George Sand
Indiana
George Sand

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Achtundzwanzigstes Kapitel.

An der Barrière hielt der Wagen; ein Diener, den Indiana schon früher bei Raymon gesehen hatte, öffnete den Schlag und fragte, wohin er die gnädige Frau bringen sollte. Indiana nannte ihm mechanisch das Hotel garni, in welchem sie sich zuletzt aufgehalten hatte. Als sie dahin kam, sank sie auf einen Stuhl und blieb so bis zum nächsten Morgen, ohne daran zu denken, sich ins Bett zu legen. Sie wünschte zu sterben, war aber zu gebrochen, zu schwach, um sich töten zu können. Sie glaubte, es sei unmöglich, nach solch entsetzlichen Leiden weiterleben zu können und der Tod würde von selbst kommen, sie zu befreien. So blieb sie den ganzen folgenden Tag, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, ohne die wenigen Dienstanerbietungen, die ihr gemacht wurden, zu beachten. Indiana befand sich in einer Lage, wie sie für eine verlassene Frau kaum schrecklicher gedacht werden kann. Tausende von Meilen von jedem teilnahmsvollen Herzen entfernt zu sein, sich ohne Geldmittel in dem großen Paris wie in einer wasserlosen Wüste zu finden, in dem ganzen vergangenen Leben nicht eine Erinnerung zu haben, die nicht vergiftet oder befleckt wäre, in der ganzen Zukunft nicht eine einzige Hoffnung vor sich zu sehen, welche über die furchtbare Gegenwart hinweghelfen könnte, – das ist der äußerste Grad des Elends und der Verlassenheit. Indiana versuchte nicht, gegen ein zerrissenes, vernichtetes Leben zu kämpfen, sie ließ Hunger, Fieber und Schmerz über sich ergehen, ohne eine Klage auszustoßen, ohne eine Träne zu vergießen, ohne einen Versuch zu machen, eine Stunde früher zu sterben, eine Stunde weniger zu leiden.

Am Morgen des zweiten Tages fand man sie starr vor Kälte, mit blauen Lippen, aufeinandergepreßten Zähnen und erloschenen Augen am Boden liegen; doch war sie nicht tot. Die Besitzerin des Hauses untersuchte die Schubfächer des Sekretärs, und als sie nur sehr wenig Geld darin fand, überlegte sie, ob sie diese Unbekannte, die gewiß die Kosten einer langwierigen, schweren Krankheit nicht aufbringen konnte, nicht lieber ins Hospital schicken sollte. Doch da sie eine sehr »menschenfreundliche« Frau war, ließ sie die Kranke zu Bette bringen und schickte nach einem Arzt, um zu hören, ob die Krankheit länger als zwei Tage dauern könnte. Es kam einer, den man nicht gerufen hatte.

Als Indiana die Augen öffnete, fand sie ihn an ihrem Bett. Sein Name braucht nicht erst genannt zu werden.

»Ach, bist du es? Bist du es?« rief sie und warf sich an seine Brust. »Du bist mein guter Engel! aber du kommst zu spät, ich kann dich nur noch sterbend segnen.«

»Du wirst nicht sterben, liebe Freundin,« antwortete Ralph bewegt, »das Leben kann dir noch lächeln. Die Gesetze, die sich bisher deinem Glücke entgegenstellten, werden jetzt deiner Neigung keinen Zwang mehr auferlegen. Wohl hätte ich gewünscht, den dämonischen Zauber zu zerstören, mit dem ein Mensch, den ich weder liebe noch achte, dich umgarnt hat; doch das steht nicht mehr in meiner Macht. Das Schicksal, das dich vereinsamt in meine Arme wirft, legt mir gegen dich die Pflichten eines Vormundes und Vaters auf. Ich komme, dir anzukündigen, daß du frei bist und dein Geschick mit dem des Herrn von Ramière vereinigen kannst. Delmare ist nicht mehr.«

Tränen rollten langsam über Ralphs Wangen, während er sprach. Indiana fuhr jäh empor und rang ihre Hände in Verzweiflung.

»Mein Gatte ist tot? Ich habe ihn getötet! Und du sprichst mit mir von Zukunft und Glück, als wenn es dies für ein Herz noch gäbe, das sich verabscheut und verachtet! Wisse denn, Gott ist gerecht und ich bin gerichtet! Herr von Ramière ist verheiratet.«

Sie sank erschöpft in die Arme ihres Vetters. Mehrere Stunden vergingen, ehe beide das Gespräch wieder aufnehmen konnten.

