George Sand
Indiana
George Sand

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunzehntes Kapitel.

Indiana machte Raymon keine Vorwürfe mehr, seit sie gefunden hatte, daß er sich nur lau verteidigte. Mehr noch als eine Erkaltung seiner Liebe, fürchtete sie, von ihm verlassen zu werden. Sie konnte nicht mehr leben ohne die Hoffnung auf die Zukunft, die er ihr versprochen hatte, denn das Leben mit ihrem Gatten und Ralph war ihr verhaßt geworden, und wenn sie nicht darauf hätte rechnen dürfen, der Herrschaft dieser beiden Männer bald entzogen zu werden, so würde auch sie sich ins Wasser gestürzt haben. Sie dachte oft daran; wenn Raymon sie wie Noun behandle, sagte sie sich, so bliebe ihr kein anderes Mittel, einer unerträglichen Zukunft zu entgehen, als Noun nachzueilen.

Die zur Abreise festgesetzte Zeit näherte sich. Der Oberst schien an einen Widerstand seiner Frau kaum ernstlich zu denken und ordnete seine Angelegenheiten. Alle diese Vorbereitungen beobachtete Indiana mit größter Ruhe, denn ihr Entschluß stand fest. Sie suchte im voraus an ihrer Tante, der Frau von Carvajal, einen Schutz zu finden, sie gestand ihr ihren Widerwillen gegen diese Reise, und die alte Marquise, welche, obgleich in allen Ehren, in der Schönheit ihrer Nichte eine Anziehungskraft für ihre Gesellschaftsabende sah, erklärte, es sei des Obersten Schuldigkeit, seine Gattin in Frankreich zu lassen, es grenze an Barbarei, sie bei ihrer zarten Gesundheit den Strapazen einer Seereise auszusetzen. Herr Delmare betrachtete diese Andeutungen als leeres Geschwätz, und auch als sie durchblicken ließ, daß Indiana ihre Erbin nur werden würde, wenn sie hier bleibe, blieb er fest.

Raymon kümmerte sich nicht mehr darum, was aus Indiana werden würde; diese Liebe war ihm völlig zur Pein geworden, ohne daß sie es ahnte.

Eines Morgens, als er von einem Balle nach Hause kam, fand er Frau Delmare in seiner Wohnung. Sie war um Mitternacht gekommen und erwartete ihn seit fünf langen Stunden im ungeheizten Zimmer. Den Kopf in ihre Hand gestützt, saß sie mit jener düsteren Geduld da, welche das Leben sie gelehrt hatte. Als Raymon eintrat, erhob sie den Kopf; in ihrem bleichen Gesicht war weder ein Ausdruck des Unmutes noch des Vorwurfes zu entdecken.

»Ich erwartete dich,« redete sie ihn sanft an. »Da du seit drei Tagen nicht zu mir gekommen bist, und in dieser Zwischenzeit Dinge vorgegangen sind, die du unverzüglich wissen mußt, so bin ich um Mitternacht fortgegangen, um dich davon in Kenntnis zu setzen.«

»Das ist eine unverzeihliche Unklugheit,« erwiderte Raymon, indem er sorgfältig die Tür hinter sich schloß; »und meine Diener wissen, daß du hier bist, sie haben es mir gesagt.«

»Lassen wir das,« entgegnete sie kalt, »Höre, was ich dir zu sagen habe. Herr Delmare will in drei Tagen nach Bordeaux und von da nach den Kolonien abreisen. Du hast mir versprochen, mich vor Gewalt zu schützen; daß es so weit kommen wird, ist außer Zweifel. Ich habe mich gestern abend erklärt, daraufhin schloß Herr Delmare mich in mein Zimmer ein. Ich bin durch ein Fenster entschlüpft, sieh, meine Hände sind noch blutig. In diesem Augenblick sucht man mich vielleicht; Ralph könnte vermuten, wo ich bin, aber er ist in Bellerive. Ich bin entschlossen, mich zu verbergen, bis Herr Delmare sich darein ergeben hat, ohne mich zu reisen. Hast du daran gedacht, mir einen Zufluchtsort zu sichern? Seit so langer Zeit habe ich dich nicht allein sprechen können, daß ich nicht weiß, wie weit du mit deinen Vorbereitungen bist. Mit Ergebung ertrug ich die Kürze deiner Besuche, den Zwang in unserer Unterhaltung, die Vorsicht, womit du jedes vertraulichere Gespräch mit mir zu vermeiden suchtest. Dennoch hat mein Vertrauen zu dir keinen Augenblick gewankt. Heute will ich mir den Lohn für mein Vertrauen holen; der Augenblick ist gekommen; sprich, nimmst du mein Opfer an?«

Es war keine Zeit mehr, die Täuschung aufrecht zu erhalten, Raymon war wütend, sich in seiner eigenen Schlinge gefangen zu sehen.

