheben mit Verwunderung und Verdruß nicht nur seinen Berliner Pseudonymen, sondern auch Bennos Handschrift: die Universität, an die adressiert war, hatte den Brief nachgeschickt. Äußerst mißgestimmt gegen Benno, der sein nachdrückliches Verbot des Schreibens übertreten hatte, stopfte er ihn in seine Manteltasche, und erst, als er im vollbesetzten Stadtbahnabteil an der Türe lehnte, gab er der Reizung des Verschlossenen in seiner Tasche nach – dazu dem Verlangen nach einer Beschäftigung, das von dem stumpfen, gerüttelten Beisammensein mit den ereignislosen Gesichtern der Mitfahrenden hervorgerufen wurde – und öffnete, sehr widerstrebend, den Brief. Nur mit den Augen zu überfliegen und wieder fortzustecken willens, las er:

 

Altenrepen, den 26. 11.

Ja, mein Georg, so siehst Du mich Dein strenges Gebot übertreten. Aber Du kannst, nein, Du kannst nicht verlangen, daß ich es halte, daß ich weiter in dieser alltäglichen und – ach mehr noch! – allnächtlichen Sorge und Ungewißheit um Dein Ergehen hinlebe. Ich bitte Dich, gieb mir ein Lebenszeichen! Wenn ich an Dich denke, sehe ich Dich in diesem entsetzlichen Berlin wie in einem Malstrom umgetrieben, es flimmert mir vor den Augen, Dich, allem Schönen, Reinen, Edlen so hingegeben und nun so zu Boden gedrückt durch das furchtbare Erlebnis, in der Einöde zu denken, die der Name Berlin vor meinen Augen entstehen läßt. Georg, die Nacht, wo Du mir von Cordelia sprachest, die Tote selbst, ihr Lächeln, der schauerliche öde Raum unter dem Dach – unzählige Bilder, die nicht vor meinen Augen weichen, werde ich im ganzen Leben nicht vergessen. Ich träume davon, es läßt mir keine Ruhe, auch ist ja niemand da, mit dem ich darüber sprechen könnte. Elfriede – ich versucht' es, aber – was kann sie davon verstehn, die nichts sah, noch mein Empfinden für Dich teilen kann; ihr muß es ein fremdes schauerliches Märchen bleiben, und von vielem darin hätte ich kaum einmal gewußt, wie es ihr sagen. Ich bin manchmal recht allein. Du fehlst mir täglich, ich spreche mit Hesekiel von Dir, aber – der Sprachschatz des Armen ist recht beschränkt, – ach, unsre schönen Gespräche! Wird all das jemals wieder kommen? Auch Magda ist fort, – willst Du sie wirklich nicht aufsuchen? Sie würde doch sicherlich ein gutes heilsames Wort, ein linderndes Mitschweigen für Dich haben. Genug, ich sehe längst Deine Unzufriedenheit, und vielleicht – ich hoffe es ja – sind all das auch nur Einbildungen von mir.

Ich bin fleißig, Elfriede ist heiter und engelhaft wie je, und mein Leben könnte das glücklichste von der Welt sein, ohne – Du weißt, wie ichs meine.

In Treue Dein alter
Benno

 

Kümmerlich, dachte Georg, sehr kümmerlich ist das! indem er den Bogen faltete und in das widerspenstige gelbe Seidenpapierfutter des Umschlages pfropfte. Guter Benno, deine Sorge ist ebenso rührend schön – für dich, wie herzbeleidigend für mich. Außerdem geht mirs glänzend, und alles was du schreibst, ist Unsinn. Du – – Überdem wurde die Tür hinter Georg aufgerissen, drei und mehr Menschen drängten herein und ihn bis zur gegenüberliegenden Tür – sehr ärgerlich! denn was hatten sie auf diesem winzigen Tiergartenbahnhof, wo überhaupt niemand einzusteigen pflegte und deshalb auch niemand einzusteigen hatte, obendrein in seinem Abteil zu wollen? giftete er sich. – Eingezwängt stehend, eine Hand am Gepäcknetz, ließ er seine Verstimmtheit gegen den Freund weitertosen. Wie er mich bloß so falsch verstehen konnte! Als ob nicht mein ganzer Jammer eben darin bestanden hätte und bestünde, daß sie – daß sie tot ist, nichts als das, fort mit allem, jenseits, zugedeckt mit diesem Lächeln, das mich verfolgt …

