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Fünftes Kapitel: März

Wiedersehn

Georg, in einem dumpfen, verbitterten Traumzustand seit Tagen, jetzt durchbohrt von Ungeduld, in andre Kleider und zu Renate zu kommen, verließ den Berliner Schnellzug und schob sich durch vielerlei Reisemenschen die Treppe hinunter und durch den Tunnel in die große Halle, doch heimatlich berührt vom Altenrepener Gesicht. Er trat in eines der Portale, sah nachmittäglichen Sonnenschein auf dem alten Platz, es war warm und roch nach März. Da! Esther! durchfuhrs ihn, – aber sie war ja tot … Aber die da vor ihm im Wagen saß, nein, Esther war es ganz und gar nicht, nur ihr Mund wars mit dem süßen, schwärzlichen Flaum an den Winkeln; das Gesicht war ähnlich blaß und zart, wie es häufig das Esthers gewesen war. Diese saß im Rücksitz des weiten Kaleschwagens – ein großes schwarzes Pferd stand stämmig und ruhig davor – tief hineingelehnt, in schwarzem glatten Pelzwerk; die Spitze ihrer Nase war zarter und hochmütiger gekrümmt als Esthers Nase; sie trug einen schwarzen Hut aus Filz mit hochgebogener Krempe, postillionartig, und vor ihr, einen Fuß auf dem Wagentritt, stand ein Herr im Pelz und sprach mit ihr. Nun bewegte sie das Gesicht her, und Georg sah in dem kleinen Dreieck erschreckend groß die Augen mit sehr langen Wimpern von –? – Gott, wie hieß sie denn noch? – Schley, Virgo Schley! – Ein Träger, Taschen unter dem Arm, einen Koffer auf der Schulter, schob sich dazwischen, aber ihre Augen kamen unverändert hervor, unverändert in der Richtung auf die seinen, ohne Erkennung darin, – und nun er selber, er dachte nichts mehr, fühlte nur und erwiderte ein wunderbares, tiefes Anschaun, das dauerte – – dauerte – –. Jetzt wandte der Herr sich um – war er ihrem Blick gefolgt? – Georg sah undeutlich sein Gesicht, es schien ihm bekannt, es war Schley. – Der nahm den Zylinder ab, trat auf ihn zu und sagte: »Georg, lieber Junge, seh ich dich wieder?«

Überrascht und erfreut sah Georg das Einglas aus dem langnasigen Gesicht tropfen. Sie schüttelten sich die Hände. Die Frau im Wagen hatte sich aufgerichtet und sah herüber.

»Ja, wie ist es denn mit dir?« fragte Georg, »du mußt entschuldigen, ich weiß nichts Rechtes, ich habe so für mich gelebt …«

Der Adel sei dahin, sagte der Freiherr, sonst nichts; er habe ihn seinem guten alten Papa mit in den Sarg gegeben.

»Ja, und nun bist du Abgeordneter, nicht wahr?«

»Jawohl, jawohl, für den Fortschritt, vorläufig, jetzt will ich eben nach Berlin, es ist noch Zeit, komm, ich stelle dich – ah, du kennst ja meine Frau!«

Er zog Georg zum Wagen und sagte: »Hier ist der Prinz Trassenberg, du erinnerst dich wohl? Ja, hör mal, Georg –«

Sie reichte ihm die Hand. Lachte leicht und sagte:

»Damals sahen Sie aber hübscher aus, – was haben Sie denn für Falten bekommen? Daß wir Brüderschaft getrunken haben, hab ich aber vergessen!«

Hatten sie Brüderschaft getrunken? – »Schade,« meinte Georg, »aber ich verdiene es wohl nicht – für damals.«

Georg hörte Schley lachen und von jenem Abend reden. – Wie seltsam ängstlich ihre Augen waren. – Ihr Mann blickte auf die Uhr, meinte, es würde Zeit für ihn, und küßte seiner Frau die Hand, ermahnte sie, guten Mutes zu sein, drückte Georg die Hand und ging. Nun stand Georg näher vor ihr, sah auf sie herab, aber sie sah ihn nicht an, sondern nach drüben hinaus. Endlich blickte sie auf: ob es ihm recht wäre, sie habe ein Stück die Allee hinunterfahren wollen. Oh, das sei reizend, meinte Georg, da wohne er ja. Er setzte sich in die andre Ecke des Rücksitzes, der Kutscher sah sich um, der Wagen setzte sich langsam in Bewegung.

Georg vermied es, sie anzusehn: sie hielt das kleine Gesicht gesenkt, drückte zuweilen den kleinen schwarzen Muff dagegen, sprach kein Wort. Auch wars allzu lärmend herum, der Verkehr drängte fast in den weit offnen flachen Wagen, vorüber- oder mitfahrende Radler sahen zu ihnen herein, eine lange Zeit blickte vom Hinterperron einer Trambahn ein Halbdutzend Augenpaare auf sie herunter, nun waren sie über den Platz am Café und rollten leichter die breite Straße hinab, plötzlich blendend überflutet vom Untergang der Sonne, in die sie gerade hineinfuhren, die alles umher glühend färbte und Georg zwang, sich im Wagen auf und vornüber in den Schatten des Vordersitzes zu setzen.

Virgo Schley, dachte Georg. Eine Waise, hatte er gehört, die Adoptivmutter eine sondre, alte Frau, – der Vater des Freiherrn hatte sich vor kaum drei Jahren erst den Adel gekauft, der war freilich nicht viel wert. Langsam kehrte ihr erster Blick in ihm wieder, wie war der doch geschwisterlich gewesen, heimatlich … Da lenkte der Wagen auf die andre Straßenseite und hielt gleich darauf.

»Ach,« hörte er sie leise sagen, »hier ist ja der Obstladen … ich wollte … bitte, helfen Sie mir heraus.«

Georg sprang eilfertig auf den Bürgersteig und hielt ihr die Hand hin, sie streifte, als koste es sie die schwerste Anstrengung, die Decke von den Knien, erhob sich, – und Georg konnte nun die leichte Schwellung ihres Leibes sehn, wie der Kleidrock sich, von der Decke unten gehalten, straffte: sie war guter Hoffnung. Schwer auf seinen Arm sich stützend, stieg sie mit unendlich langsamer Vorsicht aus. Im Laden kaufte sie unter hundert Zweifeln, Zurücknahmen und Änderungen eine Menge Trauben, Ananas und Birnen, so schöne, gelbe, daß Georg, auch aus Mitleid mit der Verkäuferin, für sich einige von ihnen kaufte. Als sie wieder im Wagen saßen, war sie völlig erschöpft, lachte aber nun ein wenig über sich selbst und fing an zu plaudern, fragte, ob Georg noch studiere, ob er Berlin nicht hasse, und Georg wurde redseliger und versuchte, ihr diese und jene absonderliche Schönheit von Berlin zu beschreiben, so einen Frühlingsabend, wie er ihn eben noch gesehn, wenn in den Körben der Verkäuferinnen in den schon grauen Straßen die Blumenberge leuchteten, gelb von Primeln und Narzissen, feuergolden von Tulpen und blaurot von Rivieraveilchen, und dann die gewaltigen Schattenmassen der Häuserblocks mit ihren Schloten und Türmen in einer brandigen, schwärzlichen Röte, die ins sanft Klare rauschte, in durchsichtig weißes Gold, und über allem der grüne Himmel, locker bemalt mit vergehenden silbernen Rändern von unsichtbaren Wolken, höher hinauf so blau wie das Meer auf japanischen Holzschnitten.

Sie rollten schon auf dem Fahrweg neben der kahlen Allee; angenehm trabten durch die Stille die großen, ebenmäßigen Hufschritte. – Da bist du nun … hatten ihre Augen gesagt – da bist du nun – da bist du nun … Ein süß beklemmendes Mitleid bedrängte sein Herz. Bereitete sich hier der Frühling vor, den er eben beschrieb? Nacktschwarz und wie hineingesteckt standen die Gesträuche auf dem graugrünen Rasen, der Himmel war rein und leer; Georgs Gesicht wurde im Fahren durch entgegenschwimmende laue und kühlere Wellen gezogen. Schwere Krähen, wie aus Metall gemacht, schritten im weichen Grasboden, spreizten die Fittiche auf, grün schillernd im Schwarzen, sprangen ab, schwebten zwei Schritte überm Boden ein Stück, landeten hart und in kurzen Sprüngen. Ach, nicht denken, stammelte Georg innerlich, nichts denken! Einfach hinnehmen! Wie entsetzlich war dieser Winter! – Ich will sie in mein Haus tragen, sie ist ja wie ein verkümmerter Vogel. – Er sah sie wieder an und sagte sich: Ich werde sie lieben – so wie Esther –, ich kann nicht anders, mein Herz folgt einmal jedem Stern, um so lieber, je zarter und hülfloser er scheint, ich muß immer brüderlich sein und beschützen. Nun, der Wagen rollte von selber den Weg durch die Anlagen hinunter, schräg auf die Sternwarte zu. Georgs Herz fing an zu pochen, sie kamen näher, das Schlößchen wurde sichtbar, da standen die Kandelaber, Gott sei Dank, er war wieder zu Hause.

»Bitte, halten Sie«, sagte er zum Kutscher, als sie in der Nähe der kleinen Tür waren, und faßte sich ein Herz. »Ach, bitte, kommen Sie nun mit, ich zeige Ihnen meinen Garten …«

»O, wie gerne!« sagte sie gleich, kindlich erfreut, und siehe da, es ging durchaus leichter diesmal mit dem Aussteigen, und sie lief mit kleinen, leichten Schritten neben ihm her. –

Lächelnd erschien der blasse Egon. – Das Zimmer war vorbereitet, Blumen in allen Vasen – alles war wie einst. – Sie sah sich neugierig um, den Kopf drehend. »Wie hübsch ist es hier!« meinte sie; sonderbar, das hatte doch noch niemand gesagt! – »Die Menge Bücher! Lesen Sie so viel? – Später werden Sie mir vorlesen, mögen Sie gern Verse? Ich mag nur Verse.«

Ach, da war nun ein Mensch, der nicht das geringste von ihm wußte, und er von ihr – – ja, was war da wohl viel zu wissen. Sie war ganz dicht zu ihm getreten und sah zutraulich zu ihm auf; ganz rasend überfiel ihn das Verlangen, sie in die Arme zu schließen, er sah, daß sie einen Handschuh ausgezogen hatte, ergriff ihre Hand und zog sie zum Munde empor. Da sie nicht wieder fortgezogen wurde, küßte er sie langsam von allen Seiten – o wie war sie glatt und warm und weich und lebendig, ohne Ring, ohne alles! – küßte den Rücken, das Gelenk, die Finger einzeln, den kleinen, weichgekrümmten Daumen, der ein kleines, runzliges Gesicht hatte.

»Ja, was machen Sie denn?« hörte er sie nach einer Weile fragen. Klein stand sie vor ihm, den Arm hochhaltend, die Brauen ein wenig gerunzelt, aber der Mund lächelte – lächelte atemberaubend.

»Soll ich nicht?« fragte er.

»Ach, warum nicht,« meinte sie achselzuckend, »wenn es Freude macht. Aber nun muß ich sitzen.«

Georg mußte ihr einen Sessel vor die Gartentür schieben, dort versank sie, zog auch den andern Handschuh aus, aus dem ein locker sitzender Reifen von Gold zum Vorschein kam, den sie gleich abzog und ihm gab. Er sollte ihn auf den Tisch legen, er sei ihr immer zu schwer. »Aber nicht vergessen nachher, daß ich ihn mitnehme!« rief sie leicht und lachte in sich hinein.

Georg war ratlos. Sie war ja ein Kind – und Mutter – – und hieß Virgo? – Sie legte die Handflächen gegeneinander über dem Muff im Schoß, neigte das Gesicht und sah nach oben, gegen den verblaßten Himmel, großen, gläubigen Auges. Bald darauf nestelte sie den Hut los – es sei ihr alles zu schwer –, fuhr mit den Händen ins braune Haar, das kurzgeschnitten war und lockig um das kleine dreieckige Gesicht stand; im Nacken war sie völlig ein Knabe. Sie sah wieder gradaus; Georg, nicht weit hinter ihr an der Schreibtischkante lehnend, konnte die Augen nun nicht mehr wegwenden von ihrem Gesicht, und bald kamen die ihren langsam herbei. Die Nasenflügel blähten sich ganz leise auf, Georg sah es deutlich, – es erinnerte ihn an – an ein Kind, das sich im Schlaf bewegt, aufatmet und tiefer schläft.

»Heißen Sie wirklich Virgo?« fragte er. Sie nickte lächelnd.

»Komisch, nicht?« Ernster dann, und mit seltsam tiefer Stimme, und doch nicht ohne – ohne etwas Verlockendes in Blick und Stimme, sagte sie: »Denken Sie nur! Ich hatte keinen Vater und keine Mutter, eine alte Frau nahm mich zu sich, die nannte mich Virgo.«

»Pflegt sie nicht in Hosen zu gehn?« fragte Georg, sich dunkel erinnernd, »und Pfeife zu rauchen?«

Virgo lachte. Sie wäre selber immer in Hosen gegangen, es sei herrlich, und ihre Stiefmutter sei um die Wette mit ihr geritten und habe Hurra geschrien, Georg sollte sie kennen lernen. Nach einem Schweigen sagte sie süß und ganz langsam: »Georg ist ein schöner Name!« –

Georgs Herz fiel in Stücken auseinander. Cordelias Worte … Himmel, diese Wiederholungen! – Schwer sich bewegend, nahm er einen Stuhl, er glaubte, sie nicht mehr ansehn zu können, setzte ihn neben ihren Sessel und ließ sich nieder. Ein Weilchen später legte er seinen Arm auf das weiche Lederpolster der Lehne ihres Sessels, und es dauerte nicht lange, so glitt eine leichte, warme Flocke darauf, ihre Hand; ihre Finger schoben sich in die seinen, sie sagte ganz leise wieder:

»Ich habe mich immer« – jetzt ward ihre Stimme ganz tief – »so namenlos gefürchtet vor – dem Kind. Am meisten vor Wolfgang –« Die Stimme wechselte wieder und tönte hell: »– nun bei Ihnen ist es gut, und ich kann alles vergessen.«

Georg rührte sich nicht. Ihm war sonderbar zufrieden zumut, ja, glücklich. Dies Kind eine Weile zu schützen, das war sehr gut. Er glaubte, getrost den Arm um ihre Schulter legen zu können, obwohl er es seinetwegen tun mußte, nicht ihretwegen, aber kam es nicht allein darauf an, wie sie es empfand? – So löste er die Hand aus der ihren, legte dafür die andre hinein und den Arm um ihre Schulter. Als sie sich gleich tiefer hineinlehnte, mußte er sich sagen: Sie trägt ja ein Kind – wie kann sie mich empfinden? – So saßen sie schweigsam zusammen, sahen die Schar der qualmenden Fabrikessen in der Ferne langsam undeutlicher werden in der sinkenden Dämmerung, fühlten warm ihre Hände und waren jeder – Georg sprach es sich aus – in einem Reich für sich – aber doch hielten sie einander und spürten Wohltat. – Als es fast dunkel im Zimmer war, machte sie ihre Hand frei und flüsterte, sie müsse gehn, sie würde erwartet. Sie erhob sich dann, Georg reichte ihr den Hut, sie setzte ihn auf, nahm Handschuh und Muff aus seiner Hand, stand noch ein Weilchen und sah sich um. Dann ging sie leicht hinaus.

