George Sand
Indiana
George Sand

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Sechstes Kapitel.

Es waren vier oder fünf ehrwürdig aussehende Damen anwesend, welche Raymon in diesem Salon nicht erwartet hatte. Es war unmöglich, ein Wort zu sprechen, das nicht in allen Winkeln des Gemaches gehört wurde. Diese alten Betschwestern, welche Karten spielten, schienen nur da zu sein, um die Gespräche der jungen Leute unter ihre Zensur zu stellen, und in ihren strengen Zügen glaubte Raymon die geheime Freude des Alters zu lesen, welches eine Genugtuung darin findet, die Jugend in ihrem Vergnügen zu verkümmern. Raymon hatte auf eine vertraulichere Unterhaltung gerechnet, als der Ball erlaubte, und fand das Gegenteil. Diese unverhoffte Schwierigkeit gab jedoch seinen Blicken höheres Feuer, den einzelnen Fragen, die er an Frau Delmare richtete, größere Innigkeit. Das arme Kind war auf einen solchen Angriff gar nicht vorbereitet. Ihre Verlegenheit wurde durch Raymons Kühnheit vermehrt. Frau von Carvajal, welche den Geist des Herrn von Ramière hatte rühmen hören, verließ ihr Spiel, um mit ihm ein lebhaftes Gespräch über die Liebe anzuknüpfen, in welches sie viel spanische Leidenschaft und deutschen Idealismus einmischte. Indem Raymon in das von der Tante angeschlagene Gesprächsthema mit feuriger Beredsamkeit einging, sagte er der Nichte alles, was sie anzuhören sich geweigert haben würde. Die arme junge Frau gestand errötend, daß sie von diesen Dingen nichts verstände, und Raymon der trunken vor Freude, ihre Wangen sich färben und ihren Busen schwellen sah, nahm sich vor, es ihr zu lehren.

Indiana schlief diese Nacht noch weniger als die vorhergehenden. Ihr Herz war seit langer Zeit für ein Gefühl reif, das ihr keiner der Männer hatte einflößen können, die sie bisher kennen gelernt hatte. Von einem wunderlichen, heftigen Vater erzogen, hatte sie nie das Glück genossen, welches die Zuneigung eines anderen gewährt. Herr von Carvajal war von seinen politischen Leidenschaften so eingenommen und durch die Vernichtung seiner ehrgeizigen Pläne so gereizt, daß er in den Kolonien der grausamste Pflanzer und der unangenehmste Nachbar wurde. Seine Tochter hatte unter seiner finsteren Laune entsetzlich gelitten. Aber indem sie fortdauernd die Leiden der Sklaverei vor Augen sah, hatte sie sich eine musterhafte äußere Geduld, eine bewundernswürdige Nachsicht und Güte gegen ihre Untergebenen, zugleich aber auch einen eisernen Willen und eine ungewöhnliche Widerstandskraft gegen alles erworben, was sie zu unterdrücken drohte. Als sie Delmare heiratete, hatte sie nur den Herrn und das Gefängnis gewechselt. Sie liebte ihren Gatten nicht, vielleicht nur aus dem Grunde, weil man es ihr zur Pflicht machte, ihn zu lieben.

Ein unbekanntes Übel nagte an ihrer Jugend. Sie war kraft- und schlaflos. Vergeblich suchten die Ärzte einen organischen Fehler in ihr zu entdecken, sie hatte keinen. Ihre gesamten Kräfte schwanden fast gleichmäßig, der Schlag ihres Herzens wurde immer schwächer, ihr Blut zirkulierte nur bei Fieberanfällen; noch einige Zeit, und die arme Gefangene wäre gestorben. Aber wie groß auch ihre Mutlosigkeit war, so blieb die unbewußte Sehnsucht nach einem anderen Herzen, das mit ihr fühlen konnte, doch immer wach. Das Wesen, welches sie bis dahin am meisten geliebt hatte, war Noun, die heitere, mutige Gefährtin ihrer Leiden; und der Mann, der ihr die meiste Teilnahme gezeigt hatte, war ihr phlegmatischer Vetter Sir Ralph. Aber welche Nahrung für die verzehrende Tätigkeit ihrer Gedanken konnte ihr von der Gesellschaft eines armen Mädchens, unwissend und verlassen wie Indiana selbst, und derjenigen eines Engländers geboten werden, der nur für die Fuchsjagd leidenschaftlich eingenommen war?

