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Siebentes Kapitel: November

Renate an Saint-Georges

Flor am Rhein, 9. Nov.

Mein Lieber!

So bin ich doch vom Fenster fort zum Papier geflüchtet. Es ist offen – mein kleines Zimmer liegt im Oberstock des Lehrerhauses –, und lange saß ich davor über dem langsam verdämmernden Garten. Der Tag, den ich ins matte Braun und Grün der Baumwipfel versickern sah, war wolkenverhangen und warm; und wenig anders im Herzen, empfand ich wieder das wolkenverhangene weite Land, durch das ich bis zum Nachmittag gereist war, den achtlos hinjagenden Himmel von grauer und weißer Gestaltlosigkeit und die Einsamkeit alles kleinen Lebens an seinem Grunde, ähnlich dem im dunklen Wasser abgeschlossenen, langsamen mit sich selber Beschäftigtsein von Schnecken, Käfern, Pflanzen, das man am Grunde von Teichen beobachten kann. Und so, wenn ich mich einsam empfand, empfand ich mich doch nicht allein einsam, sondern innerhalb der einen großen Verlassenheit unter dem Himmel, von der ich wußte, daß sie heilbar sei. Mein Auge derweil hielt dem mählichen Dunkelwerden stand, worin sich hier und dort die Gegenwart eines geheimnisvollen Wesens verriet – an dem Blätterwerk eines kleinen Strauches in der Tiefe, am schon entblätterten Ast einer Kastanie, an Blumen ganz unten, die schon nicht mehr zu erkennen waren, und die alle von Zeit zu Zeit sich bewegten, ganz lautlos, so als habe etwas sie verlassen, und sie verneigten sich und murmelten unhörbare Abschiedsworte. Da wars beruhigend, sich ein stilles und unsichtbares Geistwesen zu denken, das hier beschäftigt war, Zuspruch und Beruhigung auszuteilen vor Nacht.

Aber dann kam das Dunkel, und die Einsamkeit überlief mich. Mir schien, ich bin meinem lieben Freund doch eine Erklärung schuldig, warum ich ihm mitten aus der Arbeit fort und hierher in die Heimat gelaufen bin, aber leider – das muß ein bißchen Geheimnis bleiben. Daß man es aus einer rechten Verwirrung heraus getan hat, wird er ja verständig geahnt haben. Sagen aber läßt sich, was man hier suchte – und auch fand –, und um so lieber, weil ich mich erinnere, daß Sie schon mehr als einmal nach meinem Papa gefragt haben und ich damals noch nicht erzählen konnte, will ich es heute tun und nun gleich damit anfangen ohne weitere Vorrede.

Einmal fragten Sie, ob es kein Bild von ihm gebe, und ich sagte: Nur in meinem Herzen. – Photographien mochte er nicht leiden, und an Malern fehlte es wohl. Aber er ist nicht schwer zu beschreiben. Ein kaum mehr als mittelgroßer, etwas gebeugter Mann, an dem Ihnen zuerst seine Nase aufgefallen wäre, die nicht eben schön war und etwa so krumm und mißgestalt wie die von Allmers. Sein Haar, ursprünglich von rötlichem Blond, begann früh weiß zu werden und auszufallen, und ich sehe ihn nun immer so weiß wie in den letzten zehn Jahren seines Lebens. Nur fünfzig ist er alt geworden. Seine Stirn war an Reinheit und edler Wölbe das Schönste, was ich mir vorstellen konnte als Kind. An seinen Augen wuchs ich auf. Sein Geist war feurig, er erregte sich leicht, und dann waren sie blaue Flammen. Wie der Sommerhimmel, wenn ich ihn in die weiße Obstblüte glühen sah, so waren sie und ihr Blick nur schwer zu ertragen. Durchdringend war er, fast durchbohrend, eine unbeschreibliche Mischung von Güte und Strenge. Was aber Strenge schien, das kam allein aus der starken Wahrhaftigkeit seines Willens und Geistes, und sein Herz machte es milde, wie die Strenge des Marmors mild wird in der Seele des Bildes. Sehen Sie, Georges, er liebte die Welt, und er und ich, wir liebten uns so, daß wir uns nie verließen, und was mich betrifft, ich bin krank geworden, wenn ich mehr als eine Stunde Weges von ihm getrennt war. Ich konnte nicht atmen mehr, und das war wirklich. Meine Mutter habe ich nicht gekannt und sie doch niemals vermißt. Er war mein Lehrer; in eine Schule bin ich nie gegangen, auch mit Kindern habe ich selten gespielt, aber ach die unendlichen Spiele mit ihm! Wie wurde da alles lebendig unter seiner Hand, und er bevölkerte meine kleine Welt mit unzählbaren süßen Seelen. Er hatte so viele Gewalt, er konnte Krankheiten heilen durch Handauflegen. Gewiß – nicht Lungenschwindsucht und dergleichen – Sie verstehn. Mir fällt ein: Als Magda krank war, sagte ich es zu Jason, der trübsinnig an ihrem Bett saß, und er sagte in seiner furchtbaren Zerstreutheit: Freilich, freilich, ich kann es ja auch! Es sei gar nicht so schwer, meinte er, man müsse die Geister beschwören. – Die Geister, Jason? – Nun, sagt er, oder die Nerven, ich habe keine Vorliebe für das Wort. Das sei auch so eine Erfindung wie die mit dem Telephon; ein jeder brauchts, aber keiner weiß, wie es zugeht.

Wie aber kann ich Ihnen begreiflich machen, was er lehrte? Er flößte mir sein Wesen ein. An jedem Tage, in jedem Augenblick gab er mir seine strahlende Liebe zu erkennen, und daß sie ein Licht war im größern Licht. Er lehrte nicht Gott. Bedenken Sie, daß ich sieben und acht Jahre alt wurde, ohne das Wort Gott zu hören, und daß ich noch älter geworden bin, ohne mehr und andres davon zu wissen, als daß es der Name aller Völker für ein Wesen sei, das ich lange kannte, also daß es einen Gott der Juden gab, der Griechen oder der Christen. Sehen Sie, Georges, er wollte, daß mir das Wort ganz heilig sei, daß ich mir nicht angewöhnte, es diesem und jenem beizulegen, oder es im Munde zu führen. Er wollte, daß ich es selber erzeugen sollte aus meinem tiefsten Gefühl, und so ist es gekommen. Als ich fünfzehn Jahre alt war, mußte er eine Reise machen und ließ mich zurück, weil ich einmal zu erfahren hatte, wie es ohne ihn sei. Es waren zwei grausige Tage. Ich lag krank am zweiten an Leib und Seele, mir war zum Ersticken in meiner Not, am Abend konnte ich nicht mehr liegen, konnte auch kaum gehen, und halb auf dem Weg ihm entgegen, fiel ich um und lag an einer Hecke, als er kam. Da schrie, da weinte ich: Gott! – unwissend, ob ich den Vater meinte, der wiederkam, oder das väterliche Wesen, das ihn mir wieder gab.

Aber nein, so geht es nicht weiter, ich sehe, man muß sein Leben erst kennen, um verstehen zu können, was er lehrte, denn auch Christus war ihm Gottes Sohn nicht anders, als wir alle seine Kinder sind. Wo fang ich an?