»Dein Bewußtsein ist getrübt,« sagte Ralph in sanftem Tone, »aber du kannst dich beruhigen. Delmare ist aus dem Schlummer nie wieder erwacht, in dem du ihn verließest, er hat deine Flucht nicht erfahren. Ein Schlagfluß hat ihn getroffen.«

»Dann waren die Worte, die er an mich richtete, seine letzten,« sagte Indiana. »Im Augenblick, wo ich ihn für immer verließ, sprach er im Schlafe und sagte: ›Dieser Mensch wird dich verderben.‹ Diese Worte werden hier fortleben,« fügte sie hinzu, indem sie die Hand auf ihr Herz legte.

»Als ich die Kraft hatte, meine Augen und meine Gedanken von dem Toten abzuwenden,« fuhr Ralph fort, »dachte ich an dich; an dich, Indiana, die jetzt frei war. Ich fürchtete die Wirkung einer zu plötzlichen Nachricht auf dich und wartete am Eingange des Hauses, in dem Glauben, du würdest bald von deinem Morgenspaziergang zurückkommen. Ich wartete vergebens. Ich will nicht von meiner Angst, nicht von meinen Nachforschungen, von meinem Schrecken sprechen, als ich Ophelia zerschmettert am Ufer fand, wohin die Wogen sie geworfen hatten. Ach, ich suchte lange in der Befürchtung, deine Leiche auch finden zu müssen, denn ich dachte, du hättest dir den Tod gegeben, und drei Tage glaubte ich, ich hätte nichts mehr zu lieben auf der Erde. Doch bald verbreitete sich in der Kolonie das Gerücht, daß du die Flucht ergriffen hättest. Ein Schiff, das in der Rhede einlief, war im Kanal von Mosambique der Brigg »Eugène« begegnet; die Mannschaft war auf dem Schiff hinübergekommen. Ein Passagier hatte dich erkannt und in weniger als drei Tagen wußte die ganze Insel von deiner Flucht.

Ich verschone dich mit den abgeschmackten und kränkenden Gerüchten, zu denen das Zusammentreffen deiner Flucht mit dem Tode deines Gatten Anlaß gab. Mir blieb auf Erden nur noch die einzige Pflicht zu erfüllen, dir Hilfe zu bringen, wenn du sie brauchtest. Ich reiste kurze Zeit nach dir ab; aber die Überfahrt war sehr stürmisch und erst seit acht Tagen bin ich in Frankreich. Mein erster Gedanke war, zu Herrn von Ramière zu eilen, um mich nach dir zu erkundigen. Aber der Zufall führte mich mit seinem Diener zusammen, der dich eben hieher gebracht hatte. Ich fragte ihn nur nach deiner Wohnung und kam in der Überzeugung hierher, dich nicht allein zu finden.«

»Allein! Allein! Schändlich verlassen!« rief Indiana. »Aber sprechen wir nicht mehr von diesem Menschen! sprechen wir niemals mehr von ihm! Ich kann ihn nicht mehr lieben, denn ich verachte ihn; aber ich will auch nicht daran erinnert werden, daß ich ihn geliebt habe, das hieße, auf meine letzten Augenblicke Schande und Vorwürfe häufen. O, sei mein tröstender Engel, du, der in allen schweren Stunden meines verfehlten Lebens mir die Freundeshand reichte. Erfülle erbarmenvoll deine letzte Sendung, sprich Worte der Zärtlichkeit und der Verzeihung, damit ich ruhig sterbe.«

Sie hoffte wirklich, zu sterben; aber der Kummer stählt die Lebenskraft. Indiana war nicht einmal gefährlich krank, sondern versank nur in einen Zustand völliger Gleichgültigkeit.

Ralph suchte sie zu zerstreuen; er führte sie nach Touraine und umgab sie mit allen Annehmlichkeiten des Lebens. Als er aber alle Hilfsmittel erschöpft hatte, ohne daß er auf diesem düsteren, gleichgültigen Gesicht einen schwachen Strahl der Heiterkeit hervorlocken konnte, beklagte er die Ohnmacht seiner Tröstungen und warf sich bitter vor, wie ungeschickt er in seiner Liebe sei.