Frau Delmare war wirklich unglücklich, und das erstemal, da sie in ihrer eisigen Atmosphäre den warmen Hauch eines jungen, leidenschaftlichen Mannes fühlte, das erstemal, da ein zärtliches Wort ihr Ohr berauschte und ein bebender Mund ihre Hand wie mit einem glühenden Eisen berührte, dachte sie weder an ihre Pflicht, noch an die Klugheit, noch an die Zukunft; sie erinnerte sich nur der verhaßten Vergangenheit, ihrer langen Leiden, ihres despotischen Herrn. Sie dachte auch nicht daran, daß Ramière ein gewissenloser Lügner sein könne. Sie sah in ihm einen Mann, wie sie ihn wünschte, wie sie ihn geträumt hatte, und Raymon hätte sie betrügen können, wenn er nicht aufrichtig gewesen wäre. Und warum hätte er es nicht sein sollen bei einer so schönen und so liebenden Frau? Welche andere hatte ihm jemals so viel Reinheit und Unschuld des Herzens entgegengebracht? Von welcher anderen durfte er eine freundlichere Zukunft erhoffen? War diese unter dem Sklavenjoch seufzende Frau, welche nur auf eine Gelegenheit wartete, um ihre Kette zu zerbrechen, nicht von Natur zum Lieben geschaffen?

Demungeachtet bemächtigte sich Indianas bei dem Gedanken an Ramière ein Gefühl des Schreckens. Sie fürchtete für den Mann, der mit ihrem argwöhnischen, rachsüchtigen Gatten einen Kampf auf Leben und Tod beginnen würde. Das schüchterne Wesen, das nicht zu lieben wagte, aus Furcht, ihren Geliebten dem Tode preiszugeben, dachte nicht an die Gefahr, sich selbst ins Verderben zu stürzen. Am folgenden Tage faßte sie den Entschluß, Herrn von Ramière zu vermeiden. An demselben Abend gab einer der ersten Bankiers von Paris einen Ball. Frau von Carvajal wollte ihre Nichte hinführen; aber in der Befürchtung, Raymon dort zu treffen, gelobte sich Indiana, nicht hinzugehen. Zum Schein nahm sie den Vorschlag an. Als aber Frau von Carvajal in voller Toilette in das Zimmer ihrer Nichte trat, um sie abzuholen, erklärte Indiana, daß sie unwohl sei und sich kaum auf den Füßen halten könne. »Ich würde Ihnen nur Verlegenheiten bereiten,« sagte sie. »Gehen Sie ohne mich auf den Ball, gute Tante.«

»Ohne dich?« fragte Frau von Carvajal, welche ihre Toilette nicht umsonst gemacht haben wollte, »was soll ich alte Frau denn in der Gesellschaft, ohne die schönen Augen meiner Nichte, die mir erst Wert geben?«

»Ihr Geist wird den Mangel derselben ersetzen, liebe Tante,« entgegnete Indiana.

Die Marquise von Carvajal, die nichts weiter verlangte, als sich überreden zu lassen, ging allein. Und jetzt verbarg Indiana ihr Gesicht in ihre beiden Hände und begann zu weinen; denn sie hatte ein großes Opfer gebracht.

Das erste, was Raymon auf dem Balle erblickte, war die alte Marquise. Vergeblich suchte er aber in ihrer Nähe das weiße Kleid und die schwarzen Haare Indianas.

»Meine Nichte ist krank,« hörte er die Marquise zu einer anderen Dame sagen, »oder vielmehr, sie hat die Laune, allein zu Hause bleiben zu wollen, ein Buch in der Hand, um sich sentimentalen Träumereien hinzugeben.«

»Sollte sie mich vermeiden wollen?« dachte Raymon.

Sogleich verließ er den Ball und eilte in die Wohnung der Marquise. Dort fragte er den Diener, den er schlaftrunken im Vorzimmer fand, nach Frau Delmare.

