Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Es begann wieder zu schneien. Jetzt fing das Schneien erst richtig an. Tagelang, mit ganz kleinen Pausen. Die weißen Flocken schwebten nieder, zart, anmutig, unschuldig. Oder sie stöberten lustig, wie in heller Frohlaune, durch die Luft, als wäre es gar nicht ihre Absicht, gar nicht ihr Ziel und ihre Bestimmung, zu Boden zu gelangen. Dann wieder stürmten sie in straffen Strichen geradeaus herab, zeichneten die Farblosigkeit des Regens in der entfärbten Natur wie mit weißer Kreide in einfacher Kinderart nach.

Aber der Schnee lag dann fest und schwer auf der Erde. Es war gleichgültig, auf welche Weise er herabgefallen war. Er lag da, verbreitete Kälte, und seine Schicht wuchs oft von Stunde zu Stunde um eine, um zwei Spannen.

Jetzt wurde das Flüchten schwierig, kein Geschöpf im Walde konnte so schnell sein wie sonst. Die Rehe machten solche Sprünge, als setzten sie über Gebüsche hinweg. Doch diesen Sprüngen fehlte die Leichtigkeit von früher. Sie brauchten Kraft, um ihre Beine aus der kalten Umklammerung zu ziehen. Der Frost schmerzte ihre feinen Glieder, und sie bewegten sich seltener.

Für die Hasen bedeutete dieser Zustand des Bodens ein großes Ungemach. Sie versanken gänzlich in die eisige Tiefe des Schnees. Das glatte schöne Rennen war jetzt unmöglich. Ein hoher Sprung brachte sie nicht weit vorwärts. Dann folgte weiches, wehrloses Versinken, und man mußte sich zu neuem Sprung erst wieder aufrappeln.

Hops und Plana sprangen nicht. Sie saßen ruhig im tiefen Schnee und knabberten welke, gefrorene Grasstengel. Sie hungerten ein bißchen, und manchmal war ihnen auch ein wenig übel. Aber Hops hatte entdeckt, daß man im Schnee geschützt war, sofern man sich still verhielt, und daß der Schnee den Stillsitzenden auch wärmte.

»Du bist so klug, Hops«, sagte Plana und schmiegte sich jetzt an ihn, »viel klüger als alle bist du. Das hab' ich gleich erkannt . . .«

»Laß doch!« Hops war erfreut, doch er schämte sich, so gelobt zu werden.

Sie schliefen viel.

Murk jedoch konnte sich in die schwierigen Verhältnisse nicht schicken. Unruhig irrte er umher, suchte die alten Pfade, auf denen er gewohnt war, zu wechseln, und die nun alle verschneit lagen. Er bildete sich ein, daß alle andern Hasen ganz falsch lebten, und er hoffte in seinem zerrütteten Denken, es werde ihm gelingen, die einzig richtige Art ausfindig zu machen. Der Schnee peinigte ihn, seine Augen litten durch das blendende Weiß, die Kälte vernichtete seine erschütterten Nerven gänzlich. Dazu bohrte er sich in der Überzeugung fest, irgendwo müsse es grünen, frischen Rasen geben, saftige Blätter, trockenen Boden, Sonne und Wärme. Das war nur seine fast bis zum Wahnsinn gesteigerte Sehnsucht nach diesen Reichtümern, aber er hatte sich nun einmal in diesen Glauben verkrampft und wurde davon umhergetrieben. Sahen ihn die andern Hasen einmal, dann machte er ihnen mit seinem kummervollen Wesen, mit seiner vor Gram, Sorge und Eifer verzerrten Miene den Eindruck, als hätte er wichtige Arbeit oder irgendein großes Geheimnis.

Da geschah es auf seinen beständigen Wanderungen, daß er, plötzlich durch ein unbekanntes Hindernis aufgehalten, nicht weiterkonnte. Mitten im Hoppeln spürte er einen schmerzhaften Riß am Hals und mußte sich hinlegen. Er war erschrocken, verdutzt, denn es war ihm unmöglich, sich weiterzubewegen, solange dieser dünne, harte Reif seinen Hals umklammerte.

Nachdenklich lag er eine kleine Weile da und besann sich.

Was war das?

Wie lange würde diese neue Marter wohl dauern?

Er hielt die Drahtschlinge, in die er geraten war, für eine der zahlreichen Begleiterscheinungen des Winters. Unangenehm, doch vergänglich.

Geduldig harrte er aus. Wie ein Todkranker zuversichtlich seine baldige Genesung erhofft, so kam jetzt über Murk eine sonderbare Ruhe. Für lange Viertelstunden. Zum erstenmal seit Monaten fürchtete er sich nicht. Er hatte den eisernen Ring an der Kehle, doch er wartete, beinahe gutgelaunt und mit gesteigerter Daseinslust, auf ein Wunder.

Allein das Wunder kam nicht.

»Nun ist es genug«, dachte Murk endlich, »nun wird's wohl gehen.« Er vollführte einen Sprung, der freilich nur zur Hälfte gelang. Kläglich fiel er, mit gedrosselter Kehle, wieder zurück, fiel zu seinem entsetzten Erstaunen auf den Rücken, zappelte, und es gelang ihm nur mühsam, sich wieder aufzurichten. Mühsam preßte sich auch das bißchen Atem, das ihm noch blieb, durch Mund und Nase.

Noch einmal und noch einmal sprang Murk, nahm seine ganze Kraft zusammen und sprang nach vorne, zur Seite, nach rückwärts. Je heftiger er sprang, desto fester