Flor ist nur ein kleines Dorf, abseits vom Rhein, aber die Kirche, die für das ganze Kirchspiel erbaut ist, ist ziemlich groß und sehr hübsch, ein einfaches und leichtes Barock, graue Pfeiler und Bogen und Kanten, dazwischen die Flächen von neuer, schön gelber Tünche. Der Turm ist zierlich, mit einem Kranz kleiner Säulen unter dem Helm, durch die man die Glocken sehen kann, die ein und aus fliegenden Schwalben und den Himmel. Im selben Stil war unser Haus gebaut, das nun nicht mehr steht. Wenige Tage nach seinem Tode schon brannte es ab mit allem, was darin war, in einer Nacht. Damals war manches geheimnisvoll, und auch dies. Das ist nun zwei Jahre her. Die Menschen im Dorf, in der ganzen Gegend haben ihn sehr geliebt. Sie haben nur den Schutt fortgeräumt, einen Rasenhügel aufgeworfen und ihn darunter begraben, denn sein Grab war noch kaum geschlossen. Auf den Hügel haben sie eine alte steinerne Sonnenuhr gestellt, von der er selber einmal gesagt hatte, daß er unter ihr liegen möchte. Unter ihrem Spruch: Demit una, dat altera war Platz für seinen Namen. – Übrigens waren die zwei ersten Lettern der Schrift immer ausgelöscht, und Papa sagte, man könnte also das Wort sowohl als Demit ergänzen wie als Sumit, je nachdem, wie man den Spruch wünsche: die eine Stunde nimmt fort, die andere giebt wieder, oder: die eine empfängt, und die andre giebt hin. –

Dort stand ich nun heut, und im Anfang war es doch schmerzlich, so im Leeren zu stehn. Von der Haustür, an deren Stelle ich mich versetzen konnte, führt eine Allee kleiner Kuppellinden auf die Gittertür des Friedhofes zu; zwischen ihren Stämmen sind mannshohe dichte Hecken, so hoch, daß die Baumkuppeln nahe darüber schweben, im Sommer ein ganz grüner Gang, ganz voll Schatten, Sonnensprenkeln und Lindenduft und tönend vom Summen der Bienen. An jedem Abend gingen wir lange darin auf und nieder. Das Land umher müssen Sie sich vorstellen wie einen einzigen Obstgarten. Nur nach dem Rheine zu sind es Rebengärten, etwas kahl, und der glatte Strom, der sich biegt, scheint öde zwischen den grünen Uferhängen. Aber ich war dort geboren, und er war mir vertraut und sehr lieb.

Ach, Georges, aber das ist auch kein Anfang geworden, und meine tickende kleine Uhr sagt, es ist schon zwölf. Nun, ich bin gar nicht müde und will nun ganz von vorn anfangen und bei meinem Großvater.

Papa sprach selten von ihm, aber Onkel Augustin sagte, er sei unwidersprechlich der härteste Mensch gewesen, den man sich einbilden könne. Stellen Sie sich Onkel Augustin vor, seine Gestalt und Gesicht, ein bißchen kleiner, aber in den rosigen und ewig freundlich scheinenden Zügen eine nicht zu beschreibende Verhärtung. Seine Mutter ist eine Wuppertalerin gewesen, und er sah recht aus wie so ein alter Wuppertaler Fabrikmensch, glatt, freundlich, geistlich und hart. Diese Härte ist aber so innerlich gewesen, daß sie sich niemals unmittelbar äußerte. Gegen alle Menschen, auch die er quälte und zugrunde richtete, war er höflich und scheinbar herzlich; in Gesellschaft verstand er zu plaudern wie ein Franzose, aber sein Witz soll Tränen in die Augen gebissen haben. Er war so, daß er zum Beispiel sagte, er pflege zum Aufschneiden der Bücher, die er lese, ein silbernes Obstmesser zu benützen; davon bekämen selbst die trockensten eine Erinnerung an Früchte.

Onkel Augustin ist ganz in seiner Gewalt gewesen – das waren Kinder auch damals noch mehr als heut –, aber mit meinem Papa traf er es schlecht, der war unbändig. Er war kein gutes Kind, war über die Maßen hitzig, kannte im Zorn keine Ehrfurcht noch andere Grenzen und hatte – ja, er litt unter einem unbezähmbaren Zwang, seinen Gelüsten zu folgen. Zwischen seinem Vater und ihm kam es, als er kaum laufen und sprechen konnte, zu solcher Feindschaft, daß es ihn, Papa, wie er mir erzählt hat, noch als er schon lange erwachsen war, schüttelte in der Erinnerung an manche Szene, und er hatte die qualvollsten Träume. Man muß freilich wissen, daß Vaters Wesen damals, als er Kind war, nicht sein wirkliches war, und die Feindschaft kam aus einer höllischen Gegensätzlichkeit ihres Wesens. Der eine war eben warm, der andre ganz kalt.

Kalt, ja, und hat doch seine Zeit einer Wärme gehabt. – Papas Mutter war ein sanftes, ganz weiches Wesen. An ihr hätte, so sagte Papa, ein Engel nichts auszusetzen gefunden, und sein Vater hatte keine Gelegenheit, seine Härte gegen sie anzuwenden. Zärtlichkeit kannte er zwar nicht, aber – sie war katholisch, und um sie heiraten zu können, ist er es geworden.

Als Papa sieben oder acht Jahre alt war, gab Großvater den Kampf mit ihm auf und steckte ihn in eine von Jesuiten geleitete Erziehungsanstalt. Sie wären, meinte Papa, seinem Vater alle ähnlich gewesen in der äußeren Höflichkeit und Glätte des Betragens und der inneren Verhärtung, und es waren für ihn furchtbare Jahre. Nicht ohne sein Verschulden, gewiß, er verübte tausend Tollheiten, er bemühte sich, ihnen entsetzlich und unerträglich zu werden, als er sah, daß Davonlaufen nichts half, da er stets eingefangen wurde, und wie er es anstellte, ihnen schrecklich zu werden, können Sie sich denken. Er höhnte und lästerte die Religion, er verdarb seine Mitschüler, er kämpfte einen jahrelangen Berserkerkampf gegen das Göttliche, die heiligen Einrichtungen und Symbole bis zu den schmählichsten und ausgesuchten Lästerungen. Dies war in ihm wie ein wüstes Feuer, und er war klug und erfinderisch, und als er im Unterricht auch die heidnische Götterwelt kennen gelernt hatte, stellte er sich als Heide, behauptete, das Blut oder die Seele irgendeines Griechen oder Römers in sich zu spüren, und statt zur Mutter Gottes oder einem Heiligen zu beten, sprach er mit lauter Stimme Anrufungen an Isis oder Dionysos. Denen errichtete er insgeheim Altäre in der Absicht, daß sie entdeckt würden, feierte mit selbsterfundenen oder gar den kirchlichen Riten ihre Kulte, ja, und dann endete es, glaub ich, damit, daß er eine Katze umbrachte, um sie dem Poseidon oder Ares als Opfer darzubringen. Da haben denn auch die frommen Väter den Kampf aufgegeben und ihn heimgeschickt. Drei Tage später saß er im Kadettenkorps.

Das war wenige Jahre vor dem Krieg 1864, den er als Junker mitgemacht hat. Im Korps tat er zwar kaum besser als bei den Vätern Jesuiten, aber jenes schwarze Feuer der Gottlosigkeit fand dort keinen Stoff, um zu brennen, und alt genug war er auch geworden, um einzusehen, daß er den Erwachsenen ausgeliefert war, und daß er nichts Klügeres tun konnte, als sich zu beeilen, gleichfalls erwachsen zu werden; so nahm er sich mit seinen Tollheiten, nächtlichen Gelagen und Kartenspielen und was es nun war, einigermaßen in acht. Obschon er nicht aufhörte, alles Religiöse, vor allem die frommen oder frömmelnden Äußerungen der Mitschüler zu verspotten, sagte er mir, daß mit dem Abfallen jenes schaurigen Zwanges der Gotteslästerung eine wahrhafte Erleichterung über ihn gekommen sei.