»Die gnädige Frau ist krank.«

»Ich weiß es. Ich komme, um mich im Auftrage der Frau von Carvajal nach ihrem Befinden zu erkundigen.«

»Ich werde die gnädige Frau davon benachrichtigen . . .«

»Das ist überflüssig; Frau Delmare empfängt mich.«

Und Raymon trat ein, ohne sich anmelden zu lassen. Alle anderen Diener waren zu Bette gegangen. Eine einzige, mit einem grünen Schirme bedeckte Lampe erhellte schwach den großen Saal, Indiana hatte der Tür den Rücken gewendet, in einem großen Lehnstuhl sitzend, sah sie trüb den Flammen im Kamin zu.

In seinen Ballschuhen näherte sich Raymon unhörbar auf dem weichen Teppich. Er sah sie weinen, und als sie den Kopf wandte, fand sie ihn zu ihren Füßen, mit Heftigkeit ihre Hände fassend, die sie vergeblich ihm zu entziehen suchte. Im Nu war ihr Vorhaben, ihn aufzugeben, vergessen. Sie fühlte, daß sie diesen Mann, der keine Hindernisse scheute, mit Leidenschaft liebte und segnete den Himmel, welcher ihr Opfer verwarf. Statt Raymon zu zürnen, hätte sie ihm fast gedankt.

Raymon wußte bereits, daß er geliebt war. Er brauchte die Freude nicht zu sehen, welche durch Indianas Tränen glänzte, um zu begreifen, daß er alles wagen konnte. Ohne ihr seine unerwartete Gegenwart zu erklären, sagte er:

»Indiana, Sie weinen . . . warum weinen Sie? . . . Ich will es wissen.«

Sie erbebte, als sie sich bei ihrem Namen nennen hörte.

»Warum fragen Sie danach?« entgegnete sie; »ich darf es Ihnen nicht sagen . . .«

»Wohl, Indiana! Ich, ich weiß es. Ich kenne Ihre ganze Geschichte, es gibt nichts, was mir nicht jener Augenblick enthüllt hätte, wo man mich blutend zu Ihren Füßen legte und Ihr Gemahl zornig zusehen mußte, wie Sie mit Ihren weichen Armen meinen Kopf stützten und mit Ihrem sanften Atem mir neues Leben einhauchten. Er ist eifersüchtig! O, ich begreife es wohl; ich wäre es auch, oder vielmehr an seiner Stelle brächt' ich mich um. Denn Ihr Gatte sein, Indiana, und den Besitz Ihres Herzens nicht verdienen, heißt der schlechteste oder der elendeste der Menschen sein.«

»O, Himmel, schweigen Sie!« rief die junge Frau, indem sie ihm mit ihren Händen den Mund schloß; »schweigen Sie, denn Sie machen mich strafbar. Warum wollen Sie mir lehren, ihn zu verwünschen? Ich habe nichts Böses von ihm gesagt; ich hasse ihn nicht, ich schätze, ich liebe ihn! . . .«

»Sagen Sie lieber, Sie fürchten ihn, denn der Despot hat Ihr Herz gebrochen und die Furcht sitzt Ihnen zu Häupten, seit Sie das Opfer dieses Mannes geworden sind. Sie, Indiana, von diesem rohen Menschen entheiligt, dessen eiserne Hand die Blüten Ihres Gebens vernichtet hat! Armes Kind! So jung und so schön, und schon so viele Leiden ausgestanden . . . denn mich täuschen Sie nicht, Indiana, ich kenne alle Geheimnisse Ihres Schicksals, ich kenne Ihr Leid. Mag die Welt sagen: Sie ist krank. Ich weiß es besser: Ich weiß, wenn der Himmel Sie mir gegeben hätte, mir, dem Unglücklichen, der sich den Kopf zerschmettern möchte, weil er zu spät gekommen ist, dann wären Sie nicht krank. Indiana, ich schwöre es Ihnen bei meinem Leben, ich würde Sie auf den Armen getragen haben, um Ihre Füße vor jeder rauhen Berührung zu bewahren. An meinem Herzen wären Sie vor jedem Leiden geschützt gewesen; mein Blut hätte ich gegeben, um das Ihrige zu erneuen, und wenn Sie der Schlaf geflohen hätte, würde ich kniend vor Ihrem Bette gewacht und Ihren Träumen geboten haben, Ihnen Blumen zu streuen. Ich hätte die Flechten Ihres Haares geküßt, die Schläge Ihres Herzens gezählt, und bei Ihrem Erwachen, Indiana, hätten Sie mich zu Ihren Füßen gefunden, Ihnen dienend wie ein Sklave, Ihr erstes Lächeln erspähend, mir Ihren ersten Kuß erbittend.«