Georg verlor seine Gedanken über dem Anblick der Leute in seiner Nähe, die ihn zu nichtswürdiger Beschäftigung mit ihren gebündelten Zügen, häßlichen Händen, Hüten und dergleichen zwangen; die Fahrt des langsam dahin trabenden Zuges schien in alle Ewigkeit währen zu sollen, er geriet am Ende wieder an den Brief. Ich bin sehr allein … hatte er das nicht geschrieben? Und überhaupt die ganze Stelle mit Elfriede klang doch sehr merkwürdig und – ah natürlich! das war der wahre Grund des Schreibens! Armer Benno, fängt es nun an? Der erste Argwohn, das gescheuerte Gold sei – am Ende doch Messing? – Georg wurde, so sehr er Benno bemitleiden mußte, warm und wohler ums Herz, er verließ im Bahnhof der Friedrichstraße aufatmend den Zug, eilte durch die schon dämmernden, nebelgrauen Straßen und saß alsbald in seiner abgelegenen Ecke der Seminarbibliothek an seinem Tischplatz, unsichtbar außer für den, der ein Buch in der Bücherwand hinter seinem Rücken suchte, eine andre Bücherwand vor sich, zur Linken das Fenster. Allein kaum, daß er die dritte Seite in Gerlachs Abhandlung über die deutsch-dänischen Handelsbeziehungen gelesen hatte, empfand er, daß er gestört war, mußte sich anders setzen, das Buch anders legen, erst einen, dann mehrere Sätze doppelt lesen und lehnte sich plötzlich aufseufzend im Stuhl zurück. Gedankenleer zum Fenster hinausgewandt, sah er drüben die kahlschwarzen Kastanien des Wäldchens, flatternd von letzten braunen Blattfetzen, die Baracke für Vorträge über Kunst darin, kahl, nüchtern und unfreundlich, dahinter die Rückfront der Universität. Ein paar Gestalten, frostig anzusehn, wandelten im Garten. Auf der Straße davor flammte grünbleich die erste Laterne auf.

Ja, da ist es wieder, das Alte, dachte Georg im Empfinden des Drucks, der Beklommenheit, der Angst in der Brust. Nun ist alles wieder drohend und ungewiß. Sie schläft, sie lächelt, sie ist drüben. Ich bin allein. Wie lang ist es her? Fünf Wochen!

Mein Gott! – ihm ward heiß – wie ist es denn möglich? Hin, alles hin, ganz und gar wie ein Traum, wie ein Sonntag, alles, alles fort! – Er zwang sich, er sah sie, ihren glänzenden Leib, in der Nachthelle, in einem Gartendickicht, auf dem Schwarz des Mantels – Sterne bewegten sich im Laub. Auf dem Bett unterm Fenster, über ihre strömenden Glieder hinaus, tauchte sein Auge in die helle Nacht, die dunklere Ferne, die Ebene endlos – und darüber die zahllosen Augen der Sterne. – Dies erlosch, im rötlichen Schein der Kerzen funkelte das rote Glas, das schlafende Antlitz lächelte vor sich hin, – im Schwinden sah er noch Montfort, den Hut aus der Stirn gerückt, vor der verschlossenen Türe stehn, eine Hand über sich aufgestützt, die Füße gekreuzt, in der herabhängenden Linken die kleine Taschenlampe, aus der er von Sekunde zu Sekunde den Lichtkegel zu Boden fallen ließ, in dessen Schein er selber vor Georg erschien, ein Bild, das sich wie kaum ein andres ihm eingebrannt. – Georg versuchte es wieder, er sah sie unter der Vorhalle des Hauses, ihm entgegenschmelzenden Gesichts … Was sich jetzt regte in ihm, war sein Geschlecht, die Entbehrung, er rückte unruhig im Stuhl, fühlte sein Sitzfleisch zerdrückt von Beinkleidfalten, – die alte Quälerei war wieder da, der ewige Durst, der sich so wenig überwinden noch betrügen ließ wie das Bedürfnis des Leibes nach Feuchte, nach Kohle, nach Eiweiß, – ach armer Benno, das Leben ist so schauerlich anders, als du meinst!

Überdem empfand Georg eine fast unlustähnliche Lust, ihm zu schreiben. Er trennte nach einigem Widerstreben ein paar Bogen aus seinem Heft, setzte an und brachte es plötzlich nicht fertig, die gewohnte Schrift zu schreiben, worauf er aus dem Punkt des angesetzten L den kleinen Bogen des stenographischen Zeichens dafür zog und langsam zu malen begann.