Trotz allem diesem hat er nicht so wenig gearbeitet und gelernt, nur eben aus Trotzigkeit nicht im Unterricht; für sich allein aber trieb er beispielsweise Italienisch und Spanisch. Wenn aber in der Klasse Thukydides gelesen wurde oder Cicero, so las er im Gegenteil Pindar und den verbotenen Catull oder die Begebenheiten des Enkolp – ach, er war schrecklich!

Das Schlimmste daran, jedenfalls für ihn, war, daß er sich zwar weder kannte, noch anders konnte, daß es aber im Grunde eine unaufhörliche Qual gewesen; daß ihm immer bewußt gewesen ist, falsch zu handeln, zu denken, zu fühlen, so als sei er einmal vergiftet worden und müßte Gift ausschwitzen bei jeder Erregung. Onkel Augustin hat mir erzählt, als wir über dies alles sprachen, daß Papa als ganz kleines Kind beim ersten Sehen seines Vaters in ein heftiges Schreien und Weinen ausgebrochen und noch lange Zeit später seinem Anblick niemals begegnet sei ohne Geschrei, ohne Tränen, dergestalt daß er späterhin – Onkel – sich des Gedankens nicht habe erwehren können von einem schaurigen Spiel der Natur, und daß Papas Dasein von Anfang an auf ein falsches Geleise gesetzt worden sei, von dem frei zu kommen die gefangene törichte Seele kein Mittel gefunden habe. – In der Jesuitenschule hat er einen Freund gehabt, einen sehr alten Mann, der keinen Unterricht mehr erteilte, seine eigenen Wege ging und sich – freilich immer in dem vom Glauben gezogenen Rahmen – mit naturwissenschaftlichen Forschungen beschäftigte, auch mit Sternkunde und Astrologie. Der habe, erzählte Papa, ihm wie jedem neuen Schüler das Horoskop gestellt, und was er erfuhr – er verriet es nicht –, muß ihn bewogen haben, den Knaben in seine Nähe zu ziehen. Nun war sein Äußeres so ehrfurchtgebietend, daß Papa ihm gegenüber sich hat beherrschen müssen. Sicherlich erfuhr der alte Mann – Bruder Jucundus, so hieß er – von den Lehrern der Anstalt alles über den Jungen, was ihm selber verborgen blieb. Er hat aber nie etwas andres getan, als ihm beim Betreten und Verlassen seiner Zelle die Hand auf den Kopf zu legen und in sein Auge einen Blick zu senken, dem der Knabe vergeblich standzuhalten versuchte. Er ließ ihn teilnehmen, auch mit den jungen geschickten Händen helfen bei seinen Untersuchungen mit dem Mikroskop und den chemischen Experimenten, wies ihm an klaren Abenden die großen Himmelskörper im Fernrohr, abgesondert vom Firmament, und ohne eine Erwiderung je zu verlangen, lehrte er ihn nicht nur die Kenntnisse, sondern das Walten der göttlichen Vernunft in alldem, und daß Stern und Tier und Pflanze und Menschenherz nur Äußerungen seien eines ewigen Willens. Seltsam sei es gewesen, sagte Papa, daß er die Stunden mit dem Greis allzeit als schön, als rein, als wundervoll empfand, und daß doch mit dem Augenblick, wo die Tür hinter ihm zufiel, wo noch der unwiderstehliche Abschiedsblick in ihm brannte, die Luft des Flurs, des übrigen Hauses als dumpfe Wolke sich über ihn gesenkt habe. Im Augenblick habe er vergessen müssen, krampfhaft und doppelt gereizt zum alten Treiben.

Beim Verlassen der Anstalt hat Pater Jucundus ihm dann ein einziges Wort gesagt. Er sagte: Ich weiß alles von dir, mein Sohn, habe es immer gewußt, und Damaskus ist nun nicht mehr fern. Gehe mit Frieden! – Dies, und mehr noch der gütevolle, ja vertrauensvolle Ausdruck, mit dem es gesagt wurde, hat Papa noch lange bewegt, ehe er es vergaß.

Es vergingen aber seit seinem Abschied von dort noch vier Jahre. Dann, wie ich schon sagte, machte er den Feldzug gegen Dänemark mit, und da traf er sein Schicksal.

Lieber Georges, nun ists aus, und ich kann nicht mehr. Halb drei ist, mein Licht ganz heruntergebrannt, ich bin todmüde, so schön die Nacht eben ist. Aus der Tiefe des Gartens steigt so ein feines Duften, das Schlafende atmet stärker, auch reiner als am Tag, und immer wieder hör ich ein ganz leises Knistern – Regentropfen auf Zweigen –, und da fühl ich so schön: die Natur schläft und trinkt zugleich wie ein ganz kleines Kind. Die gute Natur! Sie ist geduldig und voll, und wir sind schlaflos und rastlos und verstehen uns nicht in ihrer Fülle.

 

Am 10. (vormittags)

Gestern kam ich vor Schläfrigkeit nicht mehr dazu, Ihnen zu sagen, daß ich den ganzen Tag noch hierbleiben muß. Der Lehrer hat nicht reinen Mund gehalten über mein Hiersein, nun weiß es die ganze Gegend, und alle wollen mich sehn. Aber es gießt vom Himmel in Strömen, ich kann nicht aus dem Haus, und keiner kann zu mir. Da sitzt sichs schön in der Verschleierung und Regenkühle dicht am offenen Fenster, mitunter spritzt was herein, also was da Flecken sind in der Schrift, das ist aus den Augen des Himmels gefallen und nicht aus meinen.

Und nun gehts weiter.

Sie wissen von dem Übergang der preußischen Truppen über den Sund und der Erstürmung der Insel Alsen am 29. Juni. Er war dabei, in großen Kähnen setzten sie über, und als der Morgen graute, wagten sie die Landung.

So hat er mirs zwanzig- und hundertmal beschrieben. Die lange Nachtfahrt, lautlos, ohne Licht, mit umwickelten Rudern, dann das schaurige Ergrauen der Welt im Osten, das Schwinden der Sterne im kalten Nachtraum. Ihm war schon schauerlich um das Herz; obwohl er seine Erregung nur für Abenteuerlust hielt, schien es ihm mehr, als führen sie alle zu einem Fest der Sonne über das dunkel Unsichtbare, dessen Dasein seltsam plätscherte an den tastenden Rudern, als zum Sterben und Töten. Als einer der Ersten sprang er dann in das flache Wasser. Es ward bereits hell; die Umrisse der Insel erschienen deutlich im Morgengrau, und das Letzte, was mein Vater sah, war am bleichen Osthimmel der eisige Morgenstern und seine schreckliche Verwandlung. Denn da fiel ein Schuß, er spürte einen allmächtigen Schlag auf die Brust, nein, mitten auf das Herz, und in einem ungeheuren Erdonnern fand er sich angedroht von dem gewaltigen Stern wie vom Auge der Welt.

Ihm schwanden die Sinne; er lag, als er erwachte, am Ufer; und da war er ein anderer Mensch.

Und wie ging es zu, Georges? Er hatte in seinem Besitz eine alte große Münze, die er bei einem seiner ersten Besuche in der Zelle seines alten Freundes an sich genommen und später nicht zurückzugeben gewagt hatte. Die war ihm eigentümlicherweise in die Hand geraten am Tage, wo er seinen Koffer für den Feldzug packte, und in einem unbegreiflichen Gefühl, wie unter einem unwiderstehlichen Zwang hatte er, da ein Loch darin war, eine Schnur durchgezogen und sie um den Hals gehängt auf die nackte Brust. Er zog sie hervor, als er am Ufer der Insel in der Morgensonne lag; ein Geschoß steckte darin, und sie war blutig, da es noch in seine Brust eingedrungen war.