Aus dem Wagen die Hand streckend, sagte sie nur: »Ich komme bald wieder.«

»Morgen?« fragte Georg.

Sie lachte hell und kindlich: »Morgen früh! Los, Krischan!« rief sie dem Kutscher zu. Hinter dem davonrollenden Wagen erschien im Dunkel der Bäume langsam das kleine, bläßliche Dreieck ihres Gesichts fast wie ein leerer Wappenschild, in dem dann langsam die beiden Augen aufgingen. Georg suchte schwereren, aber nur von süßer Ratlosigkeit und Hoffnung schweren Herzens sein Zimmer wieder auf, setzte sich an den Schreibtisch, und etwas fiel zu Boden, rollte und blieb klirrend liegen. So –! Ihr Ring – natürlich hatten sie ihn vergessen. Er suchte, fand ihn nicht, machte Licht und sah ihn vor der Bücherwand liegen, glänzenden Auges wie ein erwischter Igel. Er hob ihn auf, trat zur Lampe, ließ sie aufflammen und suchte nach einer Schrift im Innern des Reifens. Wolfgang Theodor stand darin, 24. Mai. – Georg wog den Ring in der Hand, schob ihn dann in die Westentasche, dachte: Ich will ihn ihr bringen, dann seh ich sie gleich – –, aber er entschlug sich des Wunsches. Da lag die Tüte mit Birnen auf dem Tisch. Ja, Birnen! dachte er erfreut, drehte den Sessel, in dem sie gesessen hatte, gegen das Licht, holte eine Birne hervor, riß durstig den Stiel aus und biß von oben hinein wie als Junge. Der Saft tropfte, er verschlang sie mit Stumpf und Stiel atemlos und griff nach einer zweiten. Indem er sie in der Hand wog, hörte er sagen: Das sind so Sexualitäten. – Er lachte schnaufend durch die Nase. Wo hatte er das –? Richtig, in jenem Tanzsaal in Halensee, zwei solche Handlungsgehülfen standen zusammen, und als zwei Mädchen vorbeitanzten, fragte der Eine: Was sind das für welche? Ach, das sind so Sexualitäten, sagte der Andre. – Georg zertrat den Gedanken ergrimmt. Sie ist Mutter, dachte er, ja, wie ist das zu glauben? Da war ihr knabenhafter Nacken, ja, so mußte Marias Nacken gewesen sein und so geneigt, als der Engel eintrat und die Lilie gegen sie neigte, und sie konnte nichts begreifen …

Nein, keine Birne mehr! sagte er. Die erste war unübertrefflich, eine Birne ist besser als zwei Birnen, das ist klar, Wiederholung wirkt tödlich. Oh, und nun wird es womöglich eine Wiederholung Esthers geben. – Die Frucht in der Hand, die langsam warm wurde, sah er ins Licht und dachte: Liebe Esther! Es war ihm, als hielte er eine Hand umschlossen, langsam begann es in ihm zu wogen, auf einmal hielt er die Worte: Wer noch so jung ist wie du … Weiter … Wie weiter? – Wer noch so jung ist wie du – Fühlt noch der Schmerzen Gewalt … Behutsam stand er auf, legte die Birne fort, setzte sich vor den Schreibtisch, nahm Bleistift und den Notizblock und schrieb:

Wer noch so jung ist wie du,
Fühlt noch der Schmerzen Gewalt;
Später wird alles gelinde,
Gram und die Lust und der Tod.

Geh auf die Flamme nur zu …

Wie nun? Sollte auf die ersten Zeilen gereimt werden? Er fand:

Blasse, geliebte Gestalt.
Flamme verzehrt nur …

Er suchte … Not, Rot, blinde, Binde, Gewinde, umloht, bedroht … Ja! Und er schrieb:

Flamme verzehrt nur die Rinde,
Aber du bleibst unbedroht.

Damit war es aus. Laß ihr die goldenen Schuh … fing er noch wieder an, aber er merkte, es war nichts mehr, und dann warf er wütend den Stift hin und hätte sich mit Entzücken selber auf den Kopf gespien. Das verfluchte Sieb ist es ja nur! verschwor er sich, das verfluchte Berliner Sieb, durch das man seine Empfindungen rührt; unten tropfen die Verse heraus, und in der Brust bleibt nichts zurück als Schale und Satz, und man ist so kalt, so schlaff und so traurig wie nach dem Liebeskrampf. Herrgott, Herrgott im Himmel, was soll bloß aus mir werden! –

Aus seiner verzweifelten Erstarrung weckte ihn das Geräusch des blassen Egon im Eßzimmer, der den Tisch für den Abend deckte. Er sprang auf, trat zur Gartentür, öffnete sie und tat zwei Schritte in den Garten. In der kalten Stille stand das Gesträuch und das Geäst der Bäume regungslos, kaum sichtbar; sichtbar nur oben, wo weiße Sterne waren.

Kommt nun wieder das Frühjahr, wieder die alte, seltene Lust, die immer neue, die nie bekannte? Kommen wieder die Schwalben und wecken das Herz, lieblich tönend im leichten Raum, und kommt das große Sprießen über die Erde und das Buschwerk, in dem Vogelstimmen laut werden, als wären sie gewachsen im Gezweig? Kommt wieder über das empfindungslose Herz der allgemeine Schauder, kommen wieder Winde und Gewölk, die Musik der Halmefelder, und kommt auch wieder, wieder das alte Hoffen?

›Und so verbürgt es die Form der Sonnenblume‹, hörte er tonlos sagen. Ihn fror leicht. Er ging ins Zimmer zurück, trat an die Bücherwand und suchte Carossas Doktor Bürger. ›Und so verbürgt es die Form der Sonnenblume‹, das war der Ausgang des Satzes, aber wie hieß es ganz? Das Buch war nicht zu finden, vielleicht hatte Benno es genommen. Da stand Egon in der Tür.

»Weiß Herr Prager, daß ich zurück bin?« Egon zuckte die Achseln. Er habe für ihn gedeckt. – Georg ging nach nebenan, hörte aber jetzt das Telephon anwecken, ging wieder zurück, hob den Hörer auf und sagte: »Georg Trassenberg.«

Eine kleine, fremde Stimme fragte: »Georg?«

Wer war denn das? Ach, um Gottes willen … »Virgo?« fragte er.

Er hörte sie leise lachen. »Wie gehts Ihnen denn?« fragte sie.

»Ach, wunderbar!« versicherte er, »wunderbar!«

Eine Weile wars still, er wollte eben fragen, ob er nicht kommen dürfe, da hörte er sie sagen: »Lieber guter Georg, ich konnte es eben gar nicht sagen, ich wollte …« Sie verstummte.

»Was denn?« fragte er liebevoll.

»Ich habe die ganze Zeit denken müssen, wir haben doch Brüderschaft …«

»Ja, Est–,« brach es aus seiner Brust auf, »– ja, Schwesterchen, ja, ich habe es auch immer gedacht.«

»Wie schön!« sagte sie aufatmend. »Da werd ich einmal gut schlafen heut.«

»Ja, das mußt du auch«, bekräftigte er sänftlich.

»Dann, gute Nacht!«

»Gute Nacht, kleine Schwester!«

Georg legte den Hörer hin, stützte die Knöchel auf die Schreibtischplatte, starrte vor sich hin.

So ist es gut, murmelte er tonlos, so ist es gut – so – ist – es – gut – –

Neuigkeiten

Georg sah beim Betreten des Arbeitszimmers, links nahe der Treppe, zu seiner Begrüßung zurechtgestellt, einen langen Gehrock, davor eine Hand, die einen umflorten Zylinder hielt, und darüber eine goldene Brille, streckte die Hand aus und sagte: »Herr Hofkammerrat?«

Der verbeugte sich, nicht eben sonderlich tief. Unterhalb der Brille erschien jetzt das nach unten zurückfallende Kinn; kein Bart, ein ältliches Gesicht mit rötlichen, kleinen, scharfen Augen ohne Brauen und Wimpern, vielleicht – jesuitisch. Im Zimmer klang es trocken:

»Durchlaucht – –, ich komme vom Beuglenburger Hofe, – mit einer Trauernachricht.«

Georg zuckte zusammen. Beuglenburg … Trauer …? Er war am Hofkammerrat vorüber zum Schreibtisch gegangen, drehte sich nun langsam herum, hörte:

»Ich bin Überbringer der traurigen Nachricht vom Ableben Seiner Hoheit des Erbprinzen Adolf Emil; er verschied gestern abend gegen sieben Uhr nach langem schwerem und mit unsäglicher Geduld ertragenem Leiden.«

Die ruhige und trockne Stimme erlosch. Georg glühte auf am ganzen Leibe und zitterte über und über, – warum bloß? Was war – –? Da hörte er sich schon sagen: »Mein tiefempfundenes Beileid, Herr Hofkammerrat, das ich auch Seiner königlichen Hoheit auszusprechen bitte.« Er setzte sich, machte eine Handbewegung und drehte den Schreibstuhl herum gegen seinen Besuch. – Der Hofkammerrat setzte den Zylinder fort, sank in den tiefen Sessel, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und fing an, die Handschuhe auszuziehn. Es sauste Georg in den Ohren, er wußte, daß er etwas sagen mußte, er dachte, ohne es zu verstehn: Erbprinz, Großherzog, Sigune. Eine dünne englische Stimme rief ganz fern durch einen Garten: »Gunny! Gun–ny!« – Mit aller Gewalt nahm Georg sich zusammen, setzte sich grade, da verließen ihn alle Gedanken, er sah den Grafen gelassen, tiefer als er, im Sessel sitzen; nun hob er die linke Hand, weiß und flach, klopfte mit den Fingerspitzen gegen den Mund und räusperte sich. Eine Redewendung schoß Georg auf, die er gleich hersagte: er zweifle gleichwohl nicht, daß die Übermittelung dieser Nachricht nicht der Grund sei für das persönliche Kommen … Und nun hatte er sich einigermaßen wieder.

Die Stimme des Hofkammerrats war wieder hörbar, trocken und leicht hinbewegt, fast herablassend. Er erklärte, es sei dem Prinzen voraussichtlich bekannt, daß nunmehr von drei Kindern dem verwitweten Großherzog noch eine Tochter Sigune, nunmehr im neunzehnten Lebensjahre stehend, verblieben sei; als bekannt dürfe er wohl auch voraussetzen, daß nach Zinnaschem Hausgesetz die Regierung erblich sei im Mannesstamm des Hauses Siegen-Zinna nach dem Rechte der Erstgeburt bis zum letzten Grade nachweisbarer Verwandtschaft mit der Linie, und daß die weibliche Linie auch nach dem Erlöschen des Mannesstammes von der Erbfolge ausgeschlossen bleibe.

Georg hatte kein Wort verstanden. Er dachte verzweifelt nach. Der Erbprinz … Tuberkeln – – immer krank, richtig. Mein Vertrag, mein Vertrag – mein Vertrag – – Ihm war eiskalt. Wie bin ich denn verwandt mit …? Er glaubte, dunkel zu wissen, daß außer ihm noch ein Verwandter … Derweilen fuhr der Hofkammerrat fort, vom Großherzog zu reden und ihn einen armen, kranken, gequälten, der Geschäfte und des Lebens müden Mann zu nennen, durch den Tod des Sohnes völlig gebrochen und gewillt, schon jetzt zugunsten eines Verwandten auf die Regierung zu verzichten. – Nun komme ich, nun komme ich! schrie da etwas in Georg. Ja, – der Großherzog, – magenleidend, von Kind an grämlich, trübsinnig, – sexuelle Anormalität … verheimlicht … Seine Frau machte einen Fluchtversuch vor der Heirat … armes Geschöpf! – – Erster Sohn kam tot … Sie starb … Herzschlag – – oder – freiwillig? –

Auf einmal hatte Georg das Gefühl, als ob ihn dieser Mensch unablässig beobachte. Er zog sich im Stuhl zurück, kreuzte die Beine, ließ die Mundwinkel fallen und sagte, da der Graf schwieg: »Bitte, reden Sie weiter.« Der setzte die Ellbogen leicht auf, lehnte die Fingerspitzen beider Hände zu einem Dach gegeneinander und sprach; seine Augen blieben Georg unsichtbar hinter den zwei scharfen, weißen Ovalen der Brillengläser; die Spiegelung der Fenster, auch Geäst waren darin erkennbar.

Er sprach nun von dem Vertrage, bedauerte obenhin die Unerfüllbarkeit, meinte aber, es würde sich vielleicht ein andrer Weg finden zur Verwirklichung von Georgs Hoffnungen. Dann sprach er von der Verwandtschaft des Zinnaschen Hauses, nannte Georgs Vater, – der habe bereits früher aus einem gewissen Anlaß seine bekannten Grundsätze offiziell betont, die ihm die Übernahme der Regierung unmöglich machten … Ferner den regierenden Grafen Beuglenburg-Lipsch, Georg Egon, – und schließlich Georg selbst; der Grad der Verwandtschaft Beider mit dem Hause Zinna sei genau der gleiche; immerhin sei der Graf bereits in höheren Jahren, sei zudem zwar verwitwet, aber katholischen Bekenntnisses und katholisch getraut gewesen, so daß eine neue Ehe folglich ausgeschlossen sein dürfte … Georg dachte noch, daß auch die Zinnas katholisch seien, da schlug ihm das Satzende erst aufs Herz. – Ich soll Sigune heiraten! dachte er, bewegte gleichzeitig die Lippen und hörte sich fremdartig sagen: »Ich bitte Sie nun, Herr Hofkammerrat, sich Ihres vollkommenen Auftrages zu entledigen.«

Nun ließ der seine Hände fallen, setzte sich im Sessel vor, faßte flüchtig nach den Brillenstäben, entschloß sich dann, die Brille ganz abzunehmen, kniff mit zwei Fingern den rotgesattelten Nasenrücken und sagte, die goldene Brille ganz leise in der Linken hin und her bewegend, – er hat ganz gute Augen, dachte Georg, nun, wo er mich grade ansieht –:

»Mein königlicher Herr, der Großherzog, hat den innigen Wunsch, seine Tochter als Ihre Gemahlin, Durchlaucht, zu sehn und damit Sie selber, Durchlaucht, unter der Krone, – unter einer Krone, welche die beiden Lande, Beuglenburg und Trassenberg, vereinigen würde. Sollte Ihnen, Durchlaucht, wie ich wohl annehmen darf, besonders an dem Titel eines Herzogs von Trassenberg liegen, so –« schloß er ganz schnell und oberflächlich, »würde sich das ja leicht ermöglichen lassen.«

Georg mußte sich zusammennehmen, nicht durch die Nase zu blasen, und glaubte, vor Wut zu explodieren. So. Nun kam es. Erst verzichtete man, fand sich ab, fand sich hinein, ging seiner Wege, – ja, erst hatte man den schönsten Plan, arbeitete dran Jahre lang, rüstete sich, freute sich, kam näher, und dann – wars nichts. Dann – fand man sich ab, war schon ganz wo anders, und jetzt – – fing es wieder an, aber: zum Nichtwiedererkennen abscheulich entstellt! Und – und warum hat Papa nur geschwiegen? Fast zehn Tage geschwiegen? – Dumpf, hinter unbeweglichem Gesicht die Zähne zusammenbeißend, hob er die linke Hand gegen das Gesicht, betrachtete sie aufmerksam, konnte endlich fragen:

»Bitte, – ehe wir weitergehn, haben Sie vielleicht die Güte, mir zu sagen, wie Prinzeß Sigune selber sich zu dem Wunsche ihres Vaters verhält.« Mn – dachte er, das war ein Faux pas, daß ich auf den väterlichen Wunsch gar nicht eingegangen bin, aber das ist mir – Wurst!