Lieber Benno: Ich hoffe. Du kannst dies noch lesen. Vergieb schon, aber es scheint mir das von Cordelias Brief zurückgeblieben, daß ich – nun, es ist wie ein Grauen vor offener Schrift. So eine Art Hysterie vermutlich. Und die weich geschwungenen Zeichen malen sich so angenehm aus der Hand.

Habe Dank für Deinen rührend liebevollen Brief. Scheinbar weißt Du, Halunke, daß ich es liebe, gerührt zu werden, und wenn nicht alle Empfindungen des Vermissens in dieser Beziehung von Dir beschlagnahmt wären, so könnte ich wohl Hesekiel vermissen, seine immerrührende Figur und rührenden Sprüche.

Was mich angeht aber keinerlei Sorge! Wenn ich mich auch nicht eben wohlbefinde, so ist das aus keinem der Gründe der Fall, die Deine Einbildungskraft Dir vorspiegelt. Berlin ist freilich der Malstrom, als den Du es Dir vorstellst, allein – einerseits war es ja meine volle Absicht, mich hineinzustürzen – ich hoffe, Du hast beim wohlwollenden Übertreten meines Schreibverbots das nicht gleich mitvergessen –, und andrerseits stehe ich vorläufig noch ganz am Rande und lasse michs schwindeln. Im Vertrauen: mir schwant, daß ich trotz aller Absperrung vom bisher Gewohnten, trotz scheinbaren Untertauchens durch Pseudonym, Inkognito und die vorgebliche Lebensführung eines von hunderttausend Studenten, Bureauschreibern, Literaten, Referendaren et cetera – gleichwohl nicht in den Strom gelangen werde, aber – vielleicht ist der Schwindel am Rande, wenn dauernd, das fürchterlichere.

Die Stadt ist furchtbar. Ich meine damit nicht Berlin im Gegensatz zu andern Großstädten des Erdballs. Ich meine die Großstadt an sich, als Lebensform, als Weltteil, als Schicksal; meine den Fluch der Anhäufung von Dasein und Geschick. Ah genug, wir werden sehn, übrigens wie singt der Poet?

Allein die Städte wollen nur das Ihre
Und brauchen viele Völker brennend auf,
Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere …

und so weiter, im Stundenbuch nachzulesen. Dennoch giebt es die merkwürdigsten Oasen mitten in der Meereswüste, deren Nötigkeit sich kaum begreifen läßt, wie etwa jene Schächte in farbige Jahrhunderte und Jahrtausende hinunter, die sich Nationalgalerie, Völkermuseum nennen. Nein, da bin ich gestern unvermutet an einem der seltsamsten Eilande gelandet und will Dir davon erzählen. –

Georg hielt inne. Wozu das eigentlich? dachte er unwirsch. Aber die wieder aufgetauchten Bilder des gestrigen Abends, Hardenberg, der stille Plauderer, Dachgarten, die kranke Frau, die Bilder – bewegten sich in ihm, wie die Samentierchen zum Eileiter, zur Gestaltung, und er fuhr fort:

