George Sand
Indiana
George Sand

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Dreizehntes Kapitel.

Als die Spürhunde losgelassen waren, belebten sich Indianas Augen und Wangen, ihre Brust hob sich unter heftigen Atemzügen und plötzlich war sie von Raymons Seite verschwunden. Raymon wußte nicht, daß die Jagd die einzige Leidenschaft war, welche Ralph und Indiana miteinander teilten. Er ahnte ebensowenig, daß in diesem gebrechlichen und zarten Weibe ein mehr als männlicher Mut wohnte, jene phantastische Unerschrockenheit, welche zuweilen, gleich einem Nervenkrampfe, in dem schwächsten Wesen mächtig erwacht.

Mit Entsetzen sah Raymon sie dahinfliegen, kühn in das Dickicht eindringen, ohne Zaudern über Gräben setzen, ohne Furcht, ihre schwachen Glieder zu brechen, sondern nur darauf bedacht, als erste auf die Spur des Ebers zu gelangen. Raymon begann sich vor der Kühnheit und Hartnäckigkeit zu fürchten, die ein so unerschrockener Geist in der Liebe ahnen ließ.

»Wenn sich ihr Wille ebenso ungestüm an mich kettet, wie sie der Spur des Ebers folgt,« dachte er, »wenn die Gesellschaft für sie keine Schranken, die Gesetze keine Kraft haben, dann unterliege ich meinem Geschick und opfere meine Zukunft auf.«

Rufe des Entsetzens und der Angst, unter denen sich auch die Stimme Indianas unterscheiden ließ, weckten Raymon aus seinem Nachdenken. Erschrocken gab er seinem Pferde die Sporen und befand sich bald bei Sir Ralph, der ihn fragte, ob er die Hilferufe gehört hätte.

In demselben Augenblick stürzten ihnen mehrere Jägerburschen entgegen und aus ihren verworrenen Durcheinanderreden schien hervorzugehen, daß der Eber sich gegen Frau Delmare gewendet und sie zu Boden geworfen hätte. Andere kamen hinzu und riefen Sir Ralph zu Hilfe. »Aller Beistand ist vergebens,« sagte einer, der zuletzt kam, »da ist keine Hoffnung mehr, jede Hilfe kommt zu spät.«

In diesem Augenblick des Schreckens fiel Raymons Auge auf das totenbleiche Gesicht Sir Ralphs. Er schrie nicht, er rang nicht die Hände; er griff nur nach seinem Jagdmesser und wollte sich dieses mit einer wahrhaft britischen Kaltblütigkeit ins Herz stoßen, als Raymon ihm die Waffe entriß und ihn nach dem Orte zog, woher das Geschrei kam.

Ralph schien aus einem Traume zu erwachen, als er Frau Delmare auf sich zueilen sah, ihn zu bitten, ihrem Gatten zu Hilfe zu kommen. Der Oberst lag wie leblos auf der Erde. Ralph öffnete ihm rasch eine Ader, denn er hatte sich bald überzeugt, daß er nicht tot war, sondern nur den Schenkel gebrochen hatte. Er wurde ins Schloß getragen.

Man hatte nur infolge eines Irrtums Frau Delmares Namen genannt, vielleicht auch hatten Ralph und Raymon im Augenblick der Verwirrung den Namen zu hören geglaubt, der sie am meisten interessierte.

Indiana war nicht verwundet, aber Schrecken und Bestürzung raubten ihr fast die Kraft, zu gehen. Raymon stützte sie mit seinen Armen und versöhnte sich wieder mit ihrem weiblichen Herzen, da er sah, wie schmerzlich sie von dem Unglück ihres Gatten ergriffen war, dem sie doch so viel zu verzeihen hatte.

In jenem Augenblicke, wo Sir Ralph sich hatte töten wollen, hatte Raymon erkannt, wie groß dessen Liebe zu seiner Cousine war und wie wenig sie durch die zum Oberst im Gleichgewicht gehalten wurde. Diese Beobachtung, welche der Meinung Indianas geradezu widersprach, haftete fester in Raymon als im Gedächtnis der übrigen Zeugen dieser Szene. Doch sprach er mit Indiana niemals von Ralphs Selbstmordversuch.