Der Hofkammerrat lächelte. Ja, er lächelte ganz freundlich und sagte: »Die Prinzessin hat selbstverständlich keine andern Wünsche als ihr Vater.«

Georg sah dies Mädchen, mager, eckig, unschön, allzublond, schrecklich schüchtern, – neun Jahre war sie damals. O lieber Gott, nein, diese ganze kranke Familie! Sicher war sie mondsüchtig. – Der Kammerrat derweil sprach ganz freundlich weiter:

»Die Prinzessin ist leider ein körperlich nicht besonders starkes Kind; was aber die Natur hier versagte, das, kann ich wohl sagen, hat sie durch eine reiche, innere Fülle, an geistigen, ganz besonders aber an seelischen, an Herzensgaben ausgeglichen. Dies weiß vielleicht, ja ich möchte ruhig sagen: dies weiß sicherlich niemand so gut wie ich, da sie mir in langen Jahren ihrer – leider – allzueinsamen Jugend fast wie ein eignes Kind geworden ist. Ich bin freilich eine – ich möchte sagen, philologische Natur, andre würden es auch nennen: lehrhaft, – immerhin – die Prinzessin, –« er bog plötzlich ab und fuhr fort: »Ich selber habe die Prinzessin von diesem sie betreffenden Ereignis in Kenntnis gesetzt. Die Antwort, – obwohl, wie ich der Wahrheit halber gestehen muß, nicht leicht zu erlangen, war derart, wie ich – nun, wie ich sie erwarten durfte. Und meinen Standpunkt in dieser Angelegenheit werden Durchlaucht bereits erraten haben.« Er hatte seine Brille wieder aufgesetzt, stand auf, griff nach seinem Zylinder und sagte: »Ich habe den Auftrag, Euer Durchlaucht eine Bedenkzeit von einigen Tagen zu überlassen. Der Tod des Erbprinzen, so sehr er die Entschließungen meines königlichen Herrn beschleunigte, bedingt einigen Aufschub. Immerhin, sollten Euer Durchlaucht willig sein, auf die Ideen des Großherzogs einzugehn, so möchte ich mir gleich erlauben, einen Besuch Euer Durchlaucht in Zinna etwa nach Ablauf von drei oder vier Wochen in Vorschlag zu bringen.«

Georg hatte sich erhoben, stützte die Hände auf die Schreibtischplatte und blickte angestrengt aus dem Fenster. Er fühlte die Wut verraucht und sich kraftlos und müde. Ich könnte ihn gleich wegschicken, dachte er gleichgültig. Ohne seine Stellung zu verändern, drehte er Schultern und Gesicht nach dem Dastehenden herum und sagte möglichst ruhig und nicht unfreundlich:

»Ich möchte Ihnen keine allzugroßen Hoffnungen machen. Sie kennen mich nicht, Graf, Sie haben vielleicht von mir gehört, jedenfalls – ich bin kein Mensch –« hier fiel ihm ein, daß gewiß schon Viele, in der selben Lage wie er, die gleichen Worte gebraucht hatten – »der sich –« er wollte sagen: auf den Befehl eines alten Trottels, sagte jedoch kurz abschließend: »auf Wunsch verheiratet.«

Danach wandte er das Gesicht nach dem Fenster. Der Graf räusperte sich hinter ihm. Er möchte nicht denken, hörte Georg ihn sagen, daß er eine von dieser sehr verschiedene Antwort erwartet habe. Immerhin gebe es ja noch andre Wege für den Großherzog, und Georg dürfe glauben, daß dieser Weg kaum beschritten worden wäre, ohne Georgs eigne, vorangegangene Initiative, die seine Absichten, zur Regierung zu gelangen, offenbart hätten. – Ja, also nun bin ich noch selber schuld! – dachte Georg gekränkt.

»Also bitte,« sagte er, sich umdrehend und locker die Hand hinhaltend, »kommen Sie morgen wieder.«

Er fühlte seine Hand kurz ergriffen und wieder losgelassen. Der Graf wich zur Treppe zurück, Georg folgte mit zwei Schritten empor und öffnete, draußen stand Egon und öffnete die Haustür, Georg sagte Adieu, schloß die Tür und blieb stehn. Das Gefühl, niesen zu müssen, ließ ihn das Taschentuch ziehn, er schneuzte sich, nieste dann ein paar Mal heftig, die Augen tränten ihm, er dachte: ich habe mich im Saal erkältet. Nun fühlte er auch Schmerzen im Rücken, wünschte, sich auszustrecken, aber es war kein Sofa da. Langsam ging er in sein Schlafzimmer und legte sich auf das Bett. Im Fenster war der traurige Märzhimmel und Geäst; er lag fast wie in Berlin.

Sie kann ja einen Andern heiraten, und der kann Regent werden. Oder der Beuglenburger Lipsch kriegt einen Konsens und heiratet sie. Ach, was geht das mich an! Nein, ich bin diese Sache nun müde. Merkwürdig! fuhr es durch ihn hin, habe ich eben wohl nur einen Augenblick bedacht, daß ich der gar nicht bin, für den er mich hielt? Genug, genug mit dem Ganzen! – Er warf sich herum, fühlte seine Nase dumpf und verschlossen, legte sich auf die Seite, das Gesicht nach der Wand und zog heftig Atem. Langsam erleichterte sich das rechte Nasenloch und wurde frei. Ob Papa dies alles wohl gewußt hat? – fragte er sich plötzlich. Der Erbprinz war ja immer krank gewesen. Oder weiß er vielleicht einen andern Weg? Und wenn ich nein sage, was dann? – Sein Kopf glühte, er stützte sich auf den Ellbogen, die Nase war wieder fest verschlossen, die Mundhöhle klebrig, und er drehte sich herum und sah nach dem Fenster; das blendete, ah, kam doch die Sonne? Aufspringend, lief er zum Fenster und sah nach oben. Ja, eine silberne, weißliche Quelle bewegte sich da oben im Grau, Gewölk wurde sichtbar, die Bäume regten sich, nun fiel ein blasser, gelber Streifen. Ach, wie sah auf einmal alles anders aus! – Ich bin so gräßlich nervös geworden, dachte Georg, so wie die Sonne wechselt, fühle ich mich froh oder trübe. –

Er ging nun wieder ins Nebenzimmer und setzte sich an den Schreibtisch, nieste heftig, schneuzte sich, – die Sonne war wieder fort. Man könnte es als ein Opfer ansehn, dachte er schwer. Renate, – das war noch eine Versüßung; und – es war zuviel, ein Doppeltes an Gewinst, – es soll aber das eine sein, das reine Ziel. Ach, wie schön, wie schön hätte es werden können! Beuglenburg obendrein – was gab es da nicht alles zu tun! Sigune – –? Wer weiß, was sie heute für ein Wesen ist? Zart, gutherzig würde sie jedenfalls sein, lenksam, willenlos. Freiheit genug würde ihm bleiben. Und Renate – sie konnte ja auch nicht wollen. – Vielleicht sehe ich sie mir einmal an; wenn sie gar zu schlimm ist, bin ich stark genug, auch rücksichtslos zu sein. Möglich auch, – ich sage ihnen dann, wer ich in Wahrheit bin! – Da sah er schon die ganze Szene, Minister, Hofkammerrat, denen er schlichte aber klirrende Worte hinwarf.

Aufstehend setzte er sich auf den Schreibtisch, streckte absichtslos die Hand nach dem Telephon aus, und da er dies getan, nahm er auch den Hörer auf und bat den Hausmeister, ihn mit Benno zu verbinden. Gleich darauf hörte er Bennos Klavier, es brach ab, Schritte kamen, er sagte: »Benno?« –

»Ja, hier bin ich«, antwortete Bennos Stimme. Georg sprach matt und langsam weiter:

»Ich soll heiraten, Benno, die Beuglenburgsche Prinzessin, ja. Und Großherzog werden, – ja. Na, was meinst du?«

Benno, mit unterdrückter Stimme vor Erregung, sagte: »Ich bin außer mir! Georg! das kannst du nicht! Das ist Gewalt!«

Ach, der gute Benno, dachte Georg und wiegte sich, so ist die Sache denn doch nicht in Fürstenhäusern.

»Ja, lieber Benno, du drückst das ein bißchen stark aus. Wer was erreichen will, muß Opfer bringen. Neigungsheiraten, weißt du, sind an Fürstenhöfen sowieso verpönt. Denke, ich könnte König von Holland werden oder dergleichen, – und die Prinzessin ist vielleicht sehr nett.«

»Ist sie schön?« fragte Benno.

»Ich weiß nicht, ich glaube nicht; aber sie soll sehr gut sein. Ich kann sie ja denn wenden lassen.«

»Du bist ja gar nicht so zynisch, wie du tust, Georg!«

»Ach, der Teufel«, schrie Georg, »soll da nicht zynisch werden! Na, danke schön, Benno, ich wollte bloß mal hören … Also du rätst ab?«

Benno stammelte etwas, Georg lachte, er sollts schon gut sein lassen, und legte den Hörer hin. Die Nase juckte ihm wüst, er bearbeitete sie mit dem Taschentuch, indem er spöttisch dachte: Alles ist immer so einfach für die Unwissenden. Ich glaube, ich werde doch mal hinfahren. Ach, wenn man bloß nicht so allein wäre! Wer hilft einem denn? Aber nein, nein, nein, gut so, dies muß ich allein ausführen. Ich will schon fertig werden!

Er dehnte sich, und jetzt schwoll ihm die Brust vor unbestimmtem Verlangen nach Thronen und Fürstendasein. Er sah sich in stiller Arbeit, stiller, freundschaftlicher Gemeinschaft mit einem stillen weiblichen Wesen, das ihn liebte, das er gern sah und das er beschützte. Es könnte doch recht – schön – werden –, sagte er sich leise. Ach, man fühlt doch wieder, daß man lebt! Ziele sind da, Wege, Kreuzungen, Widerstände! – Er faßte nach seinem schmerzenden Rücken, dachte: Vorläufig werde ich wohl Influenza kriegen, und wünschte sich zu Virgo. Er ging auf den Flur, klingelte nach Egon, ließ sich den Mantel anziehn und verließ das Haus.

Flut und Ebbe

Renate trat aus der Kapelle, schloß die Tür, zog den grünen Schal fester um die Schultern und blickte eine Weile in den kahlen Garten. Es dunkelte schon; hinter den schwärzlichen Maschen des Buschwerks und der Bäume lag das Haus, stumm und lichtlos, grau, kalt. Frierend lief sie durch den Garten, die Stufen zur Veranda empor und schlüpfte in die angelehnte Tür. Während sie zuriegelte, wurde hinter ihr die Tür zum Flur geöffnet; dann kam vornübergebeugt, auf einen Stock gestützt, ein großer Mann herein, den sie im Halbdunkel nicht erkennen konnte. Drei Schritte kam er vor, die Füße absonderlich hochhebend, die Augen im großen, rasierten Gesicht fest auf sie gerichtet, lachte leicht auf, und – »Herzog!« rief Renate und schlug die Hände zusammen. Er richtete sich auf und hob den Stock hoch.

»Was sagen Sie nu?« rief er stolz.

»Ist es die Möglichkeit!« sagte Renate und ging eilig auf ihn zu. Er nahm ihre Hand in seine Linke, sie merkte, daß sie selber es war, die ihre Hand fast gegen seinen Mund drückte.

»Es ist zwar«, sagte er, sie küssend, »unschicklich in Norddeutschland, einer unverheirateten Frau die Hand zu küssen, aber das macht nichts.«

»Sie gehen! Sie können gehen! Nein, wie mich das freut!« Renate legte die Hände wieder zusammen und meinte, sie könnte schon ihre Freude recht deutlich werden lassen. »Und so verschönt, so verschönt! Welche Ehre mir da widerfährt!«

Sie ging zu einem der Sessel in der Nähe des Kamins und zeigte ihm einen andern. Nicht unbeholfen ging er draufzu und setzte sich. Zwischen Beiden kniete das Hausmädchen und machte Feuer unter den Holzscheiten. »Recht so,« sagte der Herzog, »mich friert ausdermaßen. Setzen Sie sich schnell zu mir, ich habe genau zwanzig Minuten Zeit, dann geht mein Zug, ich muß nach Beuglenburg, es giebt die größten Umwälzungen, unterwegs hat mein Chauffeur mich umgeworfen, vielmehr gegen einen Baum gefahren, weil der Bauer nicht so wollte wie er, da bin ich mit dem Zuge gekommen.«

Das Mädchen ging, Renate setzte sich. Er reichte ihr noch einmal die Hand. Sie mußte sich Mühe geben, sein ihr bekanntes Gesicht wiederzufinden. Die Oberlippe war sehr schmal, der Mund schien größer und kräftiger, das Kinn war erstaunlich groß und stämmig. – Sehr ernst sagte er:

»Ich wollte Ihnen vor allem danken. Wenn mir etwas geholfen hat, waren es Ihre Briefe. Sie sind ein guter Kamerad, ich will dafür sorgen, daß Sie's bleiben. Ja, da habe ich gehen gelernt. So wie's gewesen ist, wirds ja nicht wieder werden, nicht einmal so, wie es hätte werden können, wenn ich gleich damals angefangen hätte, sagt der Arzt, aber –« er setzte sich fest, »man muß zufrieden sein. Nun sagen Sie – wie geht es Ihnen denn? Ich fürchte, Sie sahen besser aus im Sommer.«

Renate lächelte nur und war froh. »Wollen Sie mir nun nicht erzählen, was das für Umwälzungen sind?«

Der Herzog sah auf die Uhr. »Bloß noch sechzehn Minuten,« sagte er, »vielleicht könnt ich doch einen andern Wagen mieten, ich bin im allgemeinen kein Verschwender.«

»Ja, so nehmen Sie doch meinen!« rief Renate und sprang auf.

