George Sand
Indiana
George Sand

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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Das häusliche Leben Indianas hatte sich friedlicher gestaltet. Sie war fast immer allein. Ihr Haus lag in den Bergen über der Stadt. Delmare, der einen Handel nach Indien und Frankreich betrieb, hielt sich den ganzen Tag am Hafen auf, wo er eine Warenniederlage hatte. Sir Ralph wohnte mit dem Ehepaare im gleichen Hause und widmete sich dem Studium der Naturgeschichte, oder beaufsichtigte die Arbeiten in der Pflanzung. Indiana, die wieder die kreolische Gewohnheit des Nichtstuns angenommen hatte, brachte die heißesten Stunden des Tages in ihrer Hängematte und die langen Abende in der Einsamkeit der Gebirge zu.

Bourbon ist, genau genommen, nur ein ungeheurer Bergkegel, dessen Basis einen Umfang von ungefähr vierzig Stunden hat und dessen gigantische, mit ewigem Schnee bedeckte Spitzen sich zu einer Höhe von 4800 Fuß erheben. Fast von allen Punkten dieser gewaltigen Gebirgsmasse entdeckt das Auge in der Ferne hinter den schroff abgespitzten Felsen, den engen Tälern und dichten Wäldern den Horizont, den das Meer mit seinem blauen Gürtel umgibt, von den Fenstern ihres Zimmers konnte Indiana, zwischen zwei Felsspitzen hindurch, die weißen Segel der Schiffe sehen, welche den Indischen Ozean befuhren. Dennoch gab der herrliche Anblick ihren Träumen keinen poetischen Reiz, sondern stimmte sie nur bitterer. Dann ließ sie ihre Vorhänge herab und floh das Tageslicht, um brennende, schmerzliche Tränen zu vergießen.

Aber wenn sich am Abend vom Meere her der Wind erhob und ihr den Duft der blühenden Reisfelder zuführte, schweifte sie in die Wildnis und ließ Delmare und Ralph unter der Varanga den würzigen Trank des Faham allein schlürfen und gemächlich ihre Zigarren dabei rauchen. Dann erklomm sie einen zugänglichen Berggipfel, den erloschenen Krater eines alten Vulkans, und betrachtete die untergehende Sonne, die den Duft der Atmosphäre in Flammen zu setzen und über die flüsternden Wipfel des Zuckerrohrs und die schroffen Wände der Klippen Gold- und Rubinenstaub auszuschütten schien. Der Anblick des Meeres, wie weh er ihr auch tat, bezauberte sie dennoch. Sie glaubte in nebelhaften Fernen die Fata morgana eines anderen Landes, das Bild einer ungeheuren Stadt zu erblicken und fühlte ihr Herz vor Freude schlagen, indem sie sich vorstellte, dies sei Paris, wo sie doch in Wirklichkeit die glücklichsten Tage ihres Lebens verbracht hatte. Dann bemächtigte sich ihrer ein seltsamer Schwindel. Vor ihren Augen verschwanden die Schluchten, welche sie vom Ozean trennten; sie glaubte über diesen dahinzufliegen und jenem Truggebilde entgegenzueilen. Das waren die einzigen glücklichen Augenblicke, auf die sich Indiana während des Tages freute. Bei ihr vereinigte sich alles in einer glühenden Sehnsucht nach einem Ziele, das weder Erinnerung noch Erwartung, weder Hoffnung noch Schmerz, sondern nur das Verlangen in all seiner verzehrenden Macht war.

Dagegen fühlte sich Ralph auf seinen Spaziergängen von den düsteren, versteckten Orten angezogen, wo der Hauch der Seeluft ihn nicht erreichen konnte; denn der Anblick des Ozeans war ihm ebenso verhaßt geworden, als der Gedanke, ihn noch einmal zu überschiffen. Frankreich war in seiner Erinnerung nur ein Ort des Fluches. Er suchte es mit aller Kraft zu vergessen und vermied sorgfältig jedes Wort, das an die Zeit seines dortigen Aufenthaltes erinnern konnte. Was hätte er nicht darum gegeben, diese entsetzliche Erinnerung auch aus Indianas Gedächtnis tilgen zu können! Aber er fühlte sich so unfähig dazu, so wenig geschickt und beredt, daß er Indiana lieber floh, als sie zu zerstreuen suchte. In dem Übermaß seiner zartsinnigen Zurückhaltung gab er sich nach wie vor den Anschein der Kälte und des Egoismus. Wer ihn mit allem Eifer durch Wälder und Gebirge streifen sah, um Vögel und Insekten zu fangen, der hätte nimmer geglaubt, daß dies nur die Maske war, hinter welcher er seine schwermütigen Träumereien verbarg.