Nicht wahr, Georges, das scheint nicht eben viel, ein glücklicher Zufall, nichts weiter, und ich glaube wohl, man müßte es alles erlebt haben, um es zu begreifen: die nächtliche Fahrt, die Waffen, die morgendliche See und den Feind im Verborgenen, den bleichen gewaltigen Himmel und den Stern und vorher das ganze gequälte Leben: um zu fühlen, daß eine Hand ausfahren kann aus dem Unendlichen, um ihren Finger auf eine Brust zu setzen, während das Auge des Ewigen dich bedroht.

Ja, so war sein Damaskus. Er hat dann den Feldzug noch mitgemacht, ohne freilich mehr an den Feind zu kommen, hat danach sein Abschiedsgesuch geschrieben und ist mit bewilligtem Urlaub ins Riesengebirge gefahren. Er fand dort eine Stelle, wo er in fast völliger Unabhängigkeit von Menschen und in Einsamkeit leben konnte, und dort ist er länger als ein Jahr geblieben, indem er gewann, was er gewinnen sollte: die Einsicht in die vollkommene Ordnung der Welt.

Verstehen Sie, Georges? Die Weisheit Kaiser Mark Aurels, ›die von Ende zu Ende reicht und stark und sanft alle Dinge ordnet‹. Ganz gewiß, diese wars, die er einsehen lernte, und die ward sein Glaube. Aber welcher Art war diese Einsicht? Sie hat ihn erfüllt wie ein Odem, so war sie überall, und jedes Ding von ihr lebend, sie, die ewige Weisheit, deren Walten die Liebe ist. Aus Neigung und Abneigung der gewaltige Einklang, und daß alles Beseelte beseelt ist vom Streben nach Neigung und nach dem Einklang.

Ich weiß nicht, ob Sie ganz verstehen, oder ob Sie vielleicht fragen, wie mancher fragen wird: Warum, wenn eine Vollkommenheit ist, warum ist sie so, daß ich sie nicht zu sehen bekomme, indem es mir elend geht?

Nun, auf diese Frage hatte er allerlei Antworten, und eine sehr einfache ist mir im Gedächtnis geblieben. Er sagte: Wenn einem Menschen, der niemals ein Bauwerk gesehn hat, ein einzelner Stein gezeigt wird, so wird es ihm auf keine Weise gelingen, sich eine Vorstellung zu machen von der Vollkommenheit des Gebäudes, das sich aus einer Anzahl solcher Steine errichten läßt. Und, die Vernunft des betrachtenden Menschen in jenen Stein übertragen, so wird auch der Stein keine Vorstellung haben können. Darum, wie hoch auch die Vernunft eines Teiles sein kann, so wird er doch niemals eine Vorstellung gewinnen können von der Ordnung des Ganzen, dem er zugeteilt ist, ja das durch ihn besteht. Daß aber der Mensch nur ein Teil ist, kein Ganzes, wie jedes Ding, das braucht nicht bewiesen werden.

Nein, höre ich meinen klugen Freund sagen, denn sonst würde er nicht zeugen, – immerhin aber ein sehr schwerer Glaube für Menschen, und gab es keine Erleichterung?

Freilich wohl, und eine vor allem. Er hatte doch in einem Augenblick seines Lebens diese Vollkommenheit wirklich gesehen. Ja, Georges, er hatte ihren Finger gefühlt leibhaft, mitten im Herzen – das heißt, er hatte Allmacht gefühlt, sie, die ihm dann in seinem einsamen Jahr wieder erschien in anderer, nicht mehr bedrohlicher Gestalt, eben als die Vollkommenheit. Also konnte sie offenbar werden. Und so war dies sein Erkennen und sein Glaube, daß sie beherrscht war von einer süßen Neigung, offenbar zu werden. Liebe, das war die Kraft, die all die Myriaden Teile dieses Ganzen zusammenhält, und so war es ihm durchzogen von einem schimmernden Netzwerk von Offenbarungen. Lassen Sie es mich noch einmal sagen: als er Einsicht gewann in die ewige Weisheit, da ward sie ihm so feurig leibhaftig, so odemvoll lebendig, so schnaubend regsam in ihm und reich an unendlichen Sinnen und Kräften, daß sie sich von einem persönlichen Gotteswesen, wie Andere es für wahr halten, nur durch die Eigenschaften unterschieden haben mag, die eben die Andern ihm beilegen. Sie hatte ja fast Züge, und mir, Georges, mir sah sie schon ganz aus wie mein Vater. Sehen Sie, Freund, Gott ist immer ein und derselbe, und verschieden sind nur die Wege.

Ein wundervolles Gewebe von Offenbarungen, das erfüllte ihm die Welt, und überall konnte dessen Feuer hervorleuchten, aus einer Blume, aus einem Stern, aus Kindesmund, aus der Bibel. Der Einfältigste konnte es empfinden, und der Weise es auslegen. Ja, so stark sei der Wunsch Gottes, offenbar zu werden, daß die Offenbarung nicht wahr zu sein brauche an sich, sondern allein wahr durch den Glauben des Herzens, und Spiritismus und Okkultismus, Bibelauslegung und Zungenreden der Sekten – all das galt ihm so lange für ernst, wie er den Ernst zu sehen glaubte in der Seele des Menschen. Er selbst glaubte fest an die Sterne, und das war der Grund, weshalb ich geboren wurde.

Das ist nun aber mal furchtbar komisch gewesen. Er glaubte an die Sterne, ihren Zusammenhang untereinander und unseren mit ihnen, wie schon sein alter Lehrer, Pater Jucundus, ihn unterwiesen hatte. Und so – nachdem er gründliche Kenntnisse in der Sterndeutekunst erworben hatte – glaubte er auch, daß ein Mensch, zu einer bestimmten Stunde gezeugt, zu einer bestimmten Stunde geboren, gewisse, in den Sternen ausgedrückte und erkennbare Eigenschaften auf die Welt bringen würde. Und nun sehen Sie, Georges: es ist alles eingetroffen, Zeugung und Geburt zu den vorgesetzten Stunden, und gewisse Eigenschaften auch, bloß – er hatte alles berechnet auf einen Sohn, und es kam eine Tochter, nämlich ich.

Papa, als er es mir erzählte, sagte, er sei im Leben nicht so verblüfft gewesen. Er hatte die Möglichkeit, daß es kein Sohn werden könne, überhaupt nicht im entferntesten geahnt und wollte nicht glauben, was er sah. Nachher freilich habe er auch lachen müssen wie nie im Leben. Er sah nun ein, daß die Vorsehung sich zwar erkennen läßt, aber in keiner Weise beeinflussen. Im übrigen stimmte, wie gesagt, die Sternenberechnung durchaus, und auch ich hatte gewisse Eigenschaften bekommen, die jene Stunde der Geburt einem weiblichen Kinde verleihen sollte, und weiter noch hat es sich in meinem Leben gezeigt, daß von drei ›Schicksalstagen‹, als welche auch in der Sternauslegung eine große Rolle spielen, der erste eingetroffen ist – die andern verriet er mir nicht –, sein Todestag.

Aber davon später; wir verließen ihn ja im Riesengebirge, und ich will weiter erzählen.