Erst nach sechs Wochen konnte man den Obersten nach Lagny bringen, und dann verstrichen noch mehr als sechs Monate, ehe er wieder zu gehen vermochte. Seine Frau pflegte ihn mit der zartesten Sorgfalt; sie verließ ihren Platz am Krankenbett nicht und ertrug ohne Klagen seine Launen und soldatischen Zornesausbrüche. Und dabei erblühte sie in frischer Gesundheit und in ihrem Herzen zog das Glück ein. Raymon liebte sie wirklich. Er kam alle Tage, ertrug die Schwächen ihres Mannes, die Kälte ihres Vetters, den Zwang dieser Zusammenkünfte. Ein Blick von ihm goß für einen ganzen Tag Freude in Indianas Herz, Sie dachte nicht mehr daran, ihr Leben zu beklagen.

Unmerklich faßte der Oberst Freundschaft für Raymon. Er schrieb diese häufigen Besuche auf seine eigene Rechnung, indem er sie als Beweise der Teilnahme an seiner Gesundheit betrachtete. Auch Frau von Ramière kam zuweilen und Indiana schloß sich ihr mit ganzem Herzen an.

Bei diesem fortdauernden engen Beisammensein sahen sich Raymon und Ralph zu einer gewissen nahezu vertraulichen Annäherung gezwungen, aber lieben konnten sie sich nicht. Ihre Ansichten wichen in allem wesentlichen voneinander ab, sie hatten nichts Gemeinsames, worin ihre Gefühle übereinstimmten, und wenn sie beide Frau Delmare liebten, so geschah dies auf so verschiedene Weise, daß dieses Gefühl sie mehr trennte, als einander näher brachte. Indiana überließ sich mit dem ganzen Vertrauen ihrer Jugend der Hoffnung auf eine heitere Zukunft. Es war ihr erstes Glück und ihre glühende Phantasie, ihr weiches Herz wußte es mit allem zu schmücken, was ihm noch fehlte. Raymon log nicht, als er sagte, sie sei die einzige Liebe seines Lebens; er hatte nie, weder so rein noch so ausdauernd geliebt. Bei Indiana vergaß er alles, er gefiel sich in diesem traulichen Familienzirkel, in diesen freundlichen Beziehungen, die sie schuf. Er bewunderte die Geduld und die Kraft dieser Frau; er staunte über die Gegensätze ihres Geistes und ihres Charakters. Er staunte besonders, daß Indiana, nachdem sie jenen so ernsten und feierlichen Bund mit ihm geschlossen, seine ganze Hingabe, sein völliges selbstloses Aufgehen in ihr fordernd, so wenig Ansprüche machte, mit dem verstohlenen Glücke zufrieden war und ihm blind vertraute. Die Liebe war für ihr Herz eine neue und edle Leidenschaft, tausend zarte und edle Gefühle knüpften sich immer von neuem daran und gaben ihr eine Kraft, welche Raymon nicht fassen konnte.

Er selbst war anfangs von der ewigen Gegenwart ihres Gatten oder ihres Vetters unangenehm berührt. Aber bald zwang ihn Indiana, sich dieser fortdauernden Aufsicht zu fügen. Das Gefühl des Glückes, welches ihr verstohlener Blick ihm bezeugte, die beredte und stumme Sprache ihrer Augen, ihr Lächeln, wenn das Gespräch durch eine plötzliche Anspielung ihre Herzen berührte, – das alles waren bald zarte und köstliche Freuden, welche Raymon dank seinem Zartgefühl und seiner trefflichen Erziehung zu schätzen wußte.

Wenn er sich zufällig mit Indiana allein befand, belebten sich ihre Wangen nicht mit einem höheren Rot, sie wendete ihre Blicke nicht verlegen ab. Nein, ihre klaren, ruhigen Augen betrachteten ihn stets mit unbefangenem Entzücken; das engelgleiche Lächeln ruhte immer auf ihren rosigen Lippen wie bei einem kleinen Mädchen, das noch nichts kennt, als die Küsse seiner Mutter. Wenn Raymon sie so vertrauensvoll, so leidenschaftlich, so rein sah, nur dem keuschen Bedürfnisse des Herzens lebend, wenn er zu ihren Füßen lag, dann wagte Raymon nicht mehr Mensch zu sein, in der Besorgnis, die ideale Vorstellung, welche sie sich von ihm gebildet hatte, zu zerstören. Aus Eigenliebe wurde er tugendhaft wie sie.