»Augenblicklich!« sagte der Herzog, »wenn Sie mit mir kommen. Sie können in zwei guten Stunden zurück sein!«

Renate, schon an der Tür, klingelte, versicherte, sie komme gerne mit, trug dem Mädchen auf, dem Chauffeur Bescheid zu sagen, und setzte sich wieder. Die Scheite im Kamin glommen langsam und widerwillig auf. Renate kreuzte behaglich die Arme und sah den Herzog erwartend an.

»Also,« sagte er, »mein Sohn will Großherzog werden. Es ist eine hundsföttische Angelegenheit, mit Erlaubnis! Vor drei Tagen ist der Beuglenburger Erbprinz gestorben. Er hatte Tuberkeln, seit Jahren schon wurde sein Ende erwartet, ja, vor drei Jahren gaben sie ihn schon auf, aber er erholte sich wieder. Sein Vater ist – also – nur noch eine Masse. Erbschaftsberechtigt sind: erstens ich hier, mein Sohn und ein schon bejahrter Graf Beuglenburg-Lipsch, der gerne möchte. Ich falle aus, für mich ist das nichts. Mein Sohn – ja, was meinen Sie eigentlich? Sie kennen ihn doch …«

Renate sagte: »Ich schrieb Ihnen ja … Kenne ich Georg? Ich mag ihn gern, er ist klug, sehr fein und bescheiden. Freilich, was heißt das …!«

»Nun, lassen Sie mich erst weiter erklären«, unterbrach er. »Außer dem verstorbenen Sohn ist da noch eine Tochter Sigune, neunzehnjährig, eine gute Seele, glaub ich, sehr fromm vermutlich, die Beuglenburgs sind katholisch, die Kleine war und ist – was ich leider nicht wußte – ganz in den Händen ihres Erziehers, der Hofkammerrat am Hof ist und nicht nur sie, sondern den ganzen Hof beherrscht. Jesuitisch erzogen übrigens. Die Entwicklung wäre daher die, daß die Beiden heiraten, mein Sohn und die Sigune. Und das scheint mir bedenklich. Georg hat Spätlingsnerven, hat gar kein Talent zur Brutalität, denkt von außen nach innen und ist noch sehr jung. Der Gedanke, daß er erbt, hat ja nun für mich alles Bestrickende. Trassenberg war bis über Achtzehnhundert hinaus selbständig, kam dann zu Beuglenburg. Aber Trassenberg gehört mir. Solange der alte Großherzog regierte, hatte ich keinerlei Schwierigkeiten. Alle Beamtenstellen in Trassenberg besetzte ich. Kommt der Beuglenburger Graf zur Regierung, so habe ich die Jesuiten im Land, und es giebt den ungeheuerlichsten Schlamassel; in jeder Beziehung. Das brauche ich nicht zu erklären. Ich könnte freilich selber regieren, ich bin der nächste, aber – ich will einmal nicht. Doktor Birnbaum ist zwar dagegen, stabiliert nach wie vor sein heiligstes Menschenrecht, nämlich das, jeden Augenblick seine Meinung ändern zu können, aber – ich habe mich an diese Meinung zu sehr gewöhnt, bin auch zu alt zu Neuerungen.« Er lachte kurz und griff nach einem imaginären Bart.

Indem trat der Chauffeur ein und meldete, der Wagen sei bereit. Der Herzog stand auf. »Fahren wir nur,« sagte er, »ich bin so schon ungeduldig genug.«

Eine Weile später saß Renate unterm schwarzen Pelz in der Wagenecke, der Herzog in der andern, der rechten, die er sich ausbedungen hatte, da er auf dem rechten Ohre taub sei. Wie Bogner! fiel es Renate ein, wo war Bogner? Oh dies war auch ein Mensch, dieser nicht regierende Herzog! Das Automobil bog gleich in den Wald ein, die Lampe unter der Decke glühte auf, das Gesicht des Herzogs erschien rötlich; eng und warm war der Raum um sie, die Scheiben beschlugen schnell.

Der Herzog war plötzlich verstummt. Renate mochte ihn nicht stören, da er sicherlich viel im Kopfe hatte, auch genügte ihr vollkommen die Wohltat der Fahrt und das Dasein des fremden, immerhin doch – kaum bekannten Menschen. Sie glaubte, in sich versunken, wohl eine Viertelstunde bereits im Fahren zu sein, als sie ihn sprechen hörte, ohne daß er sie ansah.

»Sehen Sie,« sagte er, »man tut doch immer zu wenig. Oder man ist immer nach einer Seite hin geblendet, und aus den wunderlichsten Ursachen. Jahrelang, jahrzehntelang lag diese Sache nun vor mir, ward sie geplant, beleuchtet – und – den Gedanken an diese Heirat habe ich ebensowenig mit kalkuliert, wie ich einen starken Einfluß des Hofkammerrats, an dieser Stelle, ahnte. Es ist bei Gott, als ob er sich versteckt hätte. Denn nun hat der Gedanke: Georg und Sigune, die verteufeltste Ähnlichkeit mit dem Kolumbusei: solange ungedacht – ists eben nichts – und sobald gedacht das einzig Naheliegende und Natürliche …«

Nun wars wieder still, lange Minuten, bis auf das Rauschen der Fahrt.

»Ich habe das eben so obenhin gesagt,« fing der Herzog wieder an, »das mit dem Altsein, aber ich meinte es nicht. Nein, ich bin nicht alt.« Er beugte sich mit einem Ruck vor, faßte seinen Stock und schlug damit auf seine Stiefelspitzen unter der Decke. »Absichtlich habe ich diese Kraftanstrengung gemacht mit dem Gehenlernen. Ich – ich glaube, es war die Ungeduld von zwei Jahrzehnten, die auf einmal losbrach, und da habe ich denn nachzuholen versucht, was meine Frau in denselben zwanzig Jahren in ihrem Käfig hat abwandern müssen. Nun denke ich mir alles sehr schön. Mein Sohn und ich waren immer gute Kameraden, Birnbaum ist auch da und liebt Georg wie der ihn, es könnte ein Triumvirat, es könnte sehr, sehr gut werden.«

Er schien Renate noch erregter, als sie nach seinen Worten allein erkennen konnte. Sie sagte, es sei sicher viel Gutes in Georg, er beobachte vielleicht ein wenig zuviel sich selbst, aber – »Nun ja,« murmelte der Herzog, »in diesen Jahren, da ist sich ja jeder ein Labyrinth und sieht an jeder Straßenecke den Minotaurus das Bein hochheben. Ja, entschuldigen Sie nur, ich denke immer noch, ich rede mit Birnbaum wie in all den Jahren. Nun, sehen Sie, so ist Georg. Ich sagte Ihnen, glaub ich, schon einmal, daß ich ihm unbegrenzten Kredit gab. Sie wissen, was das ist.« Renate schüttelte den Kopf. »Nun, das schadet nichts, es heißt jedenfalls so viel, daß er Geld verbrauchen konnte, soviel er wollte. Es war ein Risiko von mir, eine Probe, bankerott machen konnte er mich ja nicht, und so dachte ich: Versuchs lieber auf die Weise, als daß er dich hintergeht, Schulden macht und den Namen versaut. Schulden kann ich auf den Tod nicht leiden. Was tut Georg? Braucht – im Verhältnis – überhaupt nichts. Nun würde das an sich nichts heißen, wenn er ein – also von Natur ein Asket wäre, ein Einsiedler, ein zarter, scheuer Mensch, dem das Bunte der Welt nichts bedeutet. Er aber ging ganz frisch in die Welt hinein, machte Dummheiten, ruinierte ums Haar seine Gesundheit. Aber – –! Was hätte er nicht – –? er hätte einen Rennstall halten können, drei Rennställe, unermeßlich pokern, Mätressen, Automobile, Paläste, Jachten, was weiß ich, halten können. Nichts davon. Was er am Grunde seines Lebens sucht, ist ihm wahrscheinlich so geheim wie mir selber, und wenn er heute Großherzog sein will, so will er vielleicht morgen Dichter sein – nun, es giebt schlimmere Schwankungen. Einmal, das will ich gestehn, war ich mißtrauisch. Ich hatte ihm eines Tages eine – ja, eine schwierige Eröffnung zu machen; er hatte sich zu entschließen. Ich schickte ihn ins Freie, saß und wartete auf ihn. Es ward dunkel; da kam er. Ich dachte: Er braucht sich nicht entschlossen haben, es eilt nicht, aber, dacht ich: Was wird sein erstes Wort sein? Man hat seine abergläubischen Momente, und ich lag selber im Graben. Soll ich Licht machen? fragte er. Ich weiß nicht, das schien mir nicht sehr vielversprechend. Er hätte Licht machen sollen – nun – aber – ich bin wieder davon abgekommen. – Und nun möcht ich rauchen«, bat er, seine Zigarrentasche schon in der Hand. Renate nickte, freute sich, die große Zigarre von Helenenruh wieder zu erkennen, und atmete nicht unbehaglich den zarten Geruch der ersten Wolke. Man muß ihn reden lassen, dachte sie weich.

Der Herzog saß weit vorgebeugt, wischte zuweilen mit der Hand an der Scheibe und sah hinaus, während er sprach. Jetzt blickte er wieder eine lange Zeit schweigsam hinaus, setzte sich dann zurück, drückte den Rücken fest, sah Renate kräftig forschend an, dann wurden seine Züge weicher, er sagte:

»Gute Freundin! Ich habe nie Gelegenheit gehabt im Leben, unaufrichtig gegen einen Menschen zu sein, diesen und jenen Halsabschneider ausgenommen, gegen einen nahen Menschen also, deshalb möchte ich es auch gegen Sie nicht sein. Da ich Sie also einmal mit dieser Angelegenheit behelligt habe – und es tut mir aufrichtig wohl, daß ichs durfte –, so sollen Sie auch den Rest wissen. Georg ist nicht mein Sohn. Er ist – aber das ist gleich, das würde viel zu weit führen, und es genügt ja, wenn Sie die Tatsache wissen. Nun – was sagen Sie dazu?«

Renate wollte heftig erschrocken abwehren: Nein, nein, lassen Sie mich nichts dazu sagen! besann sich aber rechtzeitig mit der Erinnerung an sein Vertrauen, schlug die Augen gegen ihn auf und sah ihn dasitzen, das Kinn auf die Brust gedrückt, die Oberlippe zwischen den Zähnen, unter der geneigten Stirn aufblickend, nun doch zweiflerisch vor ihrer Antwort. Sie machte ihren Blick herzlich, murmelte für sich: Einen Menschen sollst du messen … und sagte leise:

»Von meinem Freund schrieb ich Ihnen hier und da, Saint-Georges, den ich immer zu fragen pflege, wenn ich etwas nicht weiß. Der schenkte mir einmal den Spruch: Einen Menschen sollst du messen – Wenn du in seiner Haut gesessen. – Und«, fuhr sie, die Hände faltend und mit wärmerem Lächeln in seine Augen blickend, fort: »Wenn Sie geglaubt haben, daß trotz dieser Tatsache er als Ihr Sohn gelten solle, dann habe ich kein Recht, anders zu urteilen.«

»Danke schön«, sagte er und nickte. »Ich muß noch hinzufügen,« erklärte er dann, »daß erst vor zwei Jahren auch mir dies mitgeteilt wurde, ja, übrigens spielte der Vater unsrer Magda dabei eine verfluchte Rolle, na, der ist nun auch tot. Und dies war die Eröffnung, von der ich eben sprach, die ich ihm zu machen hatte. Mein Sohn und ich – wir haben also alles beim alten gelassen. Sie haben nicht in meiner Haut gesessen, nein, und ich nicht in der seinen, denn schließlich ist er hier ja derjenige, auf den es allein ankommt, aber – ich glaube doch: wir haben alle drei recht.«

Renate sann hin und her, aber das Ganze war ihr allzu fremd, als daß sie sich in solcher Schnelle, wenn überhaupt je, hätte hineinfinden können …

»Und nun«, hörte sie den Herzog sagen, »können Sie sich immerhin denken, wie dies Geschehnis auf mich wirken mußte. Nicht wahr: Ich hatte ihn verloren, als Sohn, – Sohn meiner Helene; ich behielt ihn aber, ich hatte also – gesetzt, dies sei möglich – noch einmal so väterlich um ihn zu sorgen, als ob er mein echter Sohn sei. Ob möglich oder nicht: dies war mein Gefühl, dies hatte es zu sein.«

»Und nun diese Heirat,« fuhr der Herzog nach einer Pause fort, »wie? was ist?« unterbrach er sich. Renate, die bemerkt hatte, daß der Wagen, wie bereits mehrere Male, ganz langsam fuhr, reinigte die beschlagene Fensterscheibe mit dem Handschuh und blickte hinaus. Schwarze Nacht wars; der Wagen stand still. Sie ließ das Fenster ein Stück weit nieder, eiskalt drang die Luft ein. Sich hinausneigend sah sie vorn den mächtigen Schattenriß des wulstigen Rades, drohend überwölbt vom Schutzblech, die metallene Halbkugel der Wagenlampe dicht darüber, aus der ein Strahlenkegel weit in die Nacht fiel, schwarz den sargartigen Kühler und blinkende Tropfen an der Glasscheibe vor dem Fahrer. Kalkweiß stand ein gesträubter Chausseebaum im Licht. Gleich darauf tauchte ein zottiger Hund neben einer Weibsgestalt auf, ein Handwagen dahinter; sie hörte den Chauffeur etwas fragen, der Handwagen zog weiter, ein großer Kerl, hinterdrein stolpernd, wandte sich halb im Gehen, schwang die Arme und rief etwas in unverständlichem Plattdeutsch; der Wagen ruckte an, der Motor rauschte, sie rollten.

