George Sand
Indiana
George Sand

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel.

Seit zwei Stunden befand sich Raymon im Salon, als er in einem Nebenzimmer Indianas sanfte Stimme hörte. Bei diesem ersten Wiedersehen fand er sie so verändert, daß seine Leidenschaft dem Gefühle aufrichtiger Teilnahme wich. Kummer und Krankheit hatten auf ihrem Gesichte tiefe Spuren hinterlassen. Fast war sie kaum noch schön zu nennen und die Eroberung ihres Herzens versprach mehr Ruhm als Vergnügen . . . Aber Raymon war es sich selbst schuldig, dieser Frau Glück und Leben wiederzugeben.

Als er sie so bleich und mutlos sah, zweifelte er, daß in einer so gebrechlichen Hülle ein starker, moralischer Widerstand wohnen könne.

»Indiana!« sagte er zu ihr mit einer geheimen Zuversicht, die unter einer Miene tiefer Trauer verborgen war, »so muß ich Sie wiederfinden? Ich wußte nicht, daß dieser so lang ersehnte Augenblick mir einen so entsetzlichen Schmerz bereiten würde!«

Frau Delmare war auf eine solche Sprache nicht gefaßt. Sie hatte erwartet, Raymon als zerknirschten, beschämten Sünder vor sich erscheinen zu sehen, aber statt sich anzuklagen, statt ihr von seiner Reue und seinem Schmerze zu sprechen, hatte er nur Kummer und Mitleid für sie! Sie fühlte sich daher sehr zu Boden gedrückt, weil sie dem Manne Bedauern einflößte, der ihr Erbarmen hätte anflehen sollen!

Eine Frau von Welt hätte sich in einer so schwierigen Lage zu helfen gewußt; aber Indiana besaß weder die Erfahrung noch die Verstellungsgabe, welche notwendig war, um sich ihren Vorteil zu bewahren. Jene Worte des Mitleids vergegenwärtigten ihr alle ausgestandenen Leiden und Tränen glänzten an ihren Augenwimpern.

»Ich bin in der Tat krank,« sagte sie, indem sie sich schwach und abgespannt auf den Lehnstuhl setzte, den Raymon ihr darbot; »ich fühle mich sehr leidend und habe das Recht, mein Herr, mich zu beklagen.«

Raymon hatte nicht gehofft, so schnell zum Ziele zu gelangen.

»Indiana,« erwiderte er, ihre Hand ergreifend, die sich kalt und trocken anfühlte, »sagen Sie nicht, daß ich der Urheber Ihrer Leiden bin; Sie würden mich wahnsinnig vor Schmerz und Freude machen.«

»Vor Freude?« wiederholte sie, indem sie ihre großen blauen Augen voll Staunen auf ihn heftete.

»Ich hätte sagen sollen, vor Hoffnung, denn wenn ich Ihre Leiden verschuldet habe, so kann ich Sie vielleicht auch davon befreien. Sprechen Sie ein Wort,« fügte er hinzu, indem er sich neben sie auf eins der Kissen des Diwans warf, welches herabgefallen war; »fordern Sie mein Blut, mein Leben! . . .«

»O, schweigen Sie!« sagte Indiana bitter, ihm ihre Hand entziehend. »Sie haben schändlich mit Versprechungen gespielt; versuchen Sie doch, das Übel wieder gutzumachen, dessen Urheber Sie sind! Geben Sie mir doch meine Gefährtin, meine Schwester, geben Sie mir Noun, meine einzige Freundin, zurück!«

Ein tödlicher Frost durchschauerte Raymons Adern.

Sie weiß alles, dachte er, und sie richtet mich.

Nichts war so demütigend für ihn, als Noun von ihrer Nebenbuhlerin beweint zu sehen.

»Ja, mein Herr,« sagte Indiana, indem sie ihr in Tränen gebadetes Gesicht erhob, »Sie sind schuld . . .«

Aber plötzlich hielt sie inne, als sie Raymons entsetzliche Blässe sah.

Ihre ganze Herzensgüte, die ganze Zärtlichkeit, welche dieser Mann ihr unwillkürlich einflößte, trat bei diesem Anblick wieder in ihr Recht.

»Verzeihung,« sagte sie, tief ergriffen, »ich tue Ihnen sehr wehe, ich selbst habe so viel gelitten! Sprechen wir von etwas anderem.«

Von dieser Sanftmut und Großmut tief bewegt, führte Raymon schluchzend Indianas Hand zu seinen Lippen und bedeckte sie mit Küssen und Tränen.