Im Tiergarten traf ich unlängst auf Hardenberg. Du erinnerst Dich seiner vom Leseverein in Prima. Wir sprachen uns an, gingen zusammen, wir kamen ins Gespräch, ich machte meinem Ärger Luft über das Gemisch von Stangen und Statuen, das in meinen Augen der Tiergarten war, und hörte bald herzlich erfreut das wohlbekannte, leicht altenrepensch gefärbte: »Ich muß doch sä–gen …« mit dem er die Absicht einer kleinen Abhandlung anzukündigen pflegt, und siehe da – wie ein Mandelbaum aus den Fingern des zaubrischen Chinesen entfaltete sich alsbald ein Sommertiergarten, ein grünes Idyll der Behaglichkeit und des Friedens. Und aus dem einen, dem Tiergartenpark entfächerte er die Parke der Stadt, wie sie alle heißen: Kleistpark, Preußenpark, Schöneberger Stadtpark, Steglitzer, Dahlemer, beschrieb die Findigkeit ihrer Anlage in der Ausnützung der Bodenverhältnisse, beschrieb ihre Sommerabende nach dem Regen, ihre Verschwiegenheit, ihre erfrischten, leuchtenden Wege, die umdampften, schweren Gruppen der Bäume, auf dem Hügel den weißen Pavillon, den Goldregenbaum, die Fliedersträuche und plötzlich lächelnd am Wege das zarte Wunder der lila Akazie, ihre bebenden Trauben haltend wie eine Tänzerin mit zierlichsten Fingern, – das Herz lachte im Hören und Sehen! – Es ward ein ganzes Lob auf Berlin, die Stadt der Blumen und Parke, wie er sie nannte. Wahrhaftig hat er recht. Ich selber weiß von früher, daß in keiner andern Stadt Europas fast alle, auch die steinernsten Riesenstraßen im Sommer Alleen sind, in keiner so viel Vorgartenstreifen vor den Häusern liegen, in keiner die Straßenfronten so liniiert sind mit den buntfarbigen Zeilen der blumengeschmückten Balkons, und daß in kaum einer Blumenläden zu finden sind – von den erlesenen der vornehmen Viertel ganz zu schweigen –, wie man sie hier noch in den finstersten Stadtteilen finden kann. Und von dieser ›Kultur der Blume‹ kamen wir dann bald auf den Begriff der Kultur im allgemeinen, den er schlechtweg als deutsch bezeichnete, da für die Begriffe andrer Nationen Zivilisation genüge. Kultur, sagte er, könne nicht sein, was man in Frankreich sehe einerseits – als Blüte einer einzigen kleinen Oberschicht, Geschmack, Esprit und Eleganz von Louis XIV. bis Louis XVI. –, noch was in England andrerseits als Steigerung der gesellschaftlichen Formen. Dergleichen Dinge seien nichts als Schöpfungen eines Volkes, wie ein andres vielleicht geistige Genies, ein andres Erfindungen, ein andres Strategen hervorbringen könnte. Sondern der Begriff der Kultur müsse mitumfassen ein vollkommenes Durchdringen des gesamten Volksstoffes, eine Essenz, die an hundert der verschiedenartigsten Stellen anzutreffen sei, und die höchste Vollendung in Kunstdingen etwa ebenso mit einschließe wie soziale Pflege der Ärmsten, Leibl und Ehrlich, George und Bodelschwingh. Kultur nicht denkbar ohne Geist, nicht denkbar ohne Liebe. Nicht denkbar ohne Gewissen, ohne Verantwortlichkeitsgefühl des Einzelnen für das Ganze. Die ›Kultur‹ also des Franzosen ist ein Erzeugnis von Eitelkeit und innerhalb dieser von Ruhmsucht und einem ganz körperlich innesitzenden Verlangen nach und Gefühl für das Anmutige, Schmückende und – in diesem Betracht – dann auch Schöne. Kultur jedoch verlangt nicht nach Schönheit; aber in ihr begriffen sein wird auch das Schöne, und sie wird es wirken, weil sie für jeden Würde des Daseins, für jeden ein Bestes verlangt. – Aber übrigens: in welchem Volk giebts das eigentlich?

Georg stockte mit der Feder vorm nächsten Absatz. Ja, wohin gerate ich denn? Nachsehend fand er bereits drei Seiten mit den stenographischen Zeichen gefüllt, aber, erregt von der Geistesarbeit und Phantasie, dachte er: Nun, um so mehr freut sich Benno, es wird ja auch das einzige Mal sein, und nun werd ich mich kurz fassen. – Er fuhr fort:

Bezaubert wie ich war von der überaus zierlich und leicht wachsenden Art seines Plauderns und in meiner angeborenen Höflichkeit konnte ich dann nicht widerstehn, als er mich einlud, und bin gestern nachmittag hinausgefahren. Beim Abschied erschreckte er mich noch durch zweierlei, nämlich erstens seine Adresse: Hasenheide und eine dreistellige Hausnummer, die ich nun vergaß (ich sah in der Hasenheide bisher eine Einöde und Exerzierplätze wie Tempelhoferfeld, kein Ding mit Hausnummern), sodann durch die Mitteilung, er sei verheiratet, seine Frau allerdings schwer leidend. – Nun, Du weißt, daß Hardenberg homosexuell ist. – Sollte die Anlage – stark war sie wohl nie, dacht ich – geschwunden sein? Dann, muß ich zu meiner Schande gestehn, wurde mir einen Augenblick schwül um die Brust, und ich geriet von meinem lieben, sanften, allgütigen Hardenberg auf – Stawrogin! Stawrogin, Du erinnerst Dich, in den Dämonen, der vor Entartung aller Gefühle zur Erlebnisform einer Heirat mit einer Schwachsinnigen greifen mußte, der Marja Timofejewna, – doch befinden wir uns ja in Norddeutschland, Hasenheide usw. Ich fuhr mit der elektrischen Bahn hinaus.