»Noch zehn Minuten höchstens,« sagte der Herzog, »aber nun müssen Sie das Ganze hören. Sie haben sich wahrscheinlich bereits gefragt, wie Georg zu der ganzen Sache steht. Ich wills Ihnen sagen. Es fängt mit meinem Urgroßvater an. Der war sehr sonderbar; Astrolog; nicht Astronom, sondern Astrolog. Anfang des achtzehnten Jahrhunderts wurde Trassenberg mediatisiert, aber mein Urgroßvater schloß mit Beuglenburg einen Geheimvertrag, nach dem Trassenberg zwar an Beuglenburg kam, jedoch nur auf hundert Jahre, kündbar. Warum dies, ist unbekannt. Er hatte die merkwürdigsten mystischen Neigungen! In seinem Nachlaß fand sich unter vielen andern Seltsamkeiten, Horoskopen, Prophezeiungen eine Vorhersagung: Im Anfange des zwanzigsten Jahrhunderts würden beide Häuser, Trassenberg und Beuglenburg, oder Zinna, auf zwei Augen stehn; von diesen Augen würde es abhängen, ob die Stimmen beider Gewalt im Rate der deutschen Völker erlangen oder für immer verstummen würden, – die Weissagung besteht aus lateinischen Distichen, astrologische Wendungen, die Gestirne, Venus, Jupiter spielen eine unverständliche Rolle darin. Weissagung und Vertrag haben beide sich in unserm Geschlecht vererbt, und zwar wars üblich, daß diese Erbschaft am Tage der Mündigkeitserklärung vom Erstgeborenen angetreten wurde. Nun konnte es sich nur noch um Georg handeln, aber jetzt lag die Sache folgendermaßen …«

»Der Zinnasche Erbprinz, Bruder eines Totgeborenen und einer schwächlichen Schwester, selber nur mit Mühe und aller Kunst von Geburt an am Leben gehalten, war für mich allezeit – nicht dasjenige Augenpaar, auf dem die Schicksale der beiden Länder ruhen sollten – das heißt: ich füge meine Ausdrucksweise nach der Prophezeiung, die für mich keinen bedenklichen Wert hat noch hatte. Nun: im Sommer werden es drei Jahre sein, Georg zog zur Universität, trat ins Leben, ich hielt es für an der Zeit, ihn wissen zu lassen, was ihn in Zukunft erwartete, um so mehr – bei seinem Hange zur Dichterei und dergleichen schönen, aber wenig weltlichen Dingen. Nun griff eins ins andre. Nämlich: ihn spekulieren zu machen auf den Tod eines noch Lebenden, das widerstrebte mir. Ich hatte aber den Vertrag, der heutzutage – das vergaß ich zu erwähnen – ich will zwar nicht sagen: keine, aber doch keine nennenswerte Gültigkeit – an sich – hat, wenn der Andre nicht will. Wollt ich ihn durchsetzen, so handelte es sich schließlich nur um die Geneigtheit des Bundesrats, und da von den drei Stimmen, die Beuglenburg und Trassenberg gemeinsam drin haben, zwei schon immer in meiner Hand waren, so – nun, Sie verstehn. Also war zu kalkulieren: ist der Erbprinz einmal tot, soll dann weiter geerbt werden im Mannesstamm, so kommt zuerst Georg in Frage, und der Vertrag liegt da als Fundament, als Stütze, wie man will. Also … wo blieb ich stehn? – So – ich benutzte also Georgs politische Unkenntnisse (sie hielten länger vor, als ich damals ahnte) und sprach ihm damals schon, drei Jahre früher als üblich, von dem Vertrage und seinen Möglichkeiten in bezug auf ihn. Er war daher, bis vor zehn Tagen etwa, war er in dem Glauben, in der Zuversicht: Herzog von Trassenberg werden zu können. Nun vor allem: das Ganze wäre ums Haar schon vor zwei Jahren zum Klappen gekommen, da der arme Junge Adolf Emil sich bereits zum Sterben anschickte, aber wieder – ich argwöhne sehr – gegen seinen Willen daran verhindert wurde, für mich ein Beweis, wie richtig ich gegen Georg verfahren war. Hopla!« sagte der Herzog, denn der Wagen war aufs Pflaster gerollt und schüttelte erbärmlich. Durch das trübe Glas der Wagenfenster fiel gelbes Licht herein zu dem rötlichen Inneren, Laternen, Schaufenster, Menschenschatten, ein Wagen zogen vorüber. Gleich darauf stand der Wagen still.

»Ja, nun muß ich doch abbrechen,« bedauerte der Herzog, »oder bringen Sie mich noch bis oben, eine kleine Viertelstunde«, sagte er verlockend.

Renate nickte, der Herzog ergriff das Sprachrohr und befahl dem Chauffeur sich nach dem Schloß hinauf weiter zu fragen. Bald darauf rollte der Wagen weiter, durch Straßen, Pflaster und Asphalt, hin und her, währenddem sie schwiegen, Renate gespannt, als läse sie Balzac. Kaum rollte der Wagen wieder sanfter dahin, begann auch der Herzog:

»Also weiter. Zu Neujahr gab ich Georg den Vertrag; zwei Tage vorher nämlich schreibt mein Agent, aus Zinna: der Erbprinz liegt im Sterben, diesmal ists sicher! (War aber wieder gelogen, er hat noch zehn Wochen gelebt, es war ein Jammer!) Georg geht hin und klagt den Vertrag ein, und – nun kam die Enttäuschung für uns Beide: bekam eine schlichte, ja schnöde Abweisung. Nun, was weiter –

»Er schreibt mir, er steht vor einem Rätsel … Ich tu's selber, ich schreibe nach Zinna, es giebt ein unverständliches Hin und Her, endlich kommts denn zu Tage: Georg heiratet Sigune.

»Ich fahre selber nach Beuglenburg. Der Großherzog, wie ich immer wußte, ist eine Null, vor der dieser oder jener seiner Umgebung, am häufigsten sein Hofkammerrat, ein halber oder ganzer Jesuit, zusammenleg- und entfaltbar, jede beliebige Ziffer von zehn bis neunzig formiert. Mit ihm selber ist nichts anzufangen, seine Umgebung schwört: er reagiert nur auf Fremde nicht, beinah hätten sie gesagt: in ihren Händen sei er Wachs, denn das ist er. Ihrer Aussage nach also besteht er auf seinem Willen, das Erlöschen seines Namens um jeden Preis zu verhindern. Na, nun giebt es ja allerlei Möglichkeiten. Der alte Beuglenburger Lipsch kann päpstlichen Konsens erhalten, um wieder zu heiraten. Immerhin – dies ist des Hofkammerrats Vorzugswort – immerhin scheint er – der Hofkammerrat – für seine Sigune – er hat sie erzogen, und da sie aufs äußerste an ihm hängt, muß er wohl auch seine guten Seiten haben; wem fehlen die schließlich nicht? – er scheint also dem jüngeren Georg doch den Vorzug vor dem alten Lipsch zu geben, sagt sich vielleicht auch, daß aus Alter und Krankheit kein brauchbarer Nachwuchs zu hoffen ist und das Erlöschen Zinnas bloß aufgeschoben, nicht -gehoben. Schließlich sind auch Erbschaftsgesetze nichts Unabänderliches, das heißt: die Sigune kann irgendeinen andern von fünfzig gut katholischen Prinzen heiraten, dessen Sohn erbschaftsberechtigt wird. Wir müssen gleich da sein, der Wagen steigt schon mächtig, merken Sie die Serpentinen? Sehen Sie, da liegt das alte Nest!«

Hinausblickend sah Renate das rötliche, qualmende Lichtertal der Stadt unter sich, ein altes Stadttor, den schwarzen, rötlichen Fluß, dahinter Nacht und den braunen Himmel.

»Ich bin ja auch nun am Ende«, sagte der Herzog. »Georg hat man inzwischen Mitteilung von seiner Heirat gemacht, hinter meinem Rücken, die Schurken! Bei alledem ist das Unglück, daß der Großherzog darauf besteht, noch morgen, am liebsten schon heute abzudanken, also seine Tochter so stracks wie möglich zu verheiraten, wobei ich ahnungslos bin, wiederum, ob das sein Wille oder der seines Hofkammerrats ist. Georg schreibt mir einen verzweifelten Brief nach dem andern: Was denn das heiße, er begriffe nicht – er hüte sich natürlich vor jeder Kritik – aber er begriffe nicht, was ich mir je gedacht hätte, er könnte doch das kranke Mädchen nicht heiraten und so weiter.«

»Und was schrieben Sie?« fragte Renate, da er schwieg. Er sah sie mit ein wenig verqueren Augen an und zuckte die Achseln. Er hätte geschrieben, Georg dürfe schon vertrauen, daß alles mit rechten Dingen zugegangen sei, es sei jetzt keine Zeit zu Erklärungen, die er jeden Augenblick später erhalten könne, er selber stehe ihm sofort zur Aussprache, zur Beratung zur Verfügung, vielleicht jedoch ziehe er es vor, allein seinen Weg zu finden. »Glauben Sie nicht, daß er alt genug ist, um zu wissen, wie er zu handeln hat? Ich selber, schrieb ich ihm noch, würde eigenhändig einen Versuch machen … Und dabei bin ich ja nun. Ich will –«

Er unterbrach sich; der Wagen rollte über eine Brücke, durch ein Tor, machte eine Schwenkung und stand still.

»Zinna,« murmelte der Herzog verdutzt, »aber nun will ich ausreden.«

Renate sah durch die klaren Fingerstreifen im Belag des Fensters neben dem Herzog ein erleuchtetes Tor über Stufen, Schatten und bunte Stücke von Hin- und Hereilenden.

»Ich will«, sagte der Herzog, »doch meine Meinung ändern; ich bin der nächste Erbe und –«

Indem wurde der Wagenschlag aufgerissen. »Wollt ihr zulassen!« schrie der Herzog, zog die Tür am Riemen zurück, klappte und riegelte sie zu. »Hundsfötter!« murmelte er und setzte seinen Hut auf, einen großen alten Schlapphut, aber er sprach nicht weiter. Nach einer Weile sagte er leise:

»Helene – ja, nun fehlt uns Helene. Wenn ich die Regierung übernehme, so ist die Heirat damit ja immer nur aufgeschoben; der Hofkammerrat weiß, daß ich nur Fisimatenten mache und in einem halben oder ganzen Jahr zu Georgs Gunsten verzichte. Also muß ich Sigune … sie hat die harte Stirn der Zinnas; wenn ich sie herumkriege, so bleibt sie mir sicher, aber wie ich das mache …?« Er seufzte.

»Lieber Freund,« sagte Renate, »und wie wäre es denn nun eigentlich, wenn Sie alle Beide verzichteten?«

»Wer?«

»Sie und Georg.«

»Nicht um die Welt«, sagte der Herzog. »Die Jesuiten kommen ins Land.«

»Können Sie sich nicht wehren?«

»Erstens gegen Jesuiten!« murrte er unwirsch, »und außerdem habe ich Besseres zu tun. In einem Kriege kann Wunderbares an Kraft und Taten geleistet werden, aber ich wäre ja ein Hundsfott, wenn ich nicht den Krieg vermiede, um eben dies Wunderbare für meinen Frieden zu gebrauchen.«

Renate, hartnäckig zu ihrem eignen Erstaunen, bohrte tiefer: »Sie denken an Ihr Land und vergessen Ihren Sohn. Wie sehr väterlich glauben Sie, daß dies gedacht ist?«

Der Herzog blickte sie grade und schwer an. »Mir,« sagte Renate beinah spöttisch, »– mir scheint es nun doch, als ob die beiden Augen Ihrer Weissagung – mich jetzt ansehn.«

Er machte eine abwehrende Handbewegung und schlug die Decke von den Füßen zurück. »Sie stören mich ja, mein Kind, anstatt mir zu helfen.«

Renate sah auf die Uhr im Armband: »Nachdem ich Ihnen anderthalb Stunden zugehört habe, ohne das geringste Widerwort.«

Der Herzog lachte und murmelte, um so gefährlicher sei sie, habe nun alles angesammelt, destilliert und spritze das feinste Gift. Übrigens könne sie ja nicht wissen, was für ihn auf dem Spiel stehe. Er tastete mit der Rechten nach dem Türgriff, drehte ihn, drehte ihn zurück und sagte kurz lachend: »Nun denken Sie, ich will ausreißen.«

»Es ist wirklich Zeit«, warnte sie lächelnd.

»Gut,« sagte er und bot ihr die Hand, »ich werde die Nacht zum Überlegen verwenden.« Er küßte ihre Hand. »Haben Sie Dank, vielen Dank! Ich bin morgen wieder in Trassenberg. Wenn Ihnen etwas Gutes einfällt, unterlassen Sie nicht, mirs zu schreiben. Gute Heimfahrt! Auf Wiedersehn! Leben Sie wohl! Adieu!«

Er hatte sich nach außen gezwängt, stand, von rückwärts beleuchtet und nahm den Hut ab; stämmig und wacker stand er da, Haar und Oberkopf schimmerten im Licht, die Züge waren von Renate nicht zu erkennen, da sie gegen das Licht sah, auch wurde die Tür nun geschlossen, der Motor brauste auf, der Wagen drehte langsam, rollte über den Hof, durch die Einfahrt und über die Brücke in die Nacht zurück.

Renate setzte sich tiefer in den Polstern, lehnte sich an, hüllte die Decke fester um sich und zog sie gegen die Brust; sie nahm die große Muffe, die sie neben sich gelegt hatte, wieder und senkte die Arme bis an die Ellenbogen hinein; es schien ihr kälter im Wagen geworden. Sie lächelte. Da hatte sie ihn nun ratlos gemacht, das tat ihm gut. Wieder lächelnd, empfand sie, daß dies Lächeln schon lange in ihrem Gesicht feststand. Sie glaubte, den Abdruck zu spüren, dieser Mensch mußte es mitgebracht und festgeschraubt haben, sie konnte es nicht loswerden, da war es schon wieder, sie fuhr mit der Hand über Augen, Nase und Mund, aber es kam unverwischbar drunter wie neu hervor, oder lächelte sie diesmal nur, weil sie es hatte fortwischen wollen? Da habe ich die ganze Zeit über gelächelt, dachte sie nun unwillig, und es ging um die ernstesten Dinge. – Wie, schon wieder die Stadt? Vom Schütteln der Fahrt in ihren Gedanken unterbrochen, sah sie durchs Fenster in die erleuchteten oder dämmrigen und finsteren Straßen voller Menschen und elektrischer Bahnen, solange bis die Chaussee wieder erreicht war. Unterweil war sie nachdenklich geworden, beugte sich vor, stützte das Kinn auf die Fingerknöchel und blickte durch die graue Scheibe in die Finsternis.

Das war ja ein Wassersturz von klirrenden, schillernden und fremden Dingen gewesen. Sie versuchte, sich zu besinnen. Immer sah sie ein kaltes, bleiches, augenloses Gesicht unter einem Jesuitenhut, wie unsinnig! Sigune – Schionatulanders Geliebte, ein schöner, trauriger Name. Kränklich war sie, blond, mit einer harten Stirn, und dieser Jesuit war ihr Lehrer und einziger Freund. Der kranke Bruder – und dieser Vater … Plötzlich erschien der Herzog wie ein Riese dazwischen und fegte alles über Seite. Renate lächelte wieder, verfinsterte aber dann ihr Gesicht und sagte: Bogner – so hätte er einmal kommen sollen! Aber damals – wie würde ich mich vielleicht gewehrt haben! Heut mittag noch war mein Dasein ein blauer Teich mit kümmerlichen Wasserrosen; da warf sich dieser unbekümmerte Schratt hinein, bloß um drin zu plätschern.