Diese kegelförmige Insel ist vielfach gespalten und enthält tiefe Schluchten, in denen die Flüsse ihre klaren, schäumenden Wasser dahinrollen. Eine dieser Schluchten heißt Bernica. Es ist ein schmales, tiefes Tal, von zwei senkrechten Felswänden eingeschlossen, deren Oberfläche hie und da mit Felsgestrüpp und Heidekraut bewachsen ist.

Ein Bach rieselt in der Rinne, welche die beiden Felswände bei ihrem Zusammentreffen bilden, und da, wo das Geleise aufhört, stürzt er sich in eine furchtbare Tiefe herab und bildet unten einen kleinen See, umgeben von Schilfrohr und stets von feuchtem Nebel umhüllt. An seinen Ufern und am Rande einer Wasserrinne, welche durch das Überströmen des Beckens entstanden ist, wachsen Bananen- und Orangenbäume, deren dunkles Grün das Innere der Schlucht schmückt. Das war Ralphs Lieblingsaufenthalt. Hier vergoß er ungesehene Tränen, wenn die so lange verborgenen grausamen Qualen der Verkennung ihm unerträglich wurden. Hier hatte er sich schon in den Tagen seiner Jugend gegen die Ungerechtigkeit gestählt, die ihm von seiner Familie widerfuhr, hier hatte er Kraft gegen die Tücken seines Geschickes gesammelt und sich jene Ergebung in das Unabänderliche angeeignet, die ihm zur zweiten Natur geworden war. Hieher auch hatte er als Knabe die kleine Indiana getragen und sie auf das Gras des Ufers gelegt, während er in dem klaren Wasser angelte oder die Felswände zu ersteigen suchte, um Mövennester zu entdecken.

Diese Erinnerungen drängten sich jetzt in Ralphs Geist zusammen, aber sie hatten einen bitteren Beigeschmack, denn die Zeiten hatten sich sehr geändert und das kleine Mädchen, das seine Gefährtin gewesen war, hatte aufgehört, seine Freundin zu sein, oder war es wenigstens nicht mehr, wie sonst, in der ganzen Fülle ihres Herzens. Zwischen beide hatte sich ein Etwas, eine Erinnerung geschlichen, um die sich alle Regungen ihres Gemütes bewegten, und Ralph fühlte, daß er diesen Punkt nie wieder antasten dürfe.

Er schwieg also und vermied Indiana sogar. Obgleich unter demselben Dache lebend, sah er sie fast nur zu den Zeiten der gemeinsamen Mahlzeit. Dennoch wachte er über sie gleich einer unsichtbaren Vorsehung. Des Abends, wenn sie ausgegangen war, wartete er auf sie am Fuße der Felsen, auf denen sie gewöhnlich zu sitzen pflegte. Hier blieb er ganze Stunden, sah zuweilen durch die vom Mond beleuchteten Zweige zu ihr auf und wagte nicht, sie in ihren Träumereien zu stören. Wenn sie in das Tal hinabstieg, bot er ihr seinen Arm und führte sie nach Hause zurück, ohne ein Wort an sie zu richten, wenn sie nicht selbst ein Gespräch begann. Nachdem er ihr Gutenacht gewünscht, zog er sich in sein Zimmer zurück. Er wachte unablässig über Indianas Ruhe und wußte sie zu schützen, wenn ihr Gatte, dessen Handelsgeschäfte nicht nach Wunsch gingen, seine üble Laune an ihr auslassen wollte. Durch die dünnen Wände des leicht gebauten Hauses vernahm Ralph jedes zornige Wort des Obersten. Dann wußte er sich, ohne seine eigentliche Absicht merken zu lassen, zwischen Indiana und ihren Gatten zu stellen, und der alte Herr besaß hinreichendes Ehrgefühl, um sich vor diesem Zeugen, dessen Wachsamkeit nie schlummerte, im Zaume zu halten.



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