»Genug, genug!« rief Indiana ganz verwirrt. »Sprechen Sie nicht so zu mir, zu mir, die nicht glücklich sein darf; zeigen Sie mir den Himmel nicht auf der Erde, mir, die dem Tode verfallen ist.«

»Dem Tode!« rief Raymon, sie heftig in seine Arme drückend. »Du, sterben, Indiana, sterben, ehe du noch gelebt, ehe du geliebt hast! . . . Nein, ich werde dich nicht sterben lassen, denn mein Leben ist jetzt an das deinige geheftet. Du bist das Weib, das meine Träume mir gezeigt haben, der glänzende Stern, der auf mich herableuchtete und mir zurief: ›Wandle noch in diesem Leben des Elends, und der Himmel wird dir einen seiner Engel senden, um dich zu geleiten.‹ Du warst mir von Anbeginn bestimmt, Indiana! Die Menschen und ihre eisernen Gesetze haben über dich verfügt, aber du gehörst mir; du bist die Hälfte meiner Seele, die längst schon ihre andere Hälfte suchte. Als du auf der Insel Bourbon von einem Freunde träumtest, so war ich es, der dir erschien. Kennst du mich nicht? scheint es dir nicht, als ob wir uns schon damals gesehen hätten? Erkanntest du mich nicht wieder, als du mein Blut stilltest, als du deine Hand auf mein erloschenes Herz legtest, um ihm Leben und Wärme wiederzugeben? O, ich erinnere mich wohl. Als ich die Augen öffnete, sagte ich: ›Da ist sie! so lebte sie in allen meinen Träumen, sie ist es, der ich ungekannte Seligkeiten verdanken soll.‹ Und so war das Leben, zu dem ich zurückkehrte, dein Werk, Dein Gatte, dein Herr hat mich, blutend von seiner Hand, zu deinen Füßen gelegt, und jetzt kann uns nichts mehr trennen . . .«

»Er! er kann uns trennen!« unterbrach ihn Indiana, welche mit Wonne zuhörte. »Ach! ach! Sie kennen ihn nicht; er ist ein Mann, der keine Verzeihung übt, ein Mann, den man nicht täuscht. Raymon, er wird Sie töten! . . .«

Und sie verbarg sich weinend an seinem Busen. Raymon drückte sie leidenschaftlich an sich.

»Ich trotze ihm!« rief er. »Liebe mich und ich bin unverwundbar. Dich aber werde ich der grausamen Macht dieses Tyrannen entreißen. Sage mir, du liebst mich, und ich ermorde ihn, wenn du ihn zum Tode verurteilst.«

»Sie flößen mir Entsetzen ein, schweigen Sie! Wollen Sie jemand töten, so töten Sie mich; denn ich habe einen ganzen Tag gelebt und verlange nichts mehr . . .«

»Stirb denn, aber vor Fülle des Glücks!« rief Raymon, seine Lippen auf Indianas Mund drückend.

Aber der Sturm war für diese schwache Blume zu überwältigend; sie erbleichte, legte die Hand an ihr Herz und verlor das Bewußtsein.

Anfangs glaubte Raymon, seine Liebkosungen würden sie wieder erwecken, aber vergeblich bedeckte er ihre Hände mit Küssen, vergeblich rief er sie mit den süßesten Namen. Seit langer Zeit ernstlich krank, war Frau Delmare Nervenzufällen unterworfen, welche stundenlang anhielten. Verzweifelnd mußte endlich Raymon Hilfe herbeirufen. Er zieht die Klingel. Eine Kammerfrau erscheint; aber ein Schrei entringt sich ihrer Brust, als sie Raymon erkennt. Dieser fand sogleich seine Geistesgegenwart wieder.

»Still, Noun!« flüsterte er der Kreolin ins Ohr. »Ich wußte, daß du hier bist; ich wollte zu dir; ich ahnte nicht, deine Gebieterin hier zu finden, sondern glaubte sie auf dem Ball. Als ich ins Zimmer trat, habe ich sie erschreckt, und sie sank in Ohnmacht. Sei klug, ich entferne mich.«

Raymon entfloh und ließ jede dieser Frauen im Besitz eines Geheimnisses zurück, das beiden verhängnisvoll werden mußte, wenn es sich ihnen enthüllte.



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