»O, da Sie Noun so beweinen,« sagte Indiana, »Sie, der sie nicht gekannt hat, da Sie den Schmerz so tief empfinden, den Sie mir bereitet haben, so wage ich nicht mehr, Ihnen Vorwürfe zu machen. Beweinen wir sie gemeinsam, mein Herr, sie wird von des Himmels Höhen auf uns herabsehen und uns verzeihen.«

Kalter Schweiß trat auf Raymons Stirn. Die Worte: »Sie, der sie nicht gekannt hat,« befreiten ihn zwar von einer furchtbaren Angst, aber diese Berufung an den Schatten seines Opfers traf ihn mit einem abergläubischen Schrecken. Heftig erschüttert, erhob er sich und schritt an ein offenes Fenster. Indiana blieb schweigend und tief bewegt sitzen. Nachdem sie Raymon wie ein Kind hatte weinen sehen, empfand sie eine Art geheimer Freude.

»Er ist gut!« dachte sie; »er liebt mich, sein Herz ist edel. Er hat einen Fehler begangen, aber seine Reue tilgt ihn aus, und ich hätte ihm schon früher verzeihen sollen.«

Sie betrachtete ihn mit zärtlicher Rührung und nahm die Gewissensbisse des Schuldigen für die Reue der Liebe.

»Weinen Sie nicht mehr,« bat sie, indem sie sich erhob und zu ihm trat, »ich habe die arme Noun getötet, ich allein bin die Schuldige. Dieser Vorwurf wird mein ganzes Leben lang auf mir lasten; ich gab einem Gefühl des Mißtrauens und des Zornes Raum. Auf sie warf ich alle Bitterkeit, die ich gegen Sie fühlte, Sie allein hatten mich beleidigt, und ich bestrafte meine arme Freundin dafür. Ich war sehr hart gegen sie! . . .«

»Und gegen mich,« rief Raymon, plötzlich die Vergangenheit vergessend, um nur noch an die Gegenwart zu denken.

Frau Delmare errötete.

»Ich hätte Ihnen vielleicht nicht diesen schmerzlichen Verlust zuschreiben sollen, den ich in jener furchtbaren Nacht erlitt,« sagte sie; »aber ich kann Ihr unzartes und sträfliches Betragen gegen mich nicht vergessen. Ich glaubte mich damals geliebt! . . . und Sie hatten nicht einmal Achtung für mich!«

Raymon gewann seine Kraft wieder. Das peinliche Gefühl, das ihn zu Eis erkältet hatte, verschwand wie ein Alpdruck, sein Mut, seine Leidenschaft und Hoffnung kehrten wieder zurück.

»Ich bin strafbar, wenn Sie mich hassen,« sagte er, indem er sich zu ihren Füßen warf; »aber wenn Sie mich lieben, bin ich es nicht, bin ich es nie gewesen. Sagen Sie, Indiana, lieben Sie mich?«

»Verdienen Sie es?« fragte sie.

»Ich bete dich an!« rief Raymon. Sie überließ ihm ihre Hände und während sie ihre großen, feuchten Augen auf ihn heftete, in welchem auf Augenblicke ein düsteres Feuer brannte, entgegnete sie: »Wissen Sie, was es heißt, eine Frau, wie mich, zu lieben? Nein, Sie wissen es nicht. Sie beurteilten mein Herz nach allen jenen abgestumpften Herzen, über welche Sie bisher Ihre flüchtige Herrschaft übten. Sie wissen nicht, daß ich noch nicht geliebt habe und daß ich mein jungfräuliches ganzes Herz nicht gegen ein von Leidenschaften zerrissenes und erstorbenes austauschen mag, mein ganzes Leben nicht gegen einen einzigen schnell vorübergehenden Tag hingeben will.«

»Indiana, ich weiß, wie man Sie lieben muß; ich habe nicht erst bis auf diesen Tag gewartet, um es zu begreifen. Habe ich nicht die ganze Geschichte Ihres Herzens in dem ersten Ihrer Blicke, der auf mich fiel, gelesen? Und weshalb wäre ich denn so leidenschaftlich? Nur Ihrer Schönheit wegen? O, gewiß, sie kann auch einen weniger glühenden Mann zum höchsten Enthusiasmus hinreißen; aber wenn ich diese zarte und anmutige Hülle verehre, so geschieht es, weil sie ein reines und göttliches Gemüt einschließt und weil ich in Ihnen nicht bloß eine Frau, sondern einen Engel sehe.«