»Du bist wahnsinnig!« rief er, sich in seinen Lehnstuhl werfend. »In welchem Roman für Kammerzofen hast du deine gesellschaftlichen Studien gemacht?«

Er schwieg, da er fühlte, er sei zu ungestüm.

Indiana war ruhig, wie jemand, der sich auf das Schlimmste gefaßt macht.

»Fahre fort,« sagte sie, ihre Arme über ihrer Brust kreuzend.

»Nie, nie werde ich solche Opfer annehmen!« rief Raymon, sich lebhaft erhebend. »Als ich dir sagte, Indiana, daß ich die Kraft dazu haben würde, habe ich mich selbst verleumdet; denn nur ein Nichtswürdiger kann seine Hand dazu bieten, die Frau, welche er liebt, der Schande preiszugeben. Bei deiner Unbekanntschaft mit der Welt hast du die Folgen eines solchen Schrittes nicht erwogen. Könntest du, einfaches, unwissendes Weib, mich noch lieben, wenn ich deinen Ruf, dein Leben meinem Vergnügen opfern wollte?«

»Du widersprichst dir selbst,« sagte Indiana. »Wenn ich dich glücklich mache, indem ich dir ganz angehöre, was fürchtest du die öffentliche Meinung? Liegt dir mehr an ihr, als an mir?«

»Ach, nicht meinetwegen lege ich einen Wert darauf.«

»Also meinetwegen? Ich habe diese Bedenklichkeiten vorausgesehen, und um dich vor jedem Vorwurf zu schützen, habe ich den entscheidenden Schritt selbst getan und es nicht erst darauf ankommen lassen, von dir entführt zu werden. Dich kann also kein Vorwurf treffen. In diesem Augenblick, Raymon, bin ich bereits entehrt; obgleich der erwachende Tag meine Stirn so rein findet, als sie es gestern war, so bin ich jetzt doch in der öffentlichen Meinung ein verlorenes Weib, Das alles habe ich erwogen, ehe ich handelte.«

»Abscheuliche Berechnung eines Weibes!« dachte Raymon. Dann sagte er mit schmeichelndem väterlichen Tone:

»Du überschätzest die Wichtigkeit deines Schrittes. Nein, liebe Freundin, einer Unbedachtsamkeit wegen ist noch nicht alles verloren. Ich werde dafür sorgen, daß meine Dienerschaft reinen Mund hält . . .«

»Und etwa auch die meinige, die in diesem Augenblick wahrscheinlich mich ängstlich sucht? Und mein Gatte? Denkst du, er werde mich morgen wieder bei sich aufnehmen wollen, nachdem ich eine Nacht unter deinem Dache zugebracht habe? Könntest du mir wirklich raten, zu ihm zurückzukehren und ihn fußfällig zu bitten, mich als Zeichen seiner Gnade noch einmal an die Kette zu schmieden, unter deren Last bereits meine Jugend verwelkte und mein Leben hinschmachtete? Könntest du ohne Gewissensbisse eine Frau diesem Schicksal preisgeben, die sich unter deinen Schutz flüchtet, um dir für ein ganzes Leben anzugehören?«

Raymon dachte auf ein Mittel, sich von dieser lästigen Treue zu befreien oder einen Vorteil daraus zu ziehen.