 

Nun wieder nachts

Es ist doch Besuch gekommen, und ich hab abbrechen müssen. Gegen Mittag hat das Wetter sich dann aufgeklärt, ich konnte meine Besuche machen, und um ja zu recht Vielen zu kommen, hab ich einen Wagen anspannen lassen. Das war eine Fahrt! Der Himmel so blau, die Erde dampfte ganz wild in der Sonne, und über das lächelnd Blaue flog immerfort Weißes, als würden lauter Tücher emporgeworfen, immer dahinten, wo man nicht sein kann. Die Obstblüte, dahier das Schönste, ist ja leider zu andrer Jahreszeit, aber dies Grün, o dies nasse, schwere Grün der Bäume und Wiesen, und noch Blumenfarben in den kleinen Gärten und die blitzenden vielen Silberkugeln und die blauen, die sie lustig hineingestellt haben, und in denen man den Himmel sehn kann und alles, mitten zwischen den Blumen. Vor jedem Dorf auf der Landstraße kamen die Kinder mir entgegengelaufen, alle kleinen Hände voll Sträuße, mein Wagen ist so voll geworden, daß sie an den Seiten wieder herausfielen, und aus den Haustüren traten die alten Leute, lachten und weinten – sicher hab ich zwanzigmal Kaffee getrunken, na und Kuchen so viel, daß ich kein' Atem mehr kriegen konnt, und geredet! Das sind ja dahier rheinische Menschen, nicht so plump wie der Bayer und so derb, auch nicht so verschlossen wie der Bauer im Norden, sondern treu- und offenherzig und redselig, und o fein sind wir und gebildet, und wie war ich froh, daß ich ihr Schwäbisch noch hab verstehen können! Ach, daß sie mich Alle gern mögen, weiß ich ja auch, aber eigentlich hat es alles doch ihm gegolten, und ich bin ja auch sein Geschöpf, und ich hab wohl gesehen, daß ihnen Allen so lustige kleine Spruchbänder vom Mund wegflogen, wie auf den Bildern im Mittelalter; wo aber auf denen jedesmal der Name der Person aufgemalt ist, da hat immer sein Name gestanden –, ach lieber Freund, ganz satt und trunken haben sie mich gemacht mit ihrer Liebe zu ihm!

Und ich muß nun, wenn ich weiter erzählen will, im Gegenteil von Lieblosigkeit reden, aber es wird ein Übergang sein, und halt läßt es sich nicht ändern.

Er hatte, bevor er in seine Einsamkeit ging, dies Vorhaben und seine Notwendigkeit seinem Vater nur schriftlich mitgeteilt und keine Antwort empfangen. Ins Haus zurückkehrend, mußte er von der Dienerschaft erfahren, daß seine Mutter gestorben war, und daß sie den Auftrag hätten, ihn am Eintritt zu verhindern. Er kehrte um, eine Adresse zurücklassend, um die er gebeten wurde. Der Großvater schrieb ihm, daß er nunmehr satt sei der Unbotmäßigkeit. Er möge sehn, was er treibe, ihm jedoch nicht früher vor Augen kommen, als bis er im Besitz eines Berufes sei, der ihn ernähre. Die Unterstützung hierzu könne er alljährlich bei einer Bank beheben. –

Papa hatte nun das Glück, einen wundervollen Aufschwung all seiner Kräfte und Fähigkeiten zu erleben. Die Offenheit der Welt war in ihm. Und was in ihn stürzte, war Reichtum der Welt und kostbare Nahrung. In der Einsamkeit hatte er zu der großen ersten Erkenntnis eine zweite, für sein tätiges, sein gleichsam persönliches Leben gültige gewonnen – die seiner Berufung zum Priester. Zum Priester ja, und weniger zum Verkünder, zum Apostel, sosehr er glaubte, damals, im mächtigen Feuer seines Gottesgefühls glaubte, den Schatz einer neuen Religiosität gefunden zu haben. Jedoch hatte er bei aller Leidenschaftlichkeit keinerlei Anlage zum Revolutionär, ja, er verabscheute das Revolutionäre, das Zerstörerische daran und auch die Gewaltsamkeit neuer Formung. Da allezeit kaum der hundertste Teil von dem, was der revolutionäre Geist erstrebt, seine Verwirklichung in der menschlichen Gemeinschaft findet, so schien es ihm ersprießlicher und seinem Wesen gemäß, die Verwirklichung des von ihm Erkannten zu erstreben und versuchen im einfachen Wirken. Bilden, sagte er, im menschlichen Stoff, ist Umbilden; ist, den guten, den brauchbaren Keim zu erkennen und, ihn entfaltend, die alte Form zu durchwirken und umzuschaffen.

So ging er fürs erste daran, die menschlichen Wissenschaften vom Göttlichen sich zu eigen zu machen, indem er zunächst Theologie studierte, später auch Philosophie, Natur- und Sozialwissenschaften. Dazu erwarb er reiche Kenntnis in den lebenden und toten Sprachen, sogar im Sanskrit und der Bilderschrift der Ägypter, überall aus den Quellen selber zu schöpfen geneigt. Erst fünf von den zehn Jahren, die er daran setzte, waren vorüber, als sein Vater die Zahlung der Unterstützung einstellte mit der Begründung, es sei ihm zu Ohren gekommen, daß er mit einer Weibsperson zusammen lebe. Er möge sie aufgeben oder ihn. Papa mußte dies Ansinnen leider abweisen. Durch seine Verheiratung mit jener Weibsperson, meiner Mutter, einige Jahre später, und seinen gleichzeitigen Übertritt zum Protestantismus, zog er sich die väterliche Verfluchung zu. (Seltsam, nicht wahr, daß der Großvater am Sohn nicht anerkennen wollte – ja, vielleicht nicht einmal erkannte was er selber im gleichen Alter getan hatte!) Er ließ ihn wissen, daß er fortan nur noch einen Sohn habe, und er hielt dies Wort so, daß er auch die Beziehung zwischen Papas Bruder und ihm gewaltsam verhinderte und ihn nicht rufen ließ, als er starb. Papa hat ihn nur als Leiche wiedergesehen. – Lassen Sie mich aber nun erst von meiner Mutter erzählen.

Nachdem jener Schuß auf Alsen Papa getroffen hatte, lag er noch zwei Tage an der Küste von Schleswig in einer seltsamen Gelähmtheit, die er erst am folgenden Morgen verspürte, fast weniger der Glieder als des Willens, bei dänischen Bauersleuten, die ihn pflegten. Besonders nahm sich ein Mädchen seiner an, noch halb ein Kind, das in jenem Haus aufgewachsen war, aber ihm nicht entstammte. Sie war eine Deutsche und dies alles, was man von ihr wußte. Eines Morgens war das Kind auf dem trocknen Strand in einem Korbe gefunden worden, ohne Zweifel in einem Boot hergebracht. Ein Zettel von männlicher Hand mit der Bitte, sich des Kindes um Gottes willen anzunehmen und es zu taufen, verriet so viel, daß es nicht von bäurischer Herkunft war, was sich denn auch erwies, als es heranwuchs und von übergroßer Zartheit des Leibes ward. Nicht eben schön, von sehr schmächtigem Wuchs und auch schmächtigen, länglichen Zügen, blond und helläugig mit jenen starken Augäpfeln, wie man sie nicht selten sieht bei so zarten und schmächtigen Geschöpfen, so kenne ich sie nach ihrem einzigen Bild. Sie war so still wie ein Licht, und wie das Licht nur Flamme ist, so verzehrte sich in ihr eine goldene Seele von lauter Feuer. Seit dem Augenblick, wo sie meinen Vater erblickte, hing ihre reine Jungfräulichkeit ihm an, und er wurde der Leuchter, der die allzuglühende Flamme noch so lange dem zarten Körper erhielt. Muß ich sagen, daß und wie sehr er sie liebte? Sie wich nicht von ihm. In die Einsamkeit zog sie mit, freilich nur bis zu einem Dorf in der Nähe seines Aufenthalts, von wo sie ihm alltäglich Speisen brachte. Später lebten sie dann ehelich zusammen, merkwürdigerweise lange Jahre, ohne Kinder zu bekommen. Denn auf jenen Einfall der Sternengeburt ist Papa erst viel später gekommen, und obschon sie dann eine Pause eintreten ließen im ehelichen Umgang, bis sich die Stunde erfüllte, schien ihm die anfängliche Kinderlosigkeit grade ein Zeichen, daß alles sich so vollziehn sollte, wie es dann geschah. Aber ach, sie hat mit dieser Geburt ihre Kraft erschöpft! Fast nur noch Seele, glühte sie in grausamer Schnelle nieder, und sie erlosch ganz, anderthalb Jahr nach meiner Geburt, freilich in der inbrünstigen Gewißheit, nunmehr erst zu reiner Flamme aufzublühn in der Vollkommenheit und überall zu sein wie das Licht.