Unsäglich! Unsagbar! Straßen, Straßen, Straßen! Prachtstraßen gegen London, Paläste gegen Paris, riesige Offenheit und Breite gegen die Steinschluchten Wiens, allein – das Getümmel, das Hinundwiederströmen, der Anblick der tausend und tausend Fenster, Zimmer, Wohnungen, Schicksale ohne Ende – – es hätte mich umgestürzt vor Schwindel, hätte nicht das Staunen noch die Wage gehalten. Wie leben die Menschen hier? wie können sie leben? warum leben sie hier und so? Es ist ja sinnlos, aber: aus dem heftigen Gefühl, daß mir selber Alles und Alle fremd, in Weg und Hantierung, Ziel, Seele, Beschäftigung, Beruf, in allem völlig fremd und unbegreiflich waren, mußte mir die Vorstellung entstehn, daß von ihnen auch jeder dem Andern, dem Nächsten ebenso fremd und unbegreiflich sei, daß es nur zehntausend Wege waren, die sich kreuzten, jeder ganz in sich abgeschlossen und vom nächsten, von all den durchkreuzenden nicht mehr wissend als nötig war, Zusammenstöße zu vermeiden, und so wards um mich ein eisernes Geklirr, Metallstücke, leblos, gegen Metall, ohrenbetäubend, herzlähmend.

Die Hasenheide enttäuschte freilich angenehm als eine Riesenstraße alter Bäume, fast durchweg eingebettet in Biergärten, ein bei ein, richtige Gärten mit schönen, mächtigen Bäumen, jetzt kahl und Durchsicht lassend weithin. In Hardenbergs Hause dann schwenkte mich der Lift bis unter das Dach, ich wurde in ein geräumiges helles Zimmer – denke Dir ein sogenanntes ›Gelehrtenzimmer‹ – geführt, dessen breites Fenster und Glastür einen jetzt leider kahlen, aber wunderschönen Dachgarten mit Pergola und Aussicht über das Dächermeer vermutlich in die Tiefe der Gärten boten. Die Stille war fast vollkommen.

Hardenberg erschien und bald auch seine Frau.

Du wirst nun mein Entsetzen mitfühlen können, mit dem ich in der aufgehenden Türe erscheinen sah – das Gespenst. (Ja, Gespenster begegnen uns gern und verdoppeln sich gar!) Ich fürchte, ich vergaß vor Betäubtheit aufzustehn, – bis ich denn sah, daß hier das Haar nicht fischweiß war wie bei Cordelias Schwester, sondern brandig rot, – doch wars auf die nämliche Weise in die Stirne gekämmt; die Augen darunter waren so blaßblau mit viel sichtbarem Weiß – wie dort –, das Gesicht so milchhaft, die Nase schien ebenso spitz … ich erholte mich wohl am Mund, der wundervoll war, groß, tiefrot und von der köstlichen, tief geschwungenen Bogenform, worauf ich dann von neuem erschrak, denn der bloße Hals – stark, von vorne gesehen so breit wie das Gesicht – war –

Georg stockte mit der Feder. Ein Klumpen ballte sich oben in seiner Brust und zwängte sich zur Kehle; er sah gradaus, seine Augen brannten, dann zitterte sein Kinn; er schüttelte den Kopf, versuchte zu lächeln, sah wieder auf das Papier, mußte plötzlich die Stirn auf die Tischkante legen und schluchzte zweimal, dreimal tränenlos. Als er aber bemerkte, daß er da um sich selber weinte wie ein Knabe, setzte er sich wieder grade, erkannte dabei, daß es dunkel geworden war, ließ die grüne Schirmlampe aufleuchten und schrieb weiter: – Cordelias Hals.