Eines Tages fand er sie niedergeschlagener als je. Er wagte nicht, mit ihr zu sprechen, und setzte sich in traurigem Schweigen zu ihr. Da sagte Indiana, zärtlich seine Hand drückend:

»Ich tue dir sehr weh, armer Ralph, und du mußt viel Geduld mit mir haben. Die unsinnigste Anforderung könnte von der Freundschaft nicht mehr verlangen, als du für mich getan hast. Jetzt überlaß mich meinem Schicksal und beflecke dein reines, heiliges Leben nicht durch die Berührung mit einem verfluchten. Suche anderwärts das Glück, das in meiner Nähe nicht zu finden ist.«

»Ich gebe es wirklich auf, dich zu heilen, Indiana,« antwortete er, »aber ich werde dich nie verlassen, selbst wenn du mir sagst, daß ich dir lästig bin, denn du bedarfst noch der Pflege. Doch höre mich. Ich habe dir ein Heilmittel vorzuschlagen, das ich für das äußerste Unglück aufgespart habe, das aber untrüglich ist.«

»Ich kenne nur ein Mittel gegen den Kummer,« antwortete sie, »es ist Vergessenheit. Wenn mein Wille allein ausreichte, dir für deine Aufopferung dankbar zu sein, so wäre ich schon jetzt heiter und ruhig, wie in den Tagen unserer Kindheit. Glaube mir, Freund, ich finde keine Lust daran, mein Übel selbst zu nähren und meine Wunde offenzuhalten; weiß ich denn nicht, daß alle meine Leiden auf dich zurückfallen? Ach, ich möchte vergessen, genesen können, aber ich bin nur eine schwache Frau, Ralph, sei geduldig und halte mich nicht für undankbar.«

Sie brach in Tränen aus.

»Höre mich an, teure Indiana,« entgegnete Ralph, ihre Hand ergreifend, »das Vergessen steht nicht in unserer Macht; ich kann geduldig leiden, aber dich leiden zu sehen, geht über meine Kräfte. Warum aber wollen wir gegen ein eisernes Geschick ankämpfen? Der Gott, den wir, du und ich, anbeten, hat den Menschen nicht zu so viel Elend bestimmt, ohne den Trieb in ihn zu legen, sich diesem Elend zu entziehen. Hierin liegt das Mittel gegen alle Leiden, und dieses Mittel ist der Selbstmord.«

»Schon oft fühlte ich mich dazu versucht,« antwortete Indiana nach kurzem Stillschweigen, »aber ein frommes Bedenken hielt mich davon zurück. Inzwischen hat mich das Unglück eine andere Religion gelehrt, als die, welche Menschen lehren. Als du zu mir kamst, war ich entschlossen, Hungers zu sterben, aber du batest mich, zu leben, und ich hatte das Recht nicht, dir dieses Opfer zu verweigern. Jetzt hält mich nur noch dein Leben, deine Zukunft, was sollst du allein auf der Erde, armer Ralph? Aber ich werde vielleicht genesen. Ja, Ralph, ich werde das Mögliche tun. Gedulde dich nur noch ein wenig, bald vielleicht werde ich lächeln können; ich will wieder ruhig und heiter werden, um dir dieses Leben zu widmen, das du dem Unglück abgerungen hast.«

»Nein, liebe Freundin,« erwiderte Ralph, »ich werde ein solches Opfer nie annehmen, warum solltest du dich an eine verhaßte Zukunft ketten? Nur, um sie mir angenehm zu machen? Glaubst du, ich wäre fähig, sie zu genießen, wenn ich fühle, daß dein Herz keinen Anteil daran nimmt? Nein, bis zu diesem Grade bin ich nicht Egoist. Seit langer Zeit schon bin ich des Lebens überdrüssig, ich habe nicht mehr die Kraft, es ohne Bitterkeit und ohne Gottlosigkeit zu ertragen, verlassen wir es gemeinsam, Indiana, kehren wir zu Gott zurück, der uns in dieses Land der Prüfung, in dieses Tal der Tränen verbannt hat, aber uns gewiß nicht verstoßen wird, wenn wir wund und zerschlagen seine Gnade, sein Mitleid anflehen. Die Taufe des Unglücks hat unsere Seelen hinreichend geläutert; geben wir sie dem zurück, der sie uns geschenkt hat.«

Dieser Gedanke beschäftigte Ralph und Indiana mehrere Tage und nach Verlauf derselben beschlossen sie, sich gemeinsam den Tod zu geben, es handelte sich jetzt nur noch darum, auf welche Art.

