George Sand
Indiana
George Sand

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Neuntes Kapitel.

Zwei Monate sind vergangen. In Lagny hat sich seitdem nichts verändert. An einem Frühlingsabend saß Herr Delmare auf den Stufen der Vortreppe, die Flinte in der Hand, und übte sich, Schwalben im Fluge zu töten. Indiana arbeitete am offenen Fenster des Salons an ihrem Stickrahmen und beugte sich von Zeit zu Zeit hinaus, um mit betrübtem Blicke das grausame Vergnügen ihres Gatten zu beobachten. Ophelia bellte erzürnt über eine ihren Gewohnheiten so widerstrebende Jagd, und Sir Ralph, auf der Steinrampe reitend, rauchte seine Zigarre.

»Indiana!« rief der Oberst, seine Flinte niederlegend, »ich habe dir etwas mitzuteilen.« Er näherte sich dem Fenster, das ziemlich tief lag, und mit einer scherzhaften Miene, wie sie nur ein alter, eifersüchtiger Ehemann zeigen kann, sagte er: »Um dich ein wenig zu zerstreuen, habe ich für morgen einen deiner Verehrer zum Frühstück eingeladen. Du wirst mich fragen, welchen, denn du hast eine ziemlich hübsche Anzahl, Schelmin.«

»Es ist vielleicht unser alter guter Pfarrer,« riet Frau Delmare.

»O, ganz und gar nicht. Ralph, nennen Sie ihr den Namen, der ihr schon auf der Zunge schwebt, den sie aber nicht aussprechen will.«

»Es bedarf nicht so vieler Umstände, um Herrn von Ramière hier anzukündigen,« sagte ruhig Sir Ralph, »ich denke, das ist ihr ziemlich gleichgültig.«

Frau Delmare fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg, sie trat vom Fenster zurück, als ob sie etwas im Salon suchte. Als sie wieder erschien, war ihre Haltung äußerlich ruhig.

»Wie?« sagte sie, »Sie wollten wirklich diesen Menschen hier empfangen, der sich bei Ihnen eingeschlichen hat, um Ihnen Ihre Erfindung zu stehlen, und den Sie fast wie einen Verbrecher erschossen hätten . . . Sie sind beide wahrlich sehr friedfertiger Natur, um dies zu vergessen.«

»Du bist mir mit gutem Beispiele vorausgegangen, meine Liebe, denn als er dich bei deiner Tante besuchte, hast du ihn sehr gut aufgenommen, hast auch während eines ganzen Balles mit ihm getanzt, wie man mir gesagt hat.«

»Man hat dich getäuscht.«

»O, ich erfuhr es von deiner eigenen Tante! Schon seit langer Zeit empfängt sie Herrn von Ramières Besuche. Er hat mir unaufgefordert wichtige Dienste in bezug auf meine Fabrik geleistet, und da ich so einem Fremden keine Verbindlichkeiten schuldig sein mag, so will ich mich mit ihm abfinden.«

»Und auf welche Weise?«

»Indem ich mir ihn zum Freunde mache. Ich habe ihn diesen Morgen mit Ralph in Cercy besucht und lernte da auch seine Mutter kennen, eine äußerst liebenswürdige alte Dame. Es gefällt mir besonders, daß weder sie noch ihr Sohn durchaus nicht stolz auf ihren alten Stamm sind. Kurz, dieser Ramière ist ein Prachtmensch und ich habe ihn eingeladen, bei uns zu frühstücken und meine Fabrik zu besehen.«

Frau Delmare zog sich in ihr Zimmer zurück, um über die unerwartete Mitteilung ihres Gatten nachzudenken. Einstweilen wollen wir sie ihren Gedanken überlassen und auf Nouns Tod zurückkommen. Es ist zweifellos, daß sich diese Unglückliche in einem jener Augenblicke heftiger Gemütsbewegungen, wo die Leidenschaft sich leicht zu einer Gewalttat hinreißen läßt, in den Fluß geworfen hatte.

Zwei Personen konnten mit Gewißheit auf einen Selbstmord schließen: Herr von Ramière und der Gärtner von Lagny. Den Gärtner bewogen Schrecken und Gewissensbisse, Stillschweigen zu beobachten. Aus Habgier hatte er die Zusammenkünfte der beiden Liebenden begünstigt und der geheime Kummer der jungen Kreolin war ihm nicht verborgen geblieben. Mit Recht die Vorwürfe seiner Herrschaft fürchtend, schwieg er, und als Herr Delmare, dessen Vermutungen der Tatsache nahe kamen, ihn befragte, leugnete er hartnäckig. Demnach konnte man das Ereignis dem Zufall zuschreiben. In finsterer Nacht durch den Park gehend, konnte Noun sich in dem herrschenden dicken Nebel verirrt haben und neben der englischen Brücke, welche über den schmalen Fluß führte, von dem steilen und vom Regen schlüpfrig gewordenen Ufer hinabgestürzt sein.