»Ich weiß, daß Sie das Talent zu schmeicheln besitzen, aber hoffen Sie nicht, über meine Eitelkeit zu triumphieren. Mich muß man ungeteilt, ohne Rückhalt lieben; man muß bereit sein, mir alles zu opfern, Vermögen, Ruf, Pflicht, Grundsätze und Familie, alles, mein Herr, denn ich lege dieselbe Hingebung in die Wagschale. Sie sehen wohl, daß Sie mich so nicht lieben können.«

Es war nicht zum erstenmal, daß Raymon einer Frau begegnete, welche die Liebe im Ernst nahm; aber er wußte, daß die Versprechungen der Liebe in den Augen der Gesellschaft die Ehre nicht binden. Er erschrak also keineswegs über Indianas Anforderungen, er dachte weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft. Der unwiderstehliche Reiz dieser so leidenschaftlichen, körperlich so hinfälligen, an Geist und Herz so entschlossenen Frau riß ihn fort. Sie war so schön, so lebhaft, so hoheitsvoll, während sie ihm ihre Gesetze diktierte, daß er wie verzaubert auf seinen Knien lag.

»Ich schwöre dir,« sagte er, »mit Leib und Seele dein zu sein, ich weihe dir mein Leben, mein Blut, meinen Willen; nimm alles, verfüge über mein Vermögen, über meine Ehre, mein Gewissen, meine Gedanken, über mein ganzes Sein.«

»Still!« flüsterte Indiana, »da kommt mein Vetter.«

In der Tat trat der phlegmatische Ralph Brown mit einer sehr ruhigen Miene ein, versicherte aber gleichwohl, er sei aufs freudigste überrascht, seine Cousine, auf die er nicht gehofft habe, hier zu sehen. Dann bat er um die Erlaubnis, sie umarmen zu dürfen, um ihr seinen Dank zu bezeugen, beugte sich langsam und gemessen über sie und drückte, nach dem Gebrauch seines Landes, einen Kuß auf ihre Lippen.

Raymon erblaßte vor Zorn, und kaum hatte Ralph sich entfernt, als er rasch auf Indiana zutrat, um die Spur dieses impertinenten Kusses zu verwischen. Aber Frau Delmare wies ihn ruhig zurück.

»Bedenken Sie,« sagte sie, »daß Sie viel gegen mich wieder gutzumachen haben, ehe ich an Sie glauben kann.«

Raymon verstand den zarten Sinn dieser Weigerung nicht; er sah darin nur eine Abweisung und faßte gegen Sir Ralph einen um so tieferen Haß.

Am Abend war Raymon sehr geistreich, Es waren viele Gäste da. Er konnte sich der Bedeutung nicht entziehen, zu welcher ihn sein Talent berechtigte, und wenn Indiana eitel gewesen wäre, hätte sie sich gefreut, ihn von dieser neuen Seite kennen zu lernen. Aber in ihrem geraden, einfachen Sinne erschrak sie im Gegenteil über Raymons geistige Überlegenheit vor der Gewalt, welche er um sich her ausübte, vor dieser magnetischen Kraft, mit welcher der Himmel oder die Hölle manchen Menschen beschenkt.

Traurig sagte sie sich, es sei ja nicht der Ruhm, sondern das Glück, das sie erstrebe, und mit Schrecken mußte sie sich die Frage vorlegen, ob dieser Mann, dem das Leben so verschiedene Farben, so vielseitige Interessen zeige, ihr sein ganzes Gemüt widmen, ihr all seinen Ehrgeiz zum Opfer bringen könne. Was konnte sie, die unbedeutende Frau, in seinem Leben sein, während er in dem ihrigen alles war?

Als er ihr den Arm bot, um sie aus dem Salon zu führen, flüsterte er ihr einige Worte der Liebe zu, aber sie entgegnete ihm traurig:

»Sie haben sehr viel Geist!«


Raymon verstand diesen Vorwurf und brachte den ganzen folgenden Tag zu Frau Delmares Füßen zu. Die anderen, mit der Jagd beschäftigten Gäste ließen beiden vollkommene Freiheit.


 << zurück weiter >>