Aber einen gab es in diesem Familienkreise, dessen Glück völlig zerstört wurde, und das war Ralph. Für ihn hatte das Leben nie glänzende Aussichten, nie reine, innige Freuden gehabt; für ihn war es ohne Poesie, ohne Interesse, ohne Freundschaft, ohne Liebe. Er hatte Vater und Mutter gehabt, einen Bruder, eine Gattin, einen Sohn, eine Freundin, und doch hatte er von all diesen Familienbanden nichts gewonnen, nichts behalten, er war ein Fremdling im Leben, welches traurig und ungekannt hinfloß und ihm nicht einmal jenes versöhnende Gefühl seines Unglücks gab, das selbst im Schmerze Reize findet.

Trotz seiner Charakterstärke fühlte er sich zuweilen seiner Tugend überdrüssig. Er haßte Raymon und hätte nur ein einziges Wort zu sprechen gebraucht, um ihn aus Lagny zu vertreiben; aber er sprach es nicht, denn Ralph hatte einen Glauben, der stärker war als die tausend Glaubensartikel Raymons, – dieser Glaube war sein Gewissen.

In seiner Einsamkeit hatte er sich einen Freund aus seinem eigenen Herzen gemacht. Immer in sich verschlossen, immer in sich die Ursache der Ungerechtigkeit erforschend, die er von anderen dulden mußte, war er zu der Gewißheit gelangt, daß er keine Fehler an sich hatte, welche die Welt zu ihrem harten Urteil über ihn berechtigen konnten. Sein Herz sagte ihm, daß er fähig sei, für andere alles zu empfinden, was er anderen nicht für sich einflößen konnte, und wenn er geneigt war, anderen alles zu verzeihen, so war er auch entschlossen, gegen sich selbst keine Nachsicht zu üben. Dieses ganz innerliche Leben, diese in sich verschlossenen Gefühle gaben ihm allen Anschein des Egoismus und diesem gleicht vielleicht nichts mehr, als die Selbstachtung.

Doch wie es oft geschieht, daß, wenn wir etwas zu gut machen wollen, wir es weniger gut machen, so geschah es auch, daß Sir Ralph aus allzugroßem Zartgefühl und aus Besorgnis, sein Gewissen mit einem Vorwurf zu belasten, gegen Indiana ein Unrecht beging, das nie gesühnt werden konnte. Dieser Fehler bestand darin, daß er ihr die wahre Ursache von Nouns Tode nicht aufklärte. Ohne Zweifel hätte sie dann die Gefahren ihrer Liebe zu Raymon erkennen müssen. Wir werden aber später sehen, welche peinliche Bedenklichkeiten Ralph bewogen, über einen so wichtigen Punkt zu schweigen. Als er sich entschloß, das Schweigen zu brechen, war Raymons Herrschaft bereits befestigt.

Ein unerwartetes Ereignis bedrohte die Zukunft des Obersten und seiner Gattin. Ein belgisches Handelshaus, auf welchem Delmares geschäftliche Existenz beruhte, hatte plötzlich Bankerott gemacht und der Oberst mußte, kaum hergestellt, schleunigst nach Antwerpen abreisen.

Da er noch schwach und leidend war, wollte Indiana ihn begleiten; aber Herr Delmare, der mit völligem Ruin bedroht und entschlossen war, allen seinen Verbindlichkeiten nachzukommen, fürchtete, seine Reise möchte den Anschein einer Flucht bekommen, und gleichsam als Garantie seiner Rückkehr wollte er seine Frau in Lagny lassen. Er weigerte sich sogar, Sir Ralph mitzunehmen, sondern bat ihn, zu Indianas Schutz zurückzubleiben, im Fall sie von ängstlichen Gläubigern gedrängt werden sollte.