Sir Ralph, der ein tieferer Beobachter war, als er sich anmerken ließ, hatte zwar einen starken Grund zum Verdacht gegen Herrn von Ramière gefunden, doch teilte er ihn niemand mit, da er es für grausam hielt, einem Menschen noch Vorwürfe zu machen, der schon unglücklich genug war, sich zeitlebens solche Gewissensbisse machen zu müssen. Dem Oberst stellte er vor, daß bei dem krankhaften Zustande Indianas es dringend notwendig sei, die Wahrscheinlichkeit eines Selbstmordes ihrer Jugendgefährtin zu verheimlichen. So kam man schweigend überein, niemals in Indianas Gegenwart davon zu sprechen.

Doch diese Vorsicht war unnötig; denn Indiana hatte ebenfalls ihre Gründe, an einen Selbstmord zu glauben. Die bitteren Vorwürfe, welche sie an jenem verhängnisvollen Abend dem unglücklichen Mädchen gemacht hatte, schienen ihr hinreichende Ursachen, um Nouns verhängnisvollen Entschluß zu erklären. Daher hatte in dem furchtbaren Augenblick, wo Indiana den Leichnam auf dem Wasser erblickte, ihr ohnedies so niedergebeugtes Herz den letzten Stoß erhalten. Ihr Leiden machte jetzt schnellere Fortschritte; das junge und vielleicht kräftige Weib wollte nicht genesen und gab sich unter der Last des Kummers dem Tode preis.

»Wehe mir, wehe!« rief sie aus, nachdem sie die bevorstehende Ankunft Raymons in ihrem Hause erfahren hatte. »Fluch dem Manne, welcher nur hieher kommt, um mir verderblich zu werden. Großer Gott, warum gibst Du zu, daß er sich meines Schicksals nach Willkür bemächtigt, daß er nur die Hand ausstrecken und zu sagen braucht: ›Sie gehört mir, und wenn sie mir widersteht, stürze ich sie ins Unglück!‹«

Sie begann bitterlich zu weinen, denn der Gedanke an Raymon erweckte ihre Erinnerung an Noun nur noch lebhafter.

»Arme Noun! arme Gefährtin meiner Kindheit, meine einzige Freundin!« rief sie schmerzlich. »Dieser Mensch war dir verderbenbringend wie mir! Durch welche Kunstgriffe hat er dich dahin bringen können, mir die Treue zu bewahren und eine solche Schändlichkeit an mir zu begehen? Du erkanntest deinen Fehler erst, als du meinen Zorn sahest! Ich war zu streng gegen dich, ich habe dich zur Verzweiflung getrieben, dir den Tod gegeben! Unglückliche, warum warfst du dich nicht weinend an meinen Busen und sagtest: ›Ich bin betrogen worden, ich wußte nicht, was ich tat. Aber du weißt es wohl, ich achte und liebe dich!‹ Ich hätte dich in meine Arme gedrückt und du wärest noch am Leben. Tot! tot, so jung, so schön, so lebensfreudig! Gestorben mit neunzehn Jahren eines so entsetzlichen Todes!«

Während Indiana ihre Gefährtin beweinte, beweinte sie auch, ohne es sich selbst zu gestehen, die Täuschungen der drei schönsten Tage ihres Lebens, der einzigen, wo sie gelebt hatte; denn während dieser drei Tage hatte sie mit heißer Leidenschaft geliebt. Je blinder und heftiger diese Liebe gewesen war, desto tiefer hatte Indiana die Schmach empfunden, die ihr widerfahren war.

Doch sie hatte mehr dem Impulse der Scham und des Verdrusses nachgegeben, als einem wohlbedachten Willen. Sehr wahrscheinlich würde Raymon Verzeihung gefunden haben, wenn er Zeit gehabt hätte, seine ganze hinreißende Beredsamkeit ins Treffen zu führen.

Bei Raymon war es nicht gekränkte Eigenliebe, weshalb er die Liebe und die Verzeihung Frau Delmares suchte. Die Liebe keiner anderen Frau, kein anderes Glück auf der Erde schien ihm dafür Ersatz geben zu können. Ein unersättlicher Drang nach Kampf und leidenschaftlichen Aufregungen verzehrte sein Leben.

Man glaube jedoch nicht, daß er gegen Nouns Tod unempfindlich gewesen wäre. Im ersten Augenblicke wollte er sich sogar erschießen; aber der Gedanke an seine Mutter bewahrte ihn davor, was sollte aus ihr werden? Aus seiner alten, schwachen Mutter, deren Leben so bewegt, so schmerzensreich gewesen war, die nur noch für ihn, ihr einziges Glück, lebte! Die beste Art, sein Verbrechen wieder gutzumachen, war, sich von jetzt an mehr denn je seiner Mutter zu widmen, und in dieser Absicht kehrte er nach Paris zurück.

Raymon besaß eine unglaubliche Macht über alles, was ihn umgab, denn er war bei allen seinen Fehlern und Verirrungen in der Pariser Gesellschaft ein ausgezeichneter Mann und besaß sogar den Ruf als geistreicher und talentvoller Kopf. Er beschäftigte sich viel mit Politik und die Schriften, die er veröffentlichte, wurden mit großem Interesse gelesen. Sein Vermögen überhob ihn der Notwendigkeit, für Geld zu schreiben; er schrieb nur aus Neigung und aus Anhänglichkeit an das absolute Königtum Ludwigs XVIII., der damals regierte. Aber seine ehrgeizigen Träume wichen bald wieder dem Bedürfnisse seines Herzens und dem Drange nach verliebten Abenteuern.