Hardenberg hatte mich schon auf den Anblick vorbereitet, den ich bekam, als das arme Wesen jetzt vorwärts ging. Sie hat seit ihrer Kindheit ein Leiden (d. h. als Hauptleiden von etlichen andern, an denen sie alle paar Monate schwer darnieder liegt), infolgedessen ihr das Gleichgewicht fehlt im Stehn und Gehn. So kam sie hastig tastend, bevor er aufspringend zu ihr gelangt war, um sie zu geleiten, und ihre Beine und Arme schlotterten und zuckten dabei völlig unbeherrscht in den Gelenken. Auch ihre Sprache, als sie nun saß und die Hände – wundersam lang und geschmeidig, gesalbt von Schmerzen – im Schoße still lagen, kam stoßweise, rauh, manchmal hart wie gestoßene Steine; ihr Gelächter – sie lachte viel und gern – war ein Gebell. Kostbar war ihr Profil, das ich lange sah, dazu der Hals von der Seite, nicht senkrecht aufgesetzt, sondern schräge nach vorn, geschwungen …

Ja, dies. Und als wir dann eine Weile später ins Atelier hinübergingen (denn dies Wesen ist Malerin und hat studiert wie eine jede, z. B. Aktstudien gemacht, stundenlang stehend mit einer Stuhllehne als Stütze), so entfaltete sich aus Mappe um Mappe ein Zaubernebel von Farben und weichem Geleucht. Ihre Kunst ist beschränkt, aber in der Beschränkung reich und reizvoll. Wasserfarbe, Linoleumschnitt und der Buntstift. Aber sie zaubert mit dem Buntstift. Sieh ein Straßenstück – zu Dutzenden gabs –, Regendämmrung, Nässe, Abend, in der Tiefe abschließend ein graugrünliches Gebäude, rechts ein rotes, eine rote Mauer, ein Baum darüber, novemberschwarz, gespenstisch, auf der Straße Undeutliches, ein Wagen, ein Mensch – und all das aufgelöst in tausend farbige Striche, das mattglitzernde Pflaster in Wirklichkeit so bunt wie ein Kolibri, desgleichen der quellende Himmel, und nirgends die Farbe – das rote, das graue Haus –, die Du zu sehen meinst, sondern jede zur Hälfte bewirkt durch die andre. Oder – von der Brücke gesehn – ein Stück Isarbach im Englischen Garten in München, milchiges Grün, bewegt, bewegt, kristallenes Blau, Schneeufer, Bäume, gesträubt im Nebel, die Tiefe Schneedunst, und alles scheint weiß, und alles Weiße kam aus dem blauen Stift, und welch ein Duft von Lüften, von Ferne, von Ahnungen!

Du warst nie im Berliner Aquarium, Benno. Denke Dir, daß Du in dunkle Korridore trittst mit vielen und großen Rechtecken, starkleuchtenden in gelblichem, grünlichem Licht: die Glasscheiben der Wasserbehälter in der Wand, hinter denen sich das Leben der Tiefe bewegt, sprachlos, in leuchtenden Farben. Fische, durchsichtig aus Perlmutter gemacht, die Augen wie leuchtende Kugeln, die sich drehn, die Leiber dünn scheinend wie Pappe durch die Brechung des Wassers. Fische, gemacht wie aus weißem und gelblichem Sandgekörn, flach wie ausgeschnittene Papiere, die sich wellenförmig im weißen Sandboden fortbewegen, wo sie schwinden, wenn sie liegen. Fische, feuerfarben, Leiber wie senkrecht flach gedrückte Eier, an die seitlich und hinten lange, schlagende, faltige Schleier angesetzt sind, und dieselben in Schwarz wie in Trauer. Fische, blaugrau wie aus frischgefallenem Samt, Scharen, stille, die eine Handbreit über dem Grundsande hinweidend sich bewegen wie die Weidetiere unserer Ebenen …

Und von diesem zog sie den farbigen Abglanz in kostbar stilisierten Umrissen, ins Geschwungene gelöst, in die Faltenregung der Wasser, zog sie das Unheimliche der Tiefe, die ewige Sprachlosigkeit, die Dämmerung und die unendliche Stille. –

Beim Zurückfahren am Abend nahm ich eine Bahn zum Potsdamer Platz – das abendlich reißend geschwollene schwarze Getümmel nur wahrnehmend wie einen donnernden Strom, über den ich hinglitt in der Muschel meines Herzens –, von wo ich mich zu Fuß zum Schachte der Untergrundbahn vor der Wertheimarkade durchzwängte.