Ich habe, soviel ich vom Vater bekam, doch manches von ihr ererbt. Sie muß eine Norddeutsche gewesen sein, nach ihrem Charakter und allem, was man von ihr weiß, und übertrug so auf mich, was schon von Voreltern her Nördliches im Blut des Geschlechtes war und was mein Vater entbehrte, dessen Ungebärdigkeit und plötzliches Wesen erst in späteren Jahren zur Ruhe kam, zu einer mehr gleichmäßigen Glut sich verdichtete.

Was aber nun ihn angeht und seinen Beruf, so hatte er inzwischen einsehn gelernt, was ich schon sagte: daß Gott der Eine ist, verschieden nur die Wege. Er wollte Neues bringen, einen neuen Weg, aber nicht mit Schrecken und Übermaß, sondern allein durch das Wirken von innen. Er hatte auch die Menschen kennen gelernt und sah, daß sie des Priesters bedurften, die Einfältigen wie die Klugen, des Hülfreichen, Heilenden, so gut wie ihr Körper des Arztes, und dies wollte er sein. Ja, wenn er einen neuen Weg zu finden gemeint hatte, so war er ersichtlich doch neu nur in seinen Augen und uralt in Wirklichkeit, daher es seinem Wesen widerstrebte, als neu auszurufen, was es in Wahrheit nicht war. Längst erkannt hatte er auch Jesus von Nazareth und sein ewig Gültiges, obschon er ihm mehr durch sein Leben als durch sein Sterben jene ›stark und sanft alle Dinge ordnende Weisheit‹ zu vertreten schien. Und wenn sie ihn nicht gekreuzigt hätten, sagte er, würde er nicht gen Himmel gefahren sein nach solchem Leben? Also kann ich mit Recht den Kreuzestod überschlagen, aus dem sich doch, wenn man die Summe zieht, zwar die Kraft seines Wesens und Glaubens, aber mehr noch die Unvernunft der Menschen ergiebt, und die, sagte er und lachte, ist schon anderweitig bekannt geworden. Er unterließ nicht, auch das Blutzeugnis Christi anzurufen, wenn er an die Kraft der Gläubigkeit im Menschen gemahnen wollte, aber seine Abendmahlspredigten – nun, ich werde sie Ihnen daheim zu lesen geben.

Er hatte ferner erkannt, daß der einfache Mensch der Satzung bedürftig sei und des Dogmas, aber daß es Beruf und Aufgabe eben des Priesters sei, diese auszulegen auf den rechten Gebrauch, damit sie würden, was sie sein sollen: Mittel des Lebens, Hülfen, Ordnungen, nicht aber was die Menschen allzeit aus ihnen gemacht haben: Ketten, Hindernisse und Kerker und Fallen, die sie unaufhörlich einander stellen. Er erkannte endlich, wie schwer es sei, sie zu seiner Einsicht zu führen, die für ihre Augen zu blendend war, und daß sie der lindernden Spiegel bedurften, um den ewigen Strahl zu ertragen, um ihn zu lernen, bevor sie ihn ungeschützten Auges empfingen, – aber auch daß es überall die Wenigen gebe, die der Wahrheit ins Antlitz zu schauen vermögen; daß es seine Aufgabe sei, vor allem diese zu finden, zu bilden, zu einer Gemeinschaft zu gestalten, die weiterhin sich auswirke.

Priester des katholischen Bekenntnisses zu werden, war ihm solchermaßen unmöglich, da er keinen Stellvertreter des Ewigen auf Erden anerkennen konnte. Im Kern der protestantischen Lehre dagegen, dem: so halten wir es nun, daß der Mensch gerecht werde nicht durch des Gesetzes Werk, sondern allein durch den Glauben, fand er den Quell seiner Lehre wieder, die mit der Einsicht in das Wesen der Vollkommenheit beginnt, die eine Religiosität und Lehre freilich sein soll für das Leben und das Handeln, in der aber jegliche Handlung erst möglich wird durch den Glauben. – So ist er Protestant geworden und verknüpfte mit dem Übertritt die äußerliche Form der Ehe mit Mama, die zuvor nur vor Gottes unsichtbarem Altar geschlossen war.

Sehen Sie, lieber Freund, welch schwerer Glaube es war, den er seinem Kinde von Anbeginn lehrte, nur mit dem einen lindernden Spiegel, dem Augenpaar ewiger Liebe unter seiner eigenen Stirn. Denn eines war für den Menschen in dieser Lehre nicht enthalten; eines, dessen mit allen Religionen auch das Luthertum, das er auf der Kanzel vertrat, nicht zu entraten wußte; die eine gewaltige Hülfe Gottes im Leben: das Gebet. Ja, die Wenigen, die er ganz für sich gewann, des Gebets zu entwöhnen, war die schwerste, war ja die eine, eigentliche Aufgabe. Denn sie ist, die Vollkommenheit, ist, und sonst nichts. Erflehen läßt sie sich nicht, sondern allein empfinden, und dies ist die Aufgabe, die sie auferlegt, so ganz von ihr erfüllt zu sein an Seele und Gliedern, sie so aufgesogen zu haben in das Sein, ins Fühlen und Denken und Handeln, daß sich in ihr leben läßt, und daß Leben heißt, sie ausstrahlen. Und davon die Folge? Daß in jeder Lebensnot, jeder Gefahr, in aller Ungeduld und Verwirrung und Trübsal der Mensch allein angewiesen ist auf sich selbst. Nichts ist, was sich erbitten und beschwören, was um Halt, um Erleuchtung, um Linderung sich anrufen ließe. Man muß glauben. So viel gab er wohl zu, daß ein Streben in der ewigen Weisheit walte, eine Neigung, zurückzugewinnen, was aus ihr gefallen sei, entgegenkommend dem Streben des Gefallenen selbst. Verwirrung dagegen ließe sie kaum noch gelten, sagte er, und was überhaupt die große Mehrzahl der Daseinsnöte angehe, alltägliche Kümmernisse und dergleichen, so möge sich keiner einbilden, daß sie, die Weisheit, eine Ahnung davon habe, und möge sich für sich allein damit abfinden. Wohl habe das Göttliche eine Sehnsucht danach, ausgestrahlt zu werden vom letzten Punkt der Erde, und eine Freude daran, sich zu ergießen in jede willfährige Stelle; sie bemühe sich aber so wenig um das Taube wie um das Blinde, und das hingegen möge der Mensch selber besorgen.

Man muß glauben; und ich, ach ich habe es bald erfahren, denn hier bin ich ja, heute wieder geheilt, aber die Verwirrung, in der ich kam – ach wie klein seh ich sie nun! –, war doch so stark, daß sie alles umwarf in mir und mich hertrieb zu der ganz irdischen Stelle, wo ich einst alles hatte, Gott und Glauben und Vater und Heimat und Seelenruhe, alles in ihm, der zu frühe ging und als ich noch lange nicht fertig war.

