George Sand
Indiana
George Sand

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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Brief
der Frau Delmare an Herrn von Ramière.

Insel Bourbon, 3. Juni 18..

»Ich hatte mir vorgenommen, Sie nicht mehr mit der Erinnerung an mich zu belästigen, aber als ich hier ankam und den Brief las, den Sie mir am Tage vor meiner Abreise von Paris einhändigen ließen, fühlte ich das Bedürfnis, darauf zu antworten; denn in dem Augenblicke eines furchtbaren Schmerzes bin ich zu weit gegangen; ich habe mich Ihretwegen verachtet und bin Ihnen eine Ehrenerklärung schuldig, nicht dem Liebhaber, sondern dem Menschen.

»Verzeihen Sie mir, Raymon, ich habe Sie in jenem entsetzlichsten Augenblicke meines Lebens für ein Ungeheuer gehalten. Ein einziges Wort, ein einziger Blick von Ihnen hat alles Vertrauen, alle Hoffnung für immer aus meiner Seele verscheucht. Ich weiß, daß ich nicht mehr glücklich werden kann, aber wenn ich Sie verachten müßte, so wäre dies für mich der Todesstoß.

»Ja, ich habe Sie verabscheut, ich habe bedauert, daß Bourbon nicht weit genug war, um vor Ihnen zu fliehen, und dieser Unwille gab mir Kraft, das Leben bis auf seine bitterste Hefe zu kosten.

»Aber seit ich Ihren Brief gelesen habe, denke ich besser von Ihnen. Ich vermisse Sie nicht, aber ich hasse Sie auch nicht mehr und will Ihnen nicht den Vorwurf anheften, mein Leben vernichtet zu haben. Nein, Sie sind nicht strafbar; Ihr Herz war nicht gefühllos, aber es war mir verschlossen. Sie haben mich nicht belogen, ich nur habe mich getäuscht. Sie waren weder treubrüchig noch gefühllos, Sie liebten mich nur nicht.

»Doch ich will nicht mehr klagen; ich schreibe Ihnen nicht, um mit fluchbeladenen Erinnerungen die Ruhe Ihres jetzigen Lebens zu vergiften; ich will auch nicht Ihr Mitleid für die Leiden wachzurufen suchen, die allein zu tragen ich Kraft genug habe.

»Ich will mir nicht die Mühe geben, Ihren Brief zu widerlegen, das wäre zu leicht. Sie hätten nicht nötig gehabt, mir zu sagen, daß die Verachtung der Menschen der Lohn meines Fehltrittes geworden wäre; ich wußte es sehr wohl. Nur hatte ich nicht vorausgesehen, daß Sie mein Opfer zurückweisen könnten, nachdem ich es Ihnen bereits gebracht hatte. Nein, gewiß, ich hätte niemals geglaubt, daß Sie mich den Folgen eines so gefährlichen Entschlusses preisgeben und mich die bitteren Folgen allein tragen lassen würden, anstatt mir in Ihrer Liebe Schutz zu gewähren.

»Wie würde ich den Lästerzungen der Welt getrotzt haben, die mir nicht schaden konnten! Wie hätte ich, stark durch Ihre Liebe, der Verachtung der Menschen gespottet! Ein Wort von Ihnen, ein Blick, ein Kuß hätte hingereicht, mich freizusprechen, wo die Gesetze der Gesellschaft mich verurteilten. Ich war töricht. Ich hatte, wie Sie mir vorwarfen, das Leben nur in Romanen kennen gelernt, aus jenen heiteren und kindischen Dichtungen, die das Herz durch die Phantasiegebilde unmöglicher Glückseligkeit erfreuen. Aber derselbe Vorwurf trifft auch Sie, Raymon. Wie kommt es, daß Ihnen die Vernunft erst angesichts der Gefahr wiederkehrte? Ich glaubte, die Gefahr mache uns blind, steigere den Mut, ersticke die Furcht, und dennoch haben Sie im Augenblick der Krisis gezittert!

»Vielleicht glich Ihr Traum nicht dem meinigen; mein Mut lag in der Liebe. Sie haben sich eingebildet, mich zu lieben, und in der Stunde, wo ich vertrauensvoll zu Ihnen kam, erwachten Sie aus Ihrem Irrtum.

»Warum sollte ich Ihnen jetzt Vorwürfe machen? Vielleicht habe ich Sie zu sehr geliebt, vielleicht war Ihnen, dem Manne, der die Unabhängigkeit liebt, meine Zärtlichkeit lästig und ermüdend.

»Freuen Sie sich denn dieser Freiheit, die Sie auf Kosten meines ganzen Lebens wiedererkauft haben, und seien Sie glücklich, das ist der letzte Wunsch, der in meinem gebrochenen Herzen noch Raum hat. Sprechen Sie mir aber nie von Gott. Mein Gott ist ein anderer als der Ihrige, oder vielmehr lassen Sie mich wiederholen, was Ihnen Ralph eines Tages in Lagny sagte: ›Sie glauben an gar nichts. Ihre Erziehung hat Sie ohne Prüfung den Glauben Ihrer Väter annehmen lassen; aber die Überzeugung vom Dasein Gottes ist Ihnen nicht ins Herz gedrungen; Sie haben vielleicht nie gebetet.

»Leben Sie wohl, Raymon, mögen Sie glücklich ohne mich leben, ich verzeihe Ihnen, daß Sie mich unglücklich gemacht haben. Sprechen Sie zuweilen von mir mit Ihrer Mutter, der besten Frau, die ich kennen gelernt habe. Seien Sie überzeugt, daß weder Unmut noch Rachsucht gegen Sie in meinem Herzen lebt; mein Schmerz ist der Liebe würdig, die ich für Sie empfand.

Indiana.«

Die unglückliche Indiana! Dieser tiefe und ruhige Schmerz war nur das Gefühl ihrer eigenen Würde, während sie an Raymon schrieb; aber in Wahrheit überließ sie sich der ganzen Heftigkeit ihrer Verzweiflung. Vielleicht verlor sie das Vertrauen auf Raymons Liebe nie ganz, ungeachtet der schmerzlichen Erfahrungen, die sie mit ihm gemacht hatte. Wenn sie an die nackte Wahrheit hätte glauben wollen, so würde sie das Leben nicht mehr ertragen haben.

Die Frau ist schwach von Natur; um der großen Überlegenheit, die ihre zarte Natur ihr über die Männer gibt, ein Gegengewicht zu verleihen, scheint der Himmel absichtlich eine blinde Eitelkeit und törichte Leichtgläubigkeit in ihr Herz gelegt zu haben. Um sich dieses zarten, beweglichen und scharf beobachtenden Wesens zu bemächtigen, bedarf es vielleicht nur der Kunst, sich der Schmeichelei geschickt zu bedienen und die Eigenliebe zu reizen. Wehe dem Manne, der sich von Offenheit und Freimut Erfolge in der Liebe verspricht! Er wird Ralphs Schicksal teilen, wer sich über die grenzenlose Schwäche und Verblendung wundern wollte, von der Indiana sich Raymon gegenüber beherrschen ließ, den frage ich, ob man je eine Frau gefunden hat, die zehn Jahre lang in der Tiefe ihres Herzens das Geheimnis einer Hoffnung zu verschließen wußte, um sie leichtsinnig in einem Augenblicke der Leidenschaft aufs Spiel zu setzen, und die nicht in den Armen eines Mannes eben so kindisch schwach wurde, als sie unüberwindlich stark in den Armen eines andern war.



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