Mitten unter diesen trüben Verhältnissen quälte Indiana nur die Möglichkeit, Lagny verlassen und sich von Raymon trennen zu müssen; doch er beruhigte sie, indem er versicherte, daß der Oberst in diesem Falle ohne Zweifel nach Paris ziehen würde. Er schwor ihr übrigens, ihr überall hin zu folgen, unter welchem Vorwande es auch sei, und die leichtgläubige Frau pries das ihren Gatten betroffene Unglück als ein Glück, da es ihr Gelegenheit gab, Raymons Liebe auf die Probe zu stellen. Er dagegen dachte nur an das Glück, seit sechs Monaten zum erstenmal wieder Gelegenheit zu haben, mit Indiana allein zu sein. In dieser Erwartung fand er sich jedoch ein wenig getäuscht, denn Ralph, der es mit der Stellvertretung des Obersten sehr gewissenhaft nahm, hielt sich vom Morgen an in Lagny auf und kehrte erst am Abend nach Bellerive zurück. Da er und Raymon eine Strecke den gleichen Weg hatten, so trieb Ralph seine Höflichkeit so weit, sich abends beim Aufbruch stets nach Raymon zu richten. Dieser Zwang wurde Raymon bald verhaßt und Indiana glaubte darin nicht allein ein beleidigendes Mißtrauen gegen sich, sondern auch die Absicht zu erblicken, sich eine despotische Macht über ihre Freiheit anzumaßen.

Acht Tage waren bereits seit der Abreise des Obersten verstrichen; er konnte bald zurück sein. Raymon mußte die Gelegenheit benützen; sich für besiegt von Sir Ralph zu erkennen, war eine Schmach für ihn. Eines Morgens ließ er folgenden Brief in Frau Delmares Hand gleiten:

»Indiana! Ich bin unglücklich und Sie sehen es nicht. Ich bin über Ihre Zukunft, nicht über die meinige, traurig und unruhig, denn wo Sie auch sein mögen, werde ich leben und sterben. Aber, wie sollten Sie, schwach und hinfällig, wie Sie sind, Entbehrungen ertragen? Sie haben einen reichen und freigebigen Cousin, Ihr Gatte wird vielleicht von seiner Hand annehmen, was er von der meinigen ausschlägt, und ich, ich kann nichts für Sie tun.

Durch ein unbegreifliches Mißgeschick ist mir während der Tage, welche ich frei zu Ihren Füßen zuzubringen hoffte, ein peinlicher Zwang auferlegt worden.

Sprechen Sie nur ein Wort, Indiana, damit wir wenigstens eine Stunde allein sein und ich Ihnen alles sagen könne, was mich quält.

Und dann, Indiana, habe ich eine kindische Laune, die Laune eines Verliebten: ich möchte an der Stelle, wo ich Sie so zornig gegen mich sehen mußte, mich vor Ihnen niederwerfen und Dich bitten, Deine Hand auf mein Herz zu legen, und es von seinem Verbrechen zu reinigen und ihm all Dein Vertrauen zu schenken, wenn Du mich Deiner würdig findest. Ach ja! ich möchte Dir beweisen, daß ich Dir eine reinere, heiligere Verehrung weihe, als je ein junges Mädchen ihrer Madonna weihte! An Deine Brust gelehnt, möchte ich eine Stunde lang das Leben der Engel genießen. Indiana, nur eine Stunde, die erste, vielleicht die letzte! Ich werde unserem Vertrage treu bleiben, das schwöre ich Dir. Grausame, willst Du mir nichts gewähren? Hast Du denn Furcht vor mir?«

Frau Delmare ging in ihr Zimmer hinauf, um diesen Brief zu lesen, beantwortete ihn sogleich und steckte Herrn von Ramière die Antwort mit einem Parkschlüssel zu, den er nur zu wohl kannte.

»Ich Dich fürchten, Raymon! O nein, jetzt nicht. Ich weiß zu gut, wie Du mich liebst, wenn ich Dich weniger liebte, würde ich vielleicht weniger ruhig sein; aber ich liebe Dich, wie Du es selbst nicht weißt . . . Geh bei guter Zeit von mir weg, um Ralph jedes Mißtrauen zu benehmen. Komm um Mitternacht wieder; hier ist der Schlüssel zur kleinen Pforte, schließe sie hinter Dir wieder ab.«



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