Ja, da ragte es, ernst, mit umdunkelter Stirn, das Heim der Wertlosigkeiten, mit dem Aussehn eines ehrfurchtgebietenden Heiligtums. O, ihr Deutschen! Da wolltet ihr ein Kaufhaus bauen, eine Gelegenheit, wo euch das Kaufen, das Geldvergeuden ein glitzerndes Vergnügen sein soll, und anstatt eine luftige Menagerie hinzustellen, errichtet ihr eine düstre, alle Eitelkeit des Irdischen verneinende Kathedrale: Ziehe deine Schuhe aus … und nennts den neuen Warenhausstil. Die einzige Kirche des zwanzigsten Jahrhunderts …

Wie ich mich aber dann umdrehte, unter die Pfeiler mich rettend, drüben aus der Nachthöhe rings um den Platz die bunten, feurigen Räder umliefen, gigantische Schriftbänder vorstießen, Pfeile, Sonnen sich ausstrahlten, und am Grunde dieses Nachtgewässers der Strom sich ergoß, in den tausendfachen Skandal verdonnernd, eiserne Wagen an Wagen, erleuchtet, bis zum Rande voll stehender, sitzender Schicksale ohne Häupter, und die Kanäle der Fußgänger, unerschöpflich; wie ichs hervorquellen sah aus den tausend sich schwingenden, umwirbelnden Türen, und dahinter wimmelnde Treppenhäuser, senkrecht stürzende, senkrecht entfliegende Förderkörbe voll von Wimmelndem, und wimmelnde Säle, wimmelnde Zimmer bis unters Dach, zehntausend Fußpaare, zehntausend Schicksale sich hinabstürzend zum Grunde und im Ebenen hingerissen in eisernen Gleisen ihres Lebens, ein wieherndes Toben der Mühseligkeit, der Beladenheit, des Genusses, zum Schaudern ameisenhaft ganz und gar – – sieh, da wars wieder dasselbe Bild, das ich sah: ein einziger Strom des Lebens, der wahrhaften, göttlichen Lebensessenz um den Erdball ergossen, aus dem ein jeder schöpfen mag für sein Dasein, wo er steht. Und an solchen Stellen wie dieser, wo Hunderttausende trinken wollen – wieviel kommen da Tropfen in jeden der schnappenden Fischmunde? Sie ersetzen durch Luft, was fehlt an Essenz, durch Betriebsamkeit den Lebenstrieb, und das giebt dann – Sekt –, was Wein sein sollte –, das Göttliche versetzt mit Kohlensäure, Schaum für Kristall.

Dann aber, mein Benno, erschienen sie mir dort oben, im Dunkel der Berge, am Ursprung des heiligen Quells, die Beiden, die Geächteten so oder so, die Ausgeschlossenen von dem, was man ›das Leben‹ nennt: an den Händen sich haltend mit Zartheit, die stillen, beredsamen Augen in Eintracht hinabgeneigt zum dunklen Kristalle des ewig Reinen, und herausholend vom Grund – wie der Tiefseeforscher im Perlkranz der Wassertropfen den farbig leuchtenden Schleier der Infusorien, der Zauberformen, der Rätselkristalle, der Rädertierchen und mikroskopischen Algen – so heraufholend diesen zartesten Schleier ihrer Künste, sie auszubreiten über Gebrechlichkeit und den unendlichen Schmerz. – –

Georg schob die Blätter zusammen. Ich schließe ein andermal, dachte er matt, jetzt finde ich weder zu mir noch zu ihm den Übergang, und – ich schrieb es ja wohl auch nur für mich.

Die Hände lasch auf den Blättern, vor den Augen noch Tumult und Vision, entkräftet im Herzen, lehnte er sich zurück, die Blicke aufwärts richtend in das Dunkel, wo die schweigsamen Fronten der Bücher sich in Stockwerken reihten.

Und du, Cordelia, dachte er vereinsamt, was tatest du? Fünfunddreißig Jahre Nacht, Nacht, Qual, Qual. Endlich die farbige Wonne, der kleine Schleier eines Halbjahrs. Und endlich – die Stille – der Triumph – das Lächeln für immer. Das war ein Leben?

Ist das das Leben? Ist dies der Strom: Leiden? Giebts keine andre Essenz, die das Leben verleiht? – Dann, dachte Georg, den alten Angstdruck aufkeimen fühlend in der Brust, dann komme ich wohl langsam näher …

Nahm seine Sachen zusammen, löschte die Lampe und ging.


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