Im kalten Wagen empfand sie sich auf einmal heiß. Diesen Gedanken, sagte sie, an der Lippe nagend, hätte ich noch vor Jahren den Zutritt nicht erlaubt. Bloß um zu plätschern? Aber es giebt mehr Teiche. Aber er fackelt nicht und greift zu, wenn es ihm paßt, erwiderte jemand aus der Wagenecke. Sie sah flüchtig dorthin, wo der Herzog gesessen hatte. Auf einmal kann er wieder gehn, es ist wie im Märchen, freilich, es war bald ein Jahr her, daß die Herzogin starb und er … Wieder kam die tote Herzogin zur Türe herein, lebend, bewegte sich leicht zum Tisch, lächelte und neigte den Kopf, indem sie sich setzte. Seltsam, welch belanglose Erscheinungen am sichersten in uns haften bleiben! Ihr Gesicht, so entstellt, als ihr die Augen brachen, war nicht mehr zu sehn. Hatte er sie schon ganz vergessen? Sie hörte ihn seufzen: Helene – ja, nun fehlt sie uns! Uns … Freilich: er mußte seines Weges weiter.

Fünfundzwanzig Jahr ist er älter als ich, dachte Renate und herrschte sich an: Genug jetzt! ein für allemal!

Und nun das – mit Georg! – Man kann es nicht einmal nennen, wie soll ichs begreifen? Georg? Wer war denn Georg? – Georg saß mit Esther oben in Josefs Fenster, oder mit Esther im Garten bei der Sonnenuhr. Wenn er kein Prinz ist, so sieht er doch einem solchen zum Verwechseln ähnlich. Nun wundert michs doch, daß – eigentlich er mich auch nie beachtet hat. Aber das war wohl Scheu wegen Magdas. Zwischen ihm und Esther – was war da gewesen? – Sie hörte Sigurds Stimme, wütend im Schmerz, aber sie fand die Worte nicht mehr.

Bogner und der Herzog, welch ein Gegensatz! Wars wirklich einer? Schien ihr die Kalt – ja, die Kaltherzigkeit des Herzogs nicht nur deshalb so viel heftiger als Bogners stillere Kräftigkeit, weil eben Bogner keine Kraftäußerung kannte als gegen sich selbst und in seinem Werk? Der Herzog war das Hantieren mit Menschen gewohnt, das war sein Leben und sein Werk.

Renate schloß die Augen und schauerte seltsam angenehm zusammen. Indem fielen zwei starke peitschenartige Knalle schnell hintereinander, sie fuhr empor, horchte erschreckt, gleich darauf rollte der Wagen langsamer, auch anders, wie ihr schien, und stand still. Ach, ein Reifen war geplatzt oder gar zwei! Nun kam schon der Schatten Reinholds von vorn am Fenster vorüber, sie öffnete es, fröstelte im Luftzug und sah, daß die Straße weiß war; es hatte geschneit. Reinhold kam zurück: die beiden Hinterreifen wären geplatzt. – Renate öffnete die Tür und stieg aus. Reinhold bemerkte in seiner Berliner Mundart: »Das ha'k mir jleich jedacht, wo der Wagen so lange in der Garage gestanden hat.« Er ging in seinem großen Pelz unwirsch um den Wagen, stellte den gehorsam stampfenden Motor ab, klappte einen Kasten auf, nahm Werkzeuge heraus, öffnete einen andern Kasten unterm Sitz und wühlte darin. Die beiden grellen Lichtkegel aus den Laternen fielen weithin über die weiße Chaussee und breiteten sich über die nächtigen Felder aus; grellweiß angeschienen standen die Chausseebäume wie gesträubte Zuschauer da, andre weiterhin, schattenhafter. Weiß wehte Renate der Atem vom Munde, sie trat in den dünnen Schuhen langsam hin und her, fühlte die hartgefrorenen Rillen des Schlammbodens unter der Schneedecke, fror und wollte wieder in ihren Wagen kriechen. »Wie lange dauert es denn?« fragte sie.

Der Chauffeur, die Riemen an einem der festgeschnallten Räder mit aufmontierten Reifen lockernd, murrte kaum verständlich und mit der Abgeneigtheit seines Menschenschlags gegen Zeitangaben, es könnte auch 'ne Stunde dauern, – bei die Kälte! –

»Armer Reinhold!« sagte Renate und war unglücklich, so lange im Wagen still sitzen zu müssen. Wo sie denn eigentlich wären, fragte sie. Da wo die Herzbruchsche Villa stände, da müßten sie dicht bei sein. Renate zuckte. Sie ging zum Chausseerand und suchte in der Nacht. Richtig, links über den Feldern war ein roter Punkt in der Nacht. – »Wenn man wüßte, wie weit es ist …« sagte sie zögernd. Nun stellte Reinhold sich neben sie und meinte, nach dem Licht spähend, es könnte keine zehn Minuten sein. – Und der Weg? – Die Chaussee hinunter, dann müßte gleich nach ein paar Minuten eine kleinere Chaussee links abbiegen, an der läge das Haus; die große Chaussee mache einen Bogen weit rechts und treffe nachher die schmale wieder. Ob Renate sich nicht erinnere, damals bei der Hinfahrt zum Herzbruchschen Hause, daß sie auf eine kleine Chaussee rechts abgebogen seien »da, wo wir doch den Herrn Almanach getroffen haben.« Renate zögerte kaum noch.

Irene erwartete sie ja längst. Wie lange hatten sie sich nicht gesehn? Lieber Gott, war das schon seit – Mai – oder Juni? Ja, im Mai war ich einmal draußen, und noch zweimal im Juni. Dann ging ich nach Helenenruh, und eh ich wieder hier war, kam ›die große Verjüngung‹ über sie, Masern und Scharlach hintereinander, – wie ein Kind so dünn und weiß wie eine Kellerpflanze sollte sie ja wieder zum Vorschein gekommen sein, – Renate seufzte noch einmal, sagte Reinhold etwas Ermutigendes, bat ihn, wenn er fertig wäre, zur Herzbruchschen Villa zu fahren, und machte sich auf den Weg, nun schon ganz in freudiger Neugier, wie Irene aus Italien zurückgekehrt sein mochte … Auch die Fahrt mit dem Herzog war in ihrer Erinnerung jetzt eitel Freude, die ihren Gang beschwingte. – Auf die Uhr blickend, fand sie, daß es eben halb acht Uhr gewesen war, und sie ging am Rande der Chaussee unter den Bäumen fort, dankbar für die Wohltat der Stille in der Frostnacht nach dem langen Getöse des Motors und dem Hinschnarren der Gummiräder über den harten Boden.

Stehen bleibend dort, wo die Lichtkegel der Laternen zerstäubten, vergrub sie die Unterarme tief in die Muffe, behaglich, denn sie fror nicht, nur an der Kopfhaut merkte sie, da sie keinen Hut trug, ein wenig Kälte. Die Chausseebäume, bleiche Stauden, wurden im Finstern kenntlich und neben ihnen in der Grabenböschung die weißen Steine. Eilfüßig lief sie den Weg hinunter, aber die kleine Chaussee ließ auf sich warten, dafür machte aber die große einen immer stärkeren Bogen nach rechts. Sieh, aber da waren ja Sterne in der Nacht, unendlich fern, winzige, weißliche Punkte, und kaum daß sie diese gesehn, zogen mehr, rechts oben von den ersten, ihr Auge an, das an neuen Sternen nun die unsichtbare Wölbung emporglitt und den großen Wagen erkannte; undeutlich, matt blinzelnd, war jeder Stern nur sichtbar, wenn sie ihn einzeln ins Auge faßte, aber er war es doch! Sie sah sich um im Gehn und gewahrte fern die Laternenkegel, strahlend mitten im Felde der Nacht, dahinter den ungetümen Schattenriß des schwarzen Wagens, ganz ein glotzendes Tier. Sie ging weiter und hatte sich bald so ans Gehen und unbestimmte vor sich hin Sinnen gewöhnt, daß sie plötzlich die Nebenchaussee merkte, die sie halb überlaufen hatte. Abbiegend und aufsehend, sah sie auch schon deutlich zur Linken ein erleuchtetes Fensterviereck, wenn auch klein, aber da kam plötzlich der Schatten eines Menschen von rechts aus der Nacht auf die Landstraße zu, und leicht erschreckt eilte sie weiter, während der Mann näher kam; wenige Schritte hinter ihr mußte er die Straße betreten haben, dann hörte sie ihn ihr nachgehn, ging eiliger, ihr Herz klopfte heftig, die Schritte hörten nicht auf, jetzt kamen sie vielmehr näher, sie blieb Atem holend stehen, der Fremde auch.

Sie sah ihn an; seine Züge waren nicht zu unterscheiden, er hatte eine dunkle, englische Mütze auf dem Kopf und trug einen dunklen Havelock. Schon wandte sie sich entsetzt, um zu fliehn, als der Fremde – nun erkannte sie auch den glimmenden Blick seiner Augen – die Mütze abnahm und mit anständiger, leiser Stimme sagte, er bäte um Entschuldigung, er habe sie verwechselt. Sie atmete ein wenig auf und sagte rasch und munter, es befände sich wohl selten um diese Zeit eine Dame in dieser Gegend, noch dazu ohne Hut. Sein Gesicht veränderte sich nicht, während er erwiderte: sie möchte nochmals entschuldigen, zumal er wohl richtig vermute, daß sie zu dem Landhaus – dort – wolle. Sie bejahte, bereits im Weitergehn, er ging schweigend mit, ein wenig voraus. Das Fenster ward langsam größer, sie erkannte die Umrisse des Hauses, des Daches und des Hügels. Der Fremde machte eine Bewegung zurück und fragte leise: »Zu wem gehn Sie denn? zu Herzbruchs oder –?«

»Zu Herzbruchs.«

»So«, sagte er und war wieder voraus. Drei Schritte weiter wandte er sich abermal und fragte, wieder ganz leise: »Aber – Sie kennen – vermutlich auch die – andre Dame?«

Verwundert sagte sie: »Frau Vehm, meinen Sie, ja, ich kenne sie.«

»Und die Kinder, – nicht wahr? die Kinder kennen Sie auch.«

Die Kinder –, – nun erst fiel Renate ein, daß jetzt Doras Kinder beide an den Masern krank lagen. »Sie haben die Masern«, murmelte sie vor sich hin; ihre Schritte wurden langsamer, denn sie fürchtete sich nun vor der Krankheit; bei ihrem Alter war sie gefährlich. Der Fremde war zurückgeblieben, holte jetzt aber wieder auf und ging eilfertig weiter. Nun sah sie auch an der Rückseite des Hauses einen Lichtschein; dort lag die Diele, daneben war der Eingang ins Haus. Sehr unentschlossen, hin und her überlegend, ging sie doch weiter, sah die Gartenbäume, jetzt wurde das dünne Geflecht des Drahtzauns neben der Chaussee sichtbar, und da war die Tür; der Fremde stand dort. Plötzlich war ihr sehr unheimlich und beklommen zu Sinne. Fuß für Fuß ging sie bis zur Tür, immer noch schwankend, ob sie nicht lieber umkehrte, aber sie fror nun auch, die dünnen Sohlen der Hausschuh ließen allzusehr die Kälte durch, hastig entschlossen drückte sie die Klinke der Drahttür nieder und sagte: »Guten Abend!«

Der Fremde, die Augen, wie es schien, gegen das helle Fenster gerichtet, blieb stumm. Renate ging langsam durch den Garten hinauf, am Hause vorüber; erfreulich war das Licht in der kleinen Vorhalle, sie ging die Stufen empor, stampfte den Schnee von den Füßen und betrat die Diele.

Gleich vorn zur Linken, mit dem Rücken nach ihr hin, stand ein Herr, ein Buch, in dem er las, in die Nähe der Stehlampe haltend, die auf Dora Vehms Schreibtisch brannte. Erst jetzt drehte er sich schnell herum, klappte das Buch zu und legte es hin; es sah wie ein Tagebuch aus, und der Herr war jener Doktor Ägidi, den sie vor einem Jahr hier kennen gelernt hatte. Sie gab ihm die Hand, fragte nach Irene, die Luft kam ihr schon peinlich dumpf vor, nebenan wohnten die Kinder; so ging sie hastig durch den Raum und traf im Flur mit Irene zusammen, die sie mit leidenschaftlichem Entzücken begrüßte. Trotzdem schien Renate die Wallung rascher vorüberzugehen, als ihr verständlich war. – Noch im Treppensteigen erklärte sie ihr Kommen, der Herzog schien auch Irene einige Teilnahme zu entlocken, sie ging in ihrem Zimmer, während Renate sich unter dem Fenster auf das Sofa setzte, hin und her, in ein großes, schöngesticktes weißes Tuch mit langen Fransen gewickelt. Die Heizung funktioniere wieder einmal nicht, klagte sie, Renate solle nur ihre Pelzsachen sämtlich am Leibe behalten. Das Mädchen kam herein und fuhr fort den Tisch zu decken, sagte dann im Hinausgehn, Herr Almanach – sie betonte den Namen wie alle Dienstleute auf der ersten Silbe – sei gekommen.

»Der Tisch wird überlaufen!« rief Irene und erklärte, daß sie Besuch erwarteten, einen Freund ihres Mannes, sie laure schon den ganzen Nachmittag auf ihn, nun würde ihr Mann ihn wohl aus der Stadt mitbringen.

»Er wird doch nicht draußen am Zaun stehn?« fragte Renate mit halbem Lachen.

»Hat denn wer am Zaun gestanden?«

Renate fragte, gleichzeitig mit Irene, wie ihr Besuch denn aussehe. »Du kennst ihn ja selber,« antwortete Irene, »er heißt Klemens, er war auf meiner Hochzeit, seitdem kann er sich allerdings verändert haben.«

»Dann war ers glaub ich nicht,« sagte Renate, »dieser hatte keinen Bart oder einen ganz blonden, soviel ich sah, und Klemens war doch –«

»Einen blonden?« fragte Irene erschreckt und blieb stehn, »dann war es wohl … Wie sah er denn aus, was hatte er an?«

»Einen Havelock und eine englische –«

»Albert!« schrie Irene, »mein Schwager wars! Er ist verschwunden vor acht Tagen! Aber das ist ja –! Entschuldige, bitte, ich muß sofort zu – Am Zaun blieb er stehn, sagtest du? Ach, das ist ja –« damit war sie fliegend hinaus.