»Das ist eine wichtige Frage,« sagte Ralph; »doch habe ich schon daran gedacht, was wir begehen wollen, ist nicht die Eingebung einer augenblicklichen Geistesverwirrung, sondern eine wohlüberlegte Tat. Wir müssen sie mit der Sammlung vollziehen, wie der Katholik die Sakramente begeht. Für uns ist das Weltall der Tempel, wo wir Gott verehren. Hier, in diesem von lasterhaften Menschen wimmelnden Lande, im Schoße dieser Zivilisation, welche Gott leugnet oder ihn verketzert, würde ich mich stets beengt, zerstreut und niedergedrückt fühlen. Ich möchte freudig sterben, mit heiterer Stirn, die Augen zum Himmel erhoben. Ich will dir den Ort nennen, wo der Selbstmord mir in seiner edelsten, erhabensten Gestalt erschienen ist. Am Rande eines Abgrundes auf der Insel Bourbon, oberhalb jenes Wasserfalles, welcher sich durchsichtig in die einsame Schlucht von Bernica hinabstürzt, dort haben wir die seligsten Stunden unserer Kindheit zugebracht; dort habe ich später die bittersten Kümmernisse meines Lebens beweint; dort habe ich beten gelernt; dort möchte ich mich in einer jener schönen Nächte unseres Klimas in das reine Gewässer stürzen und in das frische, blumengeschmückte Grab steigen, welches aus der Tiefe des grünenden Schlundes heraufwinkt.«

»Ich willige ein,« antwortete Indiana, ihre Hand in die Ralphs legend. »Stets hat mich seit dem Tode meiner armen Noun eine unbesiegliche Macht zum Wasser hingezogen. Wie sie zu sterben, wäre die Buße für ihren Tod, den ich verschuldet habe.«

»Und dann,« sagte Ralph, »eine Seereise ist die beste Vorbereitung. Losgerissen von der ganzen Welt, immer bereit, furchtlos das Leben zu verlassen, werden wir mit entzücktem Auge dem Schauspiele der entfesselten Elemente zusehen. Komm, Indiana, schütteln wir den Staub dieses undankbaren Landes von unseren Füßen. Hier unter Raymons Augen sterben, das würde wie eine kleinliche, feige Rache erscheinen. Überlassen wir es Gott, diesen Menschen zu züchtigen, bitten wir ihn lieber, diesem undankbaren, vertrockneten Herzen die Schätze seines Erbarmens zu öffnen.«

Sie reisten ab. Die Goélette »La Nahandove« trug sie schnell und leicht in ihr bereits zweimal verlassenes Vaterland. Nie war eine Überfahrt glücklicher. Es schien, ein günstiger Wind sei gesandt, um diese beiden so lange auf den Klippen des Lebens herumgeworfenen Unglücklichen in den Hafen der Ruhe zu bringen, während der dreimonatlichen Fahrt befestigte die stärkende Seeluft Indianas geschwächte Gesundheit; die Ruhe zog wieder in ihr gequältes Herz. Sie vergaß ihr vergangenes Leben, ihre Stirn wurde wieder heiter und ein Strahl der Gottheit schien in ihre blauen, fast melancholischen Augen übergegangen zu sein.

Eine ähnliche Veränderung ging in Ralphs innerem und äußerem Wesen vor; dieselben Ursachen hatten bei ihm fast dieselben Wirkungen. Sein schon lange im Schmerz erkaltetes Herz erwärmte sich in der belebenden Glut der Hoffnung. Seine Worte nahmen das treue Gepräge seiner Gefühle an und erst jetzt lernte Indiana seinen wahren Charakter kennen. Die heilige, kindliche Vertraulichkeit, die sie einander näher brachte, nahm dem einen seine peinliche Schüchternheit, der anderen ihre ungerechten Vorurteile. Zu gleicher Zeit schwand in Indiana die schmerzliche Erinnerung an Raymon, sie erblich vor Ralphs bisher ungekannten Tugenden, vor seiner erhabenen Reinheit. Je mehr Ralph in Indianas Augen wuchs, desto tiefer sank Raymon in ihrer Meinung, bis endlich die fortdauernde Vergleichung dieser beiden Männer jede Spur ihrer blinden, unglücklichen Liebe in ihrem Herzen vernichtet hatte.



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