Anfangs hatte er verzweifelt, nach dem tragischen Ausgange seiner doppelten Intrigue Frau Delmare je wiederzusehen. Aber während er die Bedeutung des Schatzes erwog, der ihm in ihr entging, kam ihm die Hoffnung, sich ihn zurückzuerobern. Er erwog die Hindernisse, auf welche er stoßen würde, und sah ein, daß diejenigen, deren Beseitigung am schwierigsten wäre, zunächst von Indiana selbst ausgehen würden. Er mußte also den Angriff von dem Gatten selbst unterstützen lassen. Die eifersüchtigen Ehemänner sind zu dieser Art Dienstleistung besonders geeignet.

Vierzehn Tage, nachdem Raymon diesen Entschluß gefaßt hatte, befand er sich auf dem Wege nach Lagny, wo man ihn zum Frühstück erwartete. Es sollen nicht alle die Dienstleistungen aufgezählt werden, wodurch es seiner Klugheit gelungen war, sich in Herrn Delmares Gunst zu setzen; dafür möge hier ein Bild des Obersten selbst seine Stelle finden.

Das Zartgefühl des Herzens betrachtete dieser alte Soldat als weibische Kinderei. Ohne Geist, ohne Takt und ohne Erziehung, genoß er einer größeren Achtung, als man durch Talente und Herzensgüte erlangt. Er hatte breite Schultern und eine kräftige Faust; er wußte den Säbel und den Degen trefflich zu führen und dabei besaß er eine argwöhnische Empfindlichkeit. Da er nicht immer Scherz verstand, so lebte er in fortwährendem Mißtrauen, daß man sich über ihn lustig mache. Durch Drohungen mit Stockschlägen und Duellen wußte er sich Respekt zu verschaffen; deshalb war sein Name in der Provinz stets mit der Bezeichnung des Tapfern begleitet, weil die militärische Tapferkeit augenscheinlich nur darin besteht, breite Schultern und einen starken Schnauzbart zu haben, wie ein Fuhrknecht zu fluchen und bei dem geringsten Streit nach dem Degen zu greifen. Die alten Soldaten des Kaiserreiches, welche fabelhafte Heldentaten ausgeführt hatten, waren in dem Pulverdampf der Schlachten herangewachsen. Aber nach ihrem Rücktritt in das bürgerliche Leben waren sie nur noch kühne und rohe Gesellen und man mußte froh sein, wenn sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft nicht wie in einem eroberten Lande betrugen!

Herr Delmare besaß alle guten und alle schlechten Eigenschaften dieser ausgedienten Militärs. Offenherzig bis zur Kinderei in gewissen zarten Punkten des Ehrgefühls, wußte er seine Interessen auf die bestmögliche Weise zu wahren, ohne sich besonders über das Heil oder Unheil zu beunruhigen, welches daraus für andere entstehen konnte. Der Buchstabe des Gesetzes war sein Gewissen, das Recht seine Moral. Er besaß jene unbeugsame Rechtlichkeit, die nichts borgt, aus Furcht, es nicht wiedergeben zu können, und nichts leiht, aus Furcht, es nicht zurückzuerhalten. Er war ein ehrlicher Mann, der lieber sterben will, als einen Ast aus den königlichen Wäldern zu nehmen, aber jeden ohne Umstände töten würde, der in dem seinigen einen dürren Zweig aufläse. Er mischte sich in nichts, was um ihn her vorging, aus Furcht, einen Dienst leisten zu müssen. Aber wenn er sich aus Ehrgefühl zu einem solchen verbunden glaubte, so bewies niemand einen tätigerern Eifer. Voll Vertrauen wie ein Kind, und doch auch argwöhnisch wie ein Despot, glaubte er einem falschen Schwur und mißtraute einem aufrichtigen Versprechen. Er war unfähig, seine Frau zu schätzen oder sie auch nur zu verstehen. In Indianas Herzen hatte die Sklaverei eine Art tugendhafter und stummer Abneigung gegen ihren Gatten erzeugt, die nicht immer gerecht war. Er war nur hart und sie hielt ihn für grausam. In seinem Ungestüm lag mehr Rauhheit als Zorn. Die Natur hatte ihn nicht bösartig geschaffen; er hatte Augenblicke des Mitleids, die ihn bis zur Reue führten, und in der Reue war er fast gefühlvoll. Das kriegerische Lagerleben hatte die Rohheit bei ihm zur zweiten Natur gemacht. Einer weniger geschmeidigen, weniger sanften Frau gegenüber wäre er schüchtern wie ein gezähmter Wolf gewesen. Aber Indiana war ihres Schicksals überdrüssig, sie gab sich nicht die Mühe, zu versuchen, es besser zu gestalten.



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