Also das wars, dachte Renate. Und Ägidi ist unten im Zimmer. Albert Vehm war doch erst vor kurzem aus Arosa zurückgekommen. Wie er nach den Kindern fragte … Ich will doch lieber gehn! dachte sie und stand auf. Überdem wurde die Tür geöffnet und Herzbruch trat ein, trotz des Winters in seinem hellen Anzug, breit und stämmig und fröhlich, mit funkelnden Brillengläsern. Wo denn Irene sei, fragte er gleich, und ob Klemens – sie kenne ja wohl seinen Freund Klemens, nicht da sei. Renate verneinte und erzählte noch einmal ihre Begegnung mit seinem Schwager, während jetzt Herzbruch im Zimmer auf und nieder ging, die Hände auf dem Rücken, zuweilen am Tisch stehen bleibend und drauf nieder blickend, als zähle er die Gedecke; als das Mädchen wieder eintrat, fragte er, welche Herde denn da zur Krippe gehn solle, und da das Mädchen Almanach stammelte, legte er ihr vernichtend die Hand auf die Schulter und sagte, es heiße Manach, Manach, und sie könnte ruhig noch mal so laut reden. Das Mädchen wurde glühend rot und entlief, – zu Renate sagte er nur: »Das sind alles schwere Sachen, aber auf meine Schwester kann ich mich verlassen; was sie tut, unterschreib ich.«

Im Augenblick danach trat sie zur Tür herein, Irene hinter ihr, dann Ägidi. Es ist ja genau wie damals, dachte Renate, nur alles viel deutlicher und noch bänger. Dora Vehm freilich schien, wohl durch stärkeren Zwang als damals, gelassener, warnte mit ihrer hellen Stimme Renate vor den Masern; Alle setzten sich wie von selber wie damals um den Tisch; nur Georg fehlte; auch damals war Jason später gekommen. Irene war still, auch Ägidi. Dora berichtete Renate einiges von den Kindern, es gehe schon besser, sie seien munter, Jason sei noch bei ihnen. – Renate tat eine Frage nach Klemens, und Herzbruch antwortete unbedenklich, ja, der habe seine eignen Methoden, komme oder komme nicht, vielleicht sei er erst bei seiner Schwester, er komme aus Irland. – Renate erinnerte sich der kleinen Virgo, die jetzt ein Kind erwarten sollte …

Nun sagte niemand mehr etwas, die Schüsseln gingen umher, dann öffnete sich die Tür, Herzbruch sah auf und sagte: »Da ist der Kalender.«

Jason kam herein, gab Allen leise kopfschüttelnd die Hand, setzte sich und fing an zu essen. Nach einer Weile blickte Herzbruch auf.

»Also, Kalender,« sagte er, »können Sie nicht etwas anregend wirken? Stellen Sie doch einmal einen Satz auf.«

Jason erwiderte höflich: »Gewiß, gern. Indem ich den Anblick zweier essender Ehepaare genieße, muß ich den Satz aufstellen …«

»Zweie?« Herzbruch ließ den Mund still stehn und sah ihn mißtrauisch von der Seite durch die Brille an. »Sie haben ja 'n Vogel!«

»Das sagen Sie so,« erwiderte Jason, derweil Renate den Blick auf Dora vermeiden mußte, »aber mein Satz beruht eben darauf. Ich gedachte nämlich zu behaupten, daß man zwischen hundert Ehepaaren beliebig viel Vertauschungen vornehmen kann, und kein einziger der Betroffenen vermag es zu bemerken.«

Ägidi fragte: »Sag mal, – bist du immer so?«

Nicht immer. Er sei verschieden, meinte Jason.

Früher sei er weniger nervös gewesen, bemerkte Ägidi.

Oh, er sei nicht nervös. Ägidi meine das Kopfschütteln. Das sei pathologisch.

Irene erklärte, er habe damals den Schiffsuntergang mitgemacht, blieb aber stecken und rief heftig tränenden Auges: »Wir haben Alle Esther schon vergessen!« so daß Renate erschrak.

»Die Zeit vergeht,« sagte Jason ruhig, »die Zeit ist sehr gut. Es giebt nicht annähernd so Gutes. Sie wird mir auch mein Kopfschütteln wieder nehmen. Ja, das Schiff war sehr groß und ging doch unter. Andre wurden wahnsinnig, ich habe das Kopfschütteln.«

Die Stille saß unheimlich und sich blähend vor Klemens' leerem Teller. Renate war weit fort, sah Esther in ihrem Garten, in Josefs Zimmer, immer blaß, gern lächelnd, arbeitsam, still. Sie hörte Jason durch Schleier sprechen, dann Irene, die zu erzählen schien, wie sie ihren Mann bekommen hatte. Herzbruchs Stimme ertönte schwer und gewichtig dazwischen, nun sah sie wieder den Herzog im Schloßhof stehn, barhaupt, mit einem Heiligenschein, und – – sieh, da war ihr Lächeln wieder da! Renate stand auf, da die Andern aufstanden, Dora ging gleich darauf aus dem Zimmer, das Mädchen deckte den Tisch ab, Renate fing an, auf und ab zu wandern, nahm ihre Muffe vom Sofa und wärmte sich. Jason hatte sich vor Irenes Vitrine gesetzt, öffnete sie, nahm dies und jenes hervor und betrachtete es; Renate blieb hinter ihm stehn und sah zu, ohne etwas zu sehn. Noch eben war Wageninneres, und der Herzog und hundert bewegte Gestalten, auftretend und schwindend, – dann nur Stille der Winternacht, ihre Schritte, und im Dunkel, am Gartenzaun, der dunkle, wartende, einsame Mensch … Wie war doch alles wirr! Nun Dora Vehm, und jemand ward erwartet, Ägidi kam und ging. Alle trugen etwas, und jeder sagte: Nichts … ich trage nichts …

Renate schreckte auf, da sie sich auf dem Sofa fand; mitten im Zimmer stand Irene, wieder in ihrem weißen Tuch, und sagte: »Aber Jason, was machst du denn da?«

Renate folgte ihrem Blick, sah links in ihrer Nähe das Ende des Flügels, sah ihn schräg ins Zimmer ragen, aus der Ecke, wo unter der hohen Figur des delphischen Wagenlenkers, die tief im Schatten stand, Jason saß, die Lider gesenkt, die Arme hin und her bewegend, als ob er spiele, aber er brachte keinen Ton her. Renate sah ihn schweigend an, nichts erfolgte, Jason bewegte hin und wieder das Gesicht, als folge er seinen Händen in Baß und Diskant, dann hoben sich langsam seine Lider, Renate fand seine Augen leise glänzend auf sich gerichtet, er sagte – und im selben Augenblick hörte Renate deutlich – und doch gab es keinen Laut im Zimmer als Jasons Stimme – die Töne, die langsam sich hinzählenden, unendlich beruhigenden Sechszehntel des ersten Präludiums aus dem Wohltemperierten Klavier, und Jasons Stimme sagte darüber: »Ich weiß, was du denkst.«

Und nach einer Weile, während die Sextolen ruhig weiter perlten:

»Das Leben ist nicht wie in Schriften und Büchern der großen und kleinen Autoren. Es ist wie auf Triften dort klar und erkoren, wie Springen der Lämmer, wie Singen von fern, wie des Hirten Schalmei, nicht im Dämmer der Unzahl verloren. Es löst sich ein Schicksal wie Duft aus den Poren der Blumen, du atmest und riechst es dabei, und da glüht es und scheint dir, und Lippe, die redet, und Lippe, die weint, ist dir alles vertraut und benennbar und gar nicht unsäglich, auch jenes, das dumpf und ergraut, – denn es waltet nur eines zur Zeit, und das Leid und das Licht, und die Nacht des Geweines, der Tag voll Verzicht und die Treue des Steines, sie wechseln und ruhn, sie verwechseln sich nicht, und hat jedes sein Wort und Gesicht und besonderes Tun, und du siehst es sich klären. – – Du aber gehst mit gebundenen Händen und kannst dich nicht wehren, du wanderst und stehst, und bist niemals allein, und hast keine Erfahrung. Wie Farben im Staube der Wasser sich bilden, ohne Gewicht, ohne Odem und irdische Nahrung, so siehst du die wilden, die niemals erkannten, verwandten Geschicke sich wölben am Weg, und wanderst vorüber mit gänzlich verzaubertem Blicke, dir selber in Farben und Lichtern wie seltsame Städte mit vielen Gebäuden und Angesichtern unkenntlich erscheinend; und nichts ist bestimmt, und wo etwas beginnt erst, da scheint dir ein Ende, und wo es verschwimmt, scheint dir alles versteint, und lautere Rufe und bunteres Leuchten verschlingen dein Eigentum, – dunkel die Stufe, so dunkel das Zimmer und dunkel dein Auge ins Dunkel hinein, und nur von deinem Blut der rote Schimmer, wenn die Stunde kam, die eine, deine Stunde, – und du bist allein.«

Es tropfte heiß auf Renates Hand. Sie bat Jason mit einem Blick, ihre Augen loszulassen, und gleich senkte er die Lider über die seinen. Seltsam groß und schön, aber wie in weiter Ferne, schwebte der mattleuchtende violette Umhang der Lampe über dem Eßtisch; davor stand Irene unter ihrem Tuch, Renate den Rücken wendend. Mein Gott, sie weinte ja, – was war denn zu weinen? Leise klappte der Klavierdeckel, Jason stand auf, ging zu Irene, legte die rechte Hand auf ihre Schulter, und hielt seine Hand gegen das Licht, so daß Renate ihren Schattenriß sah, und sagte:

»Siehst du wohl, da drinnen sitzt die ganze Musik, Bach, Berlioz und alles. Manchmal, wenn ich so in der Dämmerung sitze, kann ich die kleinen Notenfunken herausspritzen sehn, und wenn ich sie bloß auf einer Tischplatte die Griffe machen lasse, höre ich die herrlichste Musik. Kein Mensch weiß, wieviel zu hören wäre, wenn es nur einmal ordentlich still sein dürfte. Aber ihr habt euch ja nun einmal das Lärmen angewöhnt. Wie ist es, Renate,« fragte er, sich umwendend, »ich kann Reinhold wohl sagen, daß er noch etwas warten soll?« sprachs, nickte winkend und ging hinaus.

Vor Renates Augen senkten sich Schleier um Schleier; immer ferner schwebte das sanfte Licht, das nun Jasons Stimme seltsam verschwistert war. Auch Irene war nicht mehr da, es war nichts mehr, die Zeit war hinausgegangen, nur noch die Stille webte im Raum, fast konnte sie die Fäden sausen und Maschen fallen hören, und langsam schwebte der schattiggrüne delphische Lenker herab; starr, wie die Kannelüren einer Säule flossen die Falten seines Rockes zu Boden, er hielt die Zügel ganz leicht, matt glänzte das Gold seiner Stirnbinde, ruhig blickte das Auge gradaus, der volle, wie zum Pfeifen gespitzte Mund blieb stumm, und unsichtbar in den Zügelriemen bäumten sich die Geschicke.

Es war wieder heller; eine Stimme, Irenes Stimme sagte von drüben, vom Kamin her, – ihr Tuch schimmerte dort:

»Dieser Mensch geht nun ein und aus bei dir und mir und trägt das Jenseits in der Hand wie einen kleinen Vogel. Kannst du denn noch wissen, wenn du ihn recht ansiehst, was Gut und Böse ist? Ist er denn gestorben? Und nimmt er an uns und allem nur Anteil, weil er noch mit unsrer Gestalt bekleidet ist und nicht ganz zur Ruhe kommen kann?

»Ich glaube, er hat, noch eh wir ihn kannten, so viel menschlichen Jammer mitgelitten, daß er sich hat dran gewöhnen müssen, und das Schrecklichste ist ihm nun das Einfache; wie gutartig und leicht müssen da wir ihm –«

Sie brach ab. Tief und deutlich fragte Herzbruchs Stimme durch den Vorhang aus dem Nebenzimmer: »Bitte, wie spät ists?«

Irene antwortete nach einer Weile: »Dreiviertel zehn«, und im Augenblick danach schlug die schwere Pranke der Standuhrglocke in Herzbruchs Zimmer dreimal summend auf. Als sei nun alles wieder in Bewegung – so schien es Renate –, fiel neben ihr Irenens weiß und gelber Angorakater von der Fensterlehne auf das Sofa, duckte sich, kroch dann auf ihren Schoß. Lazarus hieß er, weil er so gern in Schößen saß. Da trat auch Jason wieder ein. Renate hatte das Gefühl, gehen zu müssen, aber nun hatte Jason ja gerade dem Chauffeur aufgetragen, zu warten. Einige Minuten lang sprach niemand ein Wort im Zimmer; nebenan wurde ein Stuhlrücken hörbar, Herzbruchs Schritte machten den Boden leise beben, er setzte sich wieder. Jason sagte:

»Ich hab vergessen: Ägidi läßt sich entschuldigen, er ist fort. Dafür kommt ja nun Klemens.«

»Heut abend noch?« fragte Irene. »Das ist ja Unsinn!«

Jason erwiderte nichts. Renate dachte an das, was er eben vom Klavier aus gesprochen hatte, konnte sich aber nur auf den Anfang besinnen: Das Leben ist nicht wie in Büchern und Schriften der großen … Nun schien es noch stiller zu werden. Jason saß am Eßtisch, ganz grade, die Unterarme auf der Decke. Einmal griff er nach dem Umhang, hob ihn und blickte, die Augen halb schließend, nach den Glühbirnen; ein Lichtstreif fiel dabei ins Zimmer. Ganz hell schrillte die Hausglocke. Renate zuckte zusammen, Irene richtete sich im Sessel auf und saß still und grade. Wieder gingen Minuten, Schritte wurden auf der Treppe, auf dem Flur hörbar, das Mädchen trat ein und meldete: Ein Herr wünsche Herrn Doktor zu sprechen. Irene stand auf, murmelte etwas Unverständliches, rief: »Otto!« kaum laut genug, daß er es hören konnte.

Das Mädchen wich zurück, wieder kamen Schritte, in der offenen Tür erschien eine untersetzte kräftige Gestalt in dunklem Anzug, den Rockkragen hochgeschlagen, und Renate erkannte Klemens' schwarze Bartfräse, die dicken Brauen und die schwere Nase. Er verbeugte sich mit dem Rücken statt mit dem Nacken und sagte: »Guten Abend.«

Jason stand auf und gab ihm die Hand, Irene lief plötzlich zur Vorhangtür und rief hindurch: »Otto! kannst du denn nicht hören?«

Der erschien gleich darauf in der Tür, blieb stehn, sah, wie er pflegte, durch die obere Hälfte der Brillengläser umher, sah Klemens und war mit zwei gewaltigen Schritten bei ihm, schüttelte ihm die Hand und sagte weiter nichts als: »Na, da bist du ja!« Klemens lächelte nur.

»Hier ist meine Frau, du kennst sie ja noch,« sagte Herzbruch, »und das ist Fräulein von Montfort.«

Nun ging er zu Irene und gab ihr die Hand, ebenso Renate.