Als er starb, da glaubte ich es zu sein. Das war so:

Er legte sich nieder in seinem fünfzigsten Jahr mit Lungenentzündung und sagte gleich, er wisse, daß es das Ende sei. Er sagte das mit einem furchtbaren Gram der Sorge um sein Kind, und bald, als er das Bewußtsein verlor und delirierte, war aus den Worten, die er hervorstieß, zu erkennen, daß er von nichts anderem gequält wurde als einer maßlosen Angst, mich schutzlos, unfertig zu verlassen, und ins Ungemessene stieg auch die meine. Plötzlich war dann für mich alles aus. Was geschehen ist, weiß ich kaum. Von Papas Bruder, den ich gerufen hatte, dessen Kommen ich aber schon nicht mehr wahrnahm, erfuhr ich später, daß ich bewußtlos dagelegen habe und wie von Stein. Und dies sieben Tage. Er hat mir nicht sagen wollen, was unterweil mit meinem Vater geschah; sein Grab war, als ich aus einem tiefen und reinen Schlummer erwachte, eben geschlossen. Vorher, vor dem Schlummer, so viel nur weiß ich, war das Entsetzliche. Es hatte keinerlei Gestalt, doch ich weiß, daß es Kampf gewesen ist. Ein Kampf um Leben wurde ausgefochten, ich weiß nicht von wem, aber mein Vater hat teil daran gehabt wie ich selbst. Wer gesiegt hat in dem Kampf, auch das ist mir unbekannt geblieben, aber mein Vater starb. Später sagten sie mir, die Vögel der ganzen Gegend hätten nicht gesungen noch gezwitschert in jenen sieben Tagen, – und was es bedeutet, werden Sie verstehen, wenn Vetter Josef sagte – er war mit seinem Bruder zum Begräbnis gekommen –, daß er niemals eine so vollkommene Reinheit der Luft eingeatmet hätte wie während jener Tage im Haus.

Es war früher Morgen, als ich zu mir kam aus dem schönen Schlaf, – Ende des März wars, und in mein Fenster zu ebener Erde herein blühten die Kirschbäume des Gartens. Am Fenster stehend, so erquickt, als sei ich in Himmel gebadet, sah ich ihn über den Wolken der Blüte, erwacht wie ich selbst, seiner wieder froh, vollkommen rein und leicht wie das Licht. Daß Papa nicht mehr war, wußte ich auf einmal; aber kein Schmerz! So wie damals in seine Brust der Stern, aber liebend traf mich von oben sein wieder ewiges Auge. Es machte mir zum Hause die Welt; es legte mich mit Blumen und Sternen und Häusern und für immer an seine Brust.

Damals, ach damals war ich stark in seinem Glauben wie nicht vorher, nicht nachher. Ja, noch so stark, daß, als ich eine Woche später das Haus verschloß, um in die Schweiz zu fahren, so schmerzlich mich das Scheiden von allem bewegte, was sein, was doch leiblich an ihm gewesen war, süß und haltbar, – daß ich als ganz leicht die Ahnung empfand, ich würde das Haus nicht wiedersehn. Und selbst als ich, wieder eine Woche danach, die Nachricht bekam, daß es niedergebrannt sei, weinte ich wohl, aber ich hielt es für gut und schön, daß auch die weitere Hülle seines irdischen Daseins nicht mehr sein sollte.

Seitdem bin ich schwächer geworden und so schwach, daß ich nun hier sitze. Er war gut zu mir wie je, ließ mich die Schwäche nicht entgelten, sondern blickte mich an aus allem, aus seinem Hügel und der stillen Uhr, aus Bäumen und Wolken, und es fiel mir bald leicht, ihm zu versprechen, daß es das erste und das letzte Mal gewesen sein sollte.

Sein Blick nämlich erinnerte mich an eine kleine besondere Lehre, ein privates Haben von ihm, das er mir mitteilte, und dem freilich viel in meiner Natur entgegenkam – die Lehre vom Warten. Wie er sein Damaskus gehabt hatte zur festgesetzten Frist, so glaubte er – jawohl, ein bißchen abergläubisch! – an bestimmte Stunden, in denen lange Gereiftes zur Vollendung komme, an Tage, in die das Schicksal sich sammle, und – wieweit er recht hat, weiß ich zwar nicht, aber in mir kam immer alles ihm entgegen, wenn er von der Pflicht, sprach, geduldig zu sein, ohne Unrast, nicht bitter zu werden vor der Reife, nicht kränklich im Sehnen, sich nicht zu vergeuden, nicht zuzugreifen nach allem, was scheine, nicht den edlen Hunger zu speisen mit nichtigen Happen, stark und eifrig nur in jedem Streben nach einem Guten, dem Glück, da es doch niemals nütze, die vorbestimmte Frist durch Übereifer und trabende Füße zu quälen, so wenig es im Eisenbahnwagen helfe zu laufen. Ja, schön, nun weiß ich das alles wieder recht gut, und doch wäre ich gern den Gang auf und nieder gerannt im Eisenbahnwagen, um schneller hier zu sein und die Stillung zu empfangen für das innre Gerenn meiner letzten Wochen.

Sie aber wissen nun auch, lieber Freund, weshalb ich Ihnen so dankbar bin für das Geschenk des ägyptischen Königs, und weshalb ich ihn so sehr liebe, Ech-en-Aton, unseren Freund! Daß ich sein Antlitz erkannte als reinen Spiegel der Weisheit; daß ich an seinem Auge sehe, wie es blind und selig ins Herz des ewigen Wesens blickt und sein Strahl es nicht blendet; daß er nur immer dasteht seit Ewigkeit und sich müht, die Vollkommenheit aufzufangen mit Leib und Seele. O möchte ich ihn einst brüderlich empfinden können, wie heute noch tief unterlegen!

Gute Nacht, Freund, morgen komm ich zurück. Den Brief werden Sie zwar später zu sehen bekommen als mich selbst, aber deshalb stecke ich ihn morgen doch in den Kasten, weil ich weiß, daß übermorgen Ihr Geburtstag ist, und allein zu diesem Zweck hab ich ihn geschrieben. – Auf Wiedersehn!

Renate

 

Erschöpfung

Es waren wohl Wochen vergangen. Georg vermutete so, – und auch, sehr krank gewesen zu sein. Nun war da Helenenruh, und irgendwie war alles gut. Er merkte, daß er sehr allein war, daß er nicht denken konnte, daß ganze Tage durch ihn hingingen wie Schatten durch Wasser, daß sein Vater da war – und nicht mehr da. – Daß er zittrig umherging, daß es einmal Nachmittag war, einmal Abend, und daß viele Fenster waren, hinter denen es regnete.

Plötzlich war Bogner zugegen. Er legte eine Mappe vor ihn hin mit Radierungen, und Georg konnte sehn, was es war, konnte sich freilich nicht recht entscheiden, ob diese Dinge da wirklich vor sich gingen oder nur gezeichnet waren. Es sei ein Zyklus ›Hades‹, hörte er eine Stimme mehrmals sagen, und jetzt kam er zu sich, Bogners Gesicht dicht über sich gewahrend, da er neben ihm stand, um die Blätter umzuwenden. Jetzt hätte er ihn fragen können, wie er denn hierher komme, mochte das aber nun nicht mehr, sondern beugte sich tiefer über die Blätter, die ihm ungeheuerlich erschienen wie manche Dinge im Traum. Da waren die Danaiden, ein unbeschreibliches Gewimmel von Frauenkörpern, die sich über drei aneinandergereihte Blätter hin an den Gestaden eines Flusses bewegten; etliche lagen an der Quelle, blumenflechtend, etliche beugten sich mit ihren Krügen von bekränzten Flößen, Gruppen und Scharen, und einzelne Wallerinnen schritten in schöner Bewegung von Hügeln zur vollen Stromesbreite, alle in einer unwahrscheinlichen Helligkeit, alle nur in Umrißlinien gehalten, und alle ohne Gesichtszüge, leere Ovale statt der Antlitze zeigend, grauenhaft seelenlos anzusehn. Da war Tantalos, eine kaum sichtbare Gestalt in einem schwarzen Geklüft, am Boden ausgestreckt wie ein Frosch, wo ein Wasser verrann, und hier noch einmal, emporfliegend wie ein Schatten zu den über ihm fortwirbelnden Zweigen und Früchten. Sisyphos war da, der Akt eines Athleten, der mit Händen, Kinn und Schultern zusammengekrümmt den riesigen Würfel bergan trieb; und hier starrte er vom Hügel dem rutschenden Felsen nach, ein Riese, hülflos, mit ungeheuerlich nach vorn hängenden Schultern und vergreistem Antlitz; und da war der zu Tal jagende Block in Qualm und Geröll, dahinter der Mensch, nachstürmend, mit flatternden Haaren, springend, schreiend, aufgerissen, sinnlos. Persephoneias Antlitz blickte gerade aus dem Blatt, bleich und ergraut; durch kerzenschlanke Stämme hinter ihr, unter wagrecht abgeschnittener Masse schwarzer Wipfel schimmerten elysische Gefilde und Gestalten. – Georg gingen die Augen über; Bogner war nicht mehr da.