»Du hast recht, Indiana,« rief er mit Feuer, »du gibst mich mir selbst wieder. Verzeihe meiner kindischen Sorge und bedenke, daß nur meine Liebe zu dir sie mir eingegeben hat. Verzeihe, daß ich an etwas anderes denken konnte, als an das unaussprechbare Glück, dich zu besitzen. Laß mich alle Gefahren vergessen, die uns bedrohen, laß mich in dieser Stunde ganz in dem Glücke schwelgen, daß ich dir zu Füßen liege und dich besitze. Mag doch dein Gatte kommen und dich meinen Armen entreißen wollen, dich, mein Glück, mein Leben. Von jetzt an gehörst du ihm nicht mehr, du bist meine Freundin, meine Geliebte, meine Gebieterin.«

Raymon verschwendete nun alle Lockungen einer glühenden Beredsamkeit. Er war wirklich hinreißend in seiner Sprache. Er redete sich in eine Leidenschaft hinein, um sich selbst zu betrügen. Und das verblendete, leichtgläubige Weib hörte mit Entzücken auf diese trügerischen Deklamationen, sie fühlte sich glücklich, sie strahlte von Hoffnung und Freude; sie verzieh alles.

Da erhob sich der Tag sonnig und glänzend, er warf Ströme des Lichtes in das Zimmer und das Geräusch auf der Straße nahm mit jeder Sekunde zu. Raymon warf einen Blick auf die Uhr, welche die siebente Stunde anzeigte.

»Es ist Zeit, zu Ende zu kommen,« dachte er, »jeden Augenblick kann Delmare erscheinen. Ich muß sie zu überreden suchen, gutwillig nach Hause zurückzukehren.«

Er wurde dringender, in seinen Küssen lag fast zorniger Ungestüm. Indiana fühlte sich von Furcht ergriffen. Ein guter Engel breitete seine Flügel über dieses wankende und verirrte Herz. Sie erwachte und wies die Angriffe des selbstsüchtigen und feigen Lüstlings zurück.

»Laß mich,« sagte sie. »Du brauchst unmöglich neue Beweise meiner Zärtlichkeit, meine Gegenwart hier ist schon ein sehr großer. Aber laß mich die Kraft meines Gewissens bewahren, um gegen die mächtigen Hindernisse zu kämpfen, die uns noch trennen.«

»Wovon sprichst du?« fragte Raymon, aufgebracht und durch ihren Widerstand erbittert. Alle Besinnung verlierend, stieß er sie roh zurück. Dann ging er mit heftigen Schritten im Zimmer auf und ab, ergriff eine Wasserflasche und stürzte ein großes Glas Wasser hinunter, welches seine Aufregung dämpfte.

»Jetzt, gnädige Frau, ist es Zeit, sich zu entfernen,« sagte er spöttisch.

Ein Strahl des Lichtes erleuchtete endlich Indiana und zeigte ihr Raymons Charakter unverhüllt.

»Sie haben recht,« sagte sie und wandte sich der Tür zu.

»Nehmen Sie doch Ihren Mantel und Ihre Boa mit!« rief er.

»Es ist wahr,« erwiderte sie, »diese Spuren meiner Gegenwart könnten Sie kompromittieren.«

»Sie sind ein Kind,« sagte er in leichtem, scherzendem Tone, indem er ihr mit lächerlicher Sorgfalt den Mantel umhing. »Warten Sie, ich werde Ihnen einen Wagen besorgen. Wenn ich könnte, würde ich Sie selbst nach Hause bringen, aber das hieße nur, Sie ins Unglück stürzen.«

»Und glauben Sie nicht, daß ich schon verloren bin?« sagte sie mit Bitterkeit.

»Nein, Geliebte,« erwiderte Raymon, dem jetzt nur noch daran gelegen war, daß sie ihn in Ruhe ließ. »Sie brauchen ja nur vorzugeben, bei Ihrer Tante Schutz gesucht zu haben; sie wird alles ausgleichen. Man wird glauben, Sie hätten die Nacht bei ihr zugebracht.«

Frau Delmare hörte ihn nicht. Mit gedankenlosem Blick sah sie die Sonne groß und rot über einen Horizont von glänzenden Dächern emporsteigen. Raymon versuchte, sie aus dieser Starre zu wecken. Sie wandte ihre Augen auf ihn, schien ihn aber nicht zu erkennen. Ihre Wangen hatten eine grünliche Farbe und ihre Zunge schien gelähmt.

Raymon ward von Furcht erfaßt. Er gedachte des Selbstmordes der anderen. Vor dem Gedanken zurückschaudernd, zum zweitenmal zum Verbrecher zu werden, führte er Indiana sanft zu seinem Lehnstuhl, schloß sie ein und begab sich nach der Wohnung seiner Mutter hinauf.



 << zurück weiter >>