»Jetzt essen!« meinte Herzbruch. »Irene, er will essen.«

Klemens dankte, er habe …

»Keine Widerworte,« sagte Herzbruch, »du –«

»Nein, wenn ich doch sage,« versicherte Klemens, »ich hab anderthalb Pfund Bananen ge –«

Bananen? Ob das Essen wäre! »Nichts da«, sagte Herzbruch, Klemens aber beharrte: »Na, Höllenelement, ich will aber nichts fressen!«

»Oh la la –« sagte Irene wie zu einem Kutschpferd, »schreit er immer so, Otto?«

Herzbruch drehte sich halb nach ihr um, sagte dann: »Ja.« Darauf zu Klemens: »Sag mal, hast du eigentlich keinen Mantel? Hör mal, du bist ja klatschnaß! es schneit wohl wieder?«

Klemens lachte und erklärte, seinen Mantel hätten sie ihm unterwegs weggenommen. »Da war so ein Knabe, weißt du,« sagte er, »kam aus Kiew, war ausgewiesen, wollte nach England und ließ sich so von einer jüdischen Gemeinde zur andern bugsieren, war aber leider das Frieren nicht gewohnt wie ich.«

Irene, die den Männern den Rücken zudrehte, sagte halblaut zu Renate, die vor ihr stand: »Der ganze heilige Martin auf Ottos Kosten«, und drehte sich weg. Herzbruch zog seinen Freund in einen der Sessel am Kamin und setzte sich zu ihm. »Ja, nun also schlafen,« riet er, »Irene –«

Das würde kaum gehn, sagte sie obenhin, Jason bliebe doch natürlich hier bei dem Wetter, wie immer, und im andern Zimmer hinge Doras Kinderwäsche zum Trocknen. Herzbruch sagte, dann würde die eben abgenommen.

Das Mädchen sei schon schlafen gegangen, es wäre zehn Uhr.

Klemens lehnte sich derweil hintenüber und wollte sich lautlos ausschütten vor Lachen, als ginge der Streit gar nicht ihn an. Herzbruch schwieg eine Weile, sah seine Frau mißtrauisch an, bemerkte dann kurz: »Also sorge bitte für eine Decke für mich, er schläft in meinem Bett. Bring auch was zum Trinken mit.«

»Wein oder Bier?« sagte Irene.

»Danke, keins von beiden, ich –«

»Denn nicht«, sagte Irene und ging hinaus. Klemens sprang auf, lief zur Tür, machte sie auf und rief: »Ich trinke nur Wasser, Rebekka, klares, biblisches Brunnenwasser!« und lachte.

Herzbruch, wider Willen mitlachend, sagte: »Sie heißt nicht Rebekka«, worauf Klemens meinte, sie schiene ihn jedenfalls für ein Dromedar zu halten. Dabei sah er den Wagenlenker in der Ecke, ging daraufzu, faßte ihn ins Auge und sagte: »Ah! – Das ist schön! Wer ist das?«

Jason, in der Vorhangtür neben ihm, erklärte, es sei der sogenannte delphische Wagenlenker. Klemens ließ ihn nicht ausreden und beklagte den fehlenden Arm. Aber man könnte doch sehn, wie die Zügelriemen aus den Händen flössen! Und dieser achtsame, unbeeinflußbare Blick, dieser pfeifende Mund! Über das Klavier gebeugt, spähte er nach den Füßen und pfiff durch die Zähne.

»Wetter noch mal,« sagte er, »wie die Füße dastehn! aufgesetzt, festgesaugt, und der Faltenfall des Rocks, dieser Reichtum, wie das niedergießt! Er hat ja Lorbeern im Gehirn. Ja, der weiß, was es heißt, dastehn im Tumult der Begeisterten, im Toben, im Gelächter, das sich überschlägt, und tausend winkende Hände, Kopftücher, Zweige, Tumult … In Marseille,« sagte er zu Herzbruch hinüber, »weißt du noch? Jean Jaurès, der hatte sie so an den Händen, mehr als zwei glatte Gäule, zehntausend, zehntausend Köpfe, zehntausend Herzen, aus seinem Herzen gelenkt, daß sie schreien mußten, atemlos und lachend vor Erschöpftheit …«

Renate hatte schon vor einer Weile Dora Vehm in der Tür erscheinen sehn und hörte nun ihre helle Stimme – wie heiß und schwarz doch ihre Augen waren und das ganze dunkle Gesicht leuchtend durch und durch von Leben und Seele! –: »Aber Klemens, das können Sie doch auch! Wissen Sie nicht mehr: Jena …?«

Klemens drehte sich um, streckte die Hand nach ihr aus und freute sich: »Dora Vehm,« sagte er, »alter Kamerad, was macht denn die Küche?«

Jason trat leise neben ihn, klopfte ihn auf die Schulter und sagte: »Sie! Ich bin auch ein Redner. Ich könnte auch eine Rede halten, aber Irene hat heut abend keinen Sinn mehr dafür.«

Irene stand mit einem Glas Wasser auf einem Teller, das sie augenscheinlich Jason an den Kopf werfen wollte. Der fuhr indessen fort:

»Sehen Sie, da hat der Delphier nun jahrelang in seinem Winkel gestanden, kein Mensch weiß wozu, und nun kommen endlich Sie und benutzen ihn, um Ihre schöne Seele zu offenbaren. Sehen Sie nicht auch, Dora, daß es kein Wagenlenker, sondern ein Redner ist? Wenn Naumann den Rock anhätte –«

»Gut, Herr Adreßbuch,« sagte Klemens, »Sie haben es vortrefflich ausgedrückt.«

Jason schien darauf gekränkt und meinte, er drücke alles vortrefflich aus, und ob das vielleicht jemand für ein Vergnügen halte, worauf er sich abwandte.

Irene stand steif wie aus Gips mit ihrem Teller. Eben noch versunken in Jasons ›schöne Seele‹, dachte Renate, und nun ist sie zur Spinne geworden. – Da sah Klemens das Glas, ging hin, ergriff, tranks aus, setzte es wieder auf den Teller und bedankte sich.

Renate war froh, daß Herzbruch ihn nun mit sich in sein Arbeitszimmer zog; sie saß auf dem Sofa, ungeduldig fortzukommen. Klemens gefiel ihr, aber wie laut war es auf einmal geworden! All die hellen und dunklen Stimmen, Irenes, Herzbruchs, Doras, Klemens', dröhnten durcheinander; sie sehnte sich wieder nach dem Schweigen ihres Zimmers, ja fast nach dem Schweigen des ganzen Hauses. Da flog auf einmal Irenes Teller neben ihr aufs Sofa, sie gewahrte nachträglich die schlenkernde Handbewegung, mit der Irene, jetzt mitten im Zimmer stehend, den Teller geworfen hatte. Jetzt raffte sie mit zwei flügelhaften Bewegungen der Ellbogen ihr Tuch, das über den Rücken herabgesunken war, wieder um die Schultern, warf den Kopf nach hinten gegen das Nebenzimmer zurück und sagte nachdrücklich: »Pfui Deubel!«

Dora trat neben sie und mahnte: »Na, na, Kind!«

»Mich friert«, sagte Irene tief und hart. »Ich glaube, vor dem fürcht ich mich. Man kann seine Augen nicht sehn. Hat er Augen, Dora? Renate! Dann müssen sie durchsichtig sein, und nichts ist dahinter.«

»Richtig! Sehr gut!« lobte Jason. »Er hat Seefahreraugen. Auf allen Seiten das Meer.«

»Und sein Mund,« fuhr Dora fort, »daß du's weißt, ist wie der des Delphiers.«

»Auch das noch«, murrte Irene. »Wenn er auch sein Kinn hätte, wär mir der Delphier ganz verekelt.«

Renate stand auf; sie hatte genug. Auch Doras Gesicht schien ihr jetzt verfallen und welk. Sie ginge mit ihr hinunter, sagte sie zu Renate; zu Irene dann: »Laß uns schlafen gehn, Kind, der Tag war voll genug. Laß uns schlafen und geduldig sein.«

Sie umarmten sich, gingen zum Vorhang, winkten hinein und riefen: »Gute Nacht, ihr Männer!« Irene küßte Renate flüchtig, die mit Dora zur Tür ging, aber sie waren noch nicht hinaus, als Renate Irene fast ängstlich rufen hörte: »Dora! – – Dora! was wird aus uns werden?«

Dora wandte sich nach ihr um. Mit tieferer Stimme sagte sie ruhig: »Was fragst du mich? Ich will standhalten. Das andre findet sich. Sei nicht töricht, Irene! Und mach dir keine Sorge um mich. Ich habe meine Kinder. Solange ich die habe –«

Sie verstummte, strich hastig mit der Hand übers Gesicht, lächelte Renate fremd zu und führte sie hinaus.

Auf den Treppen und dem Weg zum Automobil sprach weder Renate noch Dora ein Wort, – aber als sie öffnete, saß bereits Jason darin, pfiffig im Dunkeln. Sie fuhren, ohne Licht gemacht zu haben. Bald überfiel Renate von neuem die Unrast, sie kam nicht schnell genug vorwärts und in ihr Zimmer, und sie preßte unter der Pelzdecke die Finger ineinander, bis sie Jasons Hand fühlte, die er auf die ihren legte, die sich nun leichter zusammenschlossen. Und es dauerte keine Minute, so ward sie ruhig und ruhiger, ihr war, als ob ihr ganzes Wesen schmelze ins Allgemeine und Sanfte, und da zogen langsam von links nach rechts die Gesichter des Tages vorüber, das des Herzogs, Doras, Ägidis, Irenes und ihres Mannes, und das von Klemens, und nicht nur diese, sondern auch die nicht gesehenen Georgs, der fremden Sigune und ihres Lehrers, zwar diese kaum sichtbar, aber sie wußte, daß sie es waren, und das Schwinden eines jeden fügte eine neue Erleichterung zu der alten. Wie leicht rollte der Wagen durch die Nacht! Sie freute sich auf ihr Zimmer, dachte, daß von allen verworrenen und unkenntlichen Schicksalen keines zu ihm Zutritt habe als das ihre, ja vielleicht nicht einmal das, und überdem fielen Jasons Worte ihr wieder tropfend ins Herz: Das Leben ist nicht wie in Schriften und Büchern … Sie suchte den Weitergang, aber die rechten Worte fand sie nicht, glaubte jedoch nun erst zu verstehn, was sie erst nur als Musik und Wohltat empfunden hatte. Vielleicht, dachte sie, ist wirklich das viele und frühe Lesen schuld an so mancher Wirrnis, mancher Ungeduld, und wieder hörte sie's tönen: Das Leben ist nicht …

»Wie hieß es doch,« fragte sie leise nach dem unsichtbaren Jason hinüber: »Das Leben ist nicht wie in Büchern und Schriften, denn dort … Ich verstehe es nicht mehr …«

»Dort,« hörte sie seine Stimme gedämpft, »dort scheint es dir, als sähest und hörtest du alles zum ersten Mal, was geschieht, was sie sagen, dieser und diese, jener und jene, was sie denken, was sie tun und erleben. Dir aber ist alles angefüllt mit der Erinnerung, weißt du es nicht? Überall tönts dir entgegen: Erinnerung … Erinnre dich nur! erinnre, erinnre dich! Und: Erinnerung! denkst du versunken und siehst von allem nichts, wie es ist, sondern immer in allem nur das, woran es dich erinnert …«

»Und dies auch,« sagte sie fragend, »daß dort immer Gestalt um Gestalt so sichtlich und klar sich erhebt; und so kenntlich und gesondert in Farbe und Erscheinung bildet sich aus Schicksal und Anteil ein leichtes Geflecht, – ist es nicht so, Jason?«

»Und eines hat soviel Gewicht wie ein andres,« vollendete er, »alles ist abgewogen und schwer befunden. Wenn aber ein Mensch erscheint, und nur einer ist vor ihm da, so glaubst du schon viel zu wissen, und was auch sich ergiebt und ereignet, es scheint, als hättest du es geahnt.«

»Am Ende aber,« begann Renate von neuem, »am Ende löst sich alles doch irgendwie, ob im Guten oder im Bösen; wie ein längst erwarteter Gast so einfach kommt der häufige Tod, und wenn es denn aus ist, so ist auch immer alles gänzlich und ein für allemal zu Ende.«

»Ja,« sagte Jason, »ja, da erwartest du denn auch in deiner eignen Welt dergleichen und bist erbittert womöglich, gekränkt und schon ungeduldig, wenn jenes nicht kommt, und dieses ganz anders erscheint, und –«

»So brüchig, Jason, nicht wahr, ohne Weiche, nüchtern, ohne Absicht, ohne Übergang, ohne alle Musik, ohne Klang und Gesang –«

»Da in Büchern«, fuhr er ruhig fort, »doch alles gesungen scheint …«

»Ach, aber in Wirklichkeit, Jason, ist nichts unterschieden vom andern, nichts ist zu ahnen, nichts wird kenntlich, es wirbelt alles und versitzt sich, Stimmen schallen fern und nah, überschallen, bekriegen sich fassungslos –«

»– und jedes«, bekräftigte er geduldig, » scheint, es scheint so oder so und ist doch anders, ganz anders in Wahrheit, tiefer das Flache, schwerer das Leichte, unerträglich das Schwere, unendlich das Unerträgliche, und du siehst: es trägt sich doch. Nichts wird dir zugewogen, es stürzt über dich herein. Fremdes, Verwandtes, Bittres, Unbekanntes, Lustiges, Trübes, Buntes, Klagendes, Weinendes, alles ist dir ein Unsal von Gewalt, und zu jedem kommst du viel zu spät, denn es ist längst bei dir, wenn du dich aufmachst nach ihm …«

»– und nichts nimmt nirgends ein Ende …«

»Aber dennoch, Kind,« sagte er beschließend, »wenn du allein bist mit deinem Bett, deiner Wand, deiner Lampe, so hat dich auch alles verlassen, denn da Bild und Erscheinung alle fern sind, woran kannst du dich erinnern, um dein eigenes Schicksal zu erkennen? – Du siehst dich selber kaum, die Nacht steht fremd dabei, und vor dem Fenster rauscht der alte Baum, und dich umrauschts, und jemand sagt: Verzeih …«

Renate erkannte im Dunkel die Laternen und Vorgärten der Güntherstraße. Jasons Hand löste sich, sie schlang hastig die Arme um seine Schulter und küßte seine Wange. – Zu Reinhold sagte sie, er möchte Jason nach seiner Wohnung fahren.

Dann schien sie sich aus dem Wagen ohne Übergang in ihr Zimmer geraten, unsichtbare Hände nahmen ihr die Kleider ab, sanfte Müdigkeit nahm ihr auch die Glieder, rauschte es in der Nacht? Zweige oder Flügel? In weiter Ferne zeigte sich ein ernstes Gesicht. – Ich warte! sagte sie.

Dann schlief sie ein.


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