Nun kam viel Schlaf. Dann konnte er wieder grade umhergehn und erkennen, daß es November war. Hin und wieder schlief er, in Decken gewickelt unter freundlich wärmender Sonne auf der Terrasse. Milch gab es zu trinken, sehr schöne, in kleinen, kostbaren Schlucken. Stundenlang hockte sichs angenehm schläfrig an einem Fenster im Klaviersaal, während es draußen hagelte und stürmte, oder während die Nebel heranwogten und alles verhüllten.

Dann trat eines Tages Jason al Manach bei ihm ein, setzte sich nach der Begrüßung – es war im Klaviersaal –, erhob sich wieder, ging zu Bogners Gemälde und stand lange darunter. Georg folgte ihm mit den Augen und wunderte sich, daß er in kleinen Pausen immerfort den Kopf hin und her bewegte oder schüttelte. Dann sah er ihn einen Stoß Briefe vom Harmonium nehmen, damit zum Fenster gehn und sie langsam durchsehn; schließlich behielt er ein Telegramm in Händen und drehte es um; es war verschlossen. Al Manach öffnete es, schüttelte, schüttelte, schüttelte den Kopf, las für sich, schnaubte eine Art Lachen und sah Georg an.

»Sie haben seit drei Wochen keine Post gelesen?« fragte er.

Georg bejahte, auf einmal ganz wenig geängstigt. »Ist denn was?« fragte er.

Jason blickte wieder in das Telegramm und las vor: »New York, 28. Oktober. Gerettet. Esther verloren. Jason.«

Georg zuckte leicht zusammen, hörte das laute Rauschen des Regens auf den Steinplatten der Terrasse, besann sich, was die Worte bedeuteten, sah al Manach ans Fenster treten, hinausblicken, den Kopf schütteln, sah ihn sich setzen, den Kopf senken, ängstlicher nun jeder Bewegung dieses Menschen anhangend, und hörte ihn reden.

»Also: Zusammenstoß mit einem Eisberg. Nachts. Ich saß im Café. Die Rettungsboote kamen meist nicht ins Wasser, zerschellten. Die See war glatt. Es herrschte eine sogenannte Panik. Ich benahm mich verständig. Ich suchte Esther. Ich habe sie nicht gefunden. Ich half Leuten in die Boote. Ich suchte, wie man so im Traume was sucht. Ich sah einen, der vor Angst ins Wasser sprang. Da wurde ich über Bord geworfen. Ich hatte eine Schwimmweste an. Ich wurde von einem Boot aufgefischt. Ich sah etwas, das Sie eine Halluzination nennen werden. Nämlich, ich kenne den Tod sehr gut. Ich habe ihn seit meiner Kindheit vor mir her gehen sehn, zuweilen stehn bleiben und mich anschaun und mich vorüberlassen. Auch unterhielten wir uns oft über das menschliche Leben. In bedeutender Weise erschien er mir mehrmals, diesmal wars das achte. Als ich geboren wurde, stand er dabei, und meine Mutter starb. Als ich acht Jahre alt war, fiel ich drei Stock hoch herunter und blieb lebendig. Als ich sechzehn alt war, stand er vor meinem Bett, wo mich die Diphtheritis am Hals hatte. Als ich vierundzwanzig alt war, stand er zu Füßen des Bettes, in dem Angelika starb in ihrem Blut. Als ich zweiunddreißig alt war, sah ich ihn an einem brennenden Eisenbahnzug entlang gehn, und dann gab er die Genauigkeit auf, und ich sah ihn gleich darauf an einem Teich, und bei einer Windmühle, und jetzt sah ich ihn mitten im Wasser stehn, grau und verschleiert wie immer. Ich sah noch etwas. In der Nacht hoch über mir – denn so ein Ozeandampfer hat eine schöne Höhe – war eine Gesichterreihe überm Bordgeländer, und darin das Gesicht von Esther, sehr deutlich. Das war still, und die Augen sahen starr nach einem, der neben mir im Boot saß. Sie warens, Prinz. Da gingen ihre Augen zur Seite, sie sah wie ich den großen Grauen im Wasser, der den Arm hob und nickte. Dann lächelte sie. Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß Esther Sie angesehn hat, als das Schiff unterging. Dies war sehr feierlich. Sie spielten einen Choral. Ich habe den Tod so großartig noch nicht erlebt.«

Nachdem er eine Weile aufrecht gestanden hatte, setzte er sich nun wieder, als müsse er sich dadurch zum Aufhören seines Redens nötigen. Georg fühlte, daß ihm etwas Schmerzliches in Kehle und Augen aufstieg, daß etwas ihm heiß über die Wange lief, und dachte: Ich glaube, ich weine. Darüber aber rannten die Gedanken fort ins erste Kapitel von Jean Pauls Flegeljahren, wo die Erben um den Tisch sitzen und sich in einer halben Stunde zum Weinen zu bringen suchen, um das Haus zu gewinnen, und einer erhebt sich feierlich und sagt, grade wie ein Andrer die Tränen in sich steigen fühlt: Ich glaube, – ich weine … Georg fing leise an zu lachen, wollte das Lachen halten, es gelang ihm nicht, endlich schluchzte er auf und wurde still.

Tot war die kleine Esther. Schon lange war sie fortgefahren, schon lange war sie tot. Darum hatte sie ihm so traurig zugenickt aus dem Eisenbahnfenster. Vom ›zur rechten Zeit sterben‹ hatte sie etwas gesagt. War das nun eingetroffen? – Einmal hatte er ihr ein Veilchensträußchen gekauft; eines war herausgefallen, das hatte sie ihm gegeben, eine winzig kleine, embryonische, dunkle Blume, die er innen in seinen Handschuh geschoben hatte. Beim Ausziehn dieses Handschuhs fiel es auf die Erde, und er hob es in einer leeren Zigarettenschachtel auf, er hatte soviel Anhänglichkeit an so was. Als er sie nach ein paar Tagen wieder öffnete, war die Blume schwarz und trocken, aber die Schachtel war ganz voll von Duft gewesen. So breitet die süßere Seele sich über – über … Wie berauschend brauste der Regen! welch ein Getöse! Es ward dämmrig, es ward dunkel. Jasons bleiches Gesicht war noch dort, aber nach einiger Zeit verschwand es auch, löste sich auf. –

Ob der rote Baum noch am Wasser stand? – Ein sterbendes Gesicht an einem Kreuz, erzählte Esther, das mich ansah. – Georg fing heftig an zu weinen. Draußen rauschte das unendliche Wasser. Ganz unten lag die eine Tote, rotviolett gekleidet; eine Muschel lag vor ihrer Stirn, sie schlief sich aus. – Warum so ernst, Esther? – Georg weinte heftiger und unaufhaltsam, weinte wieder leiser und verlor Schmerz und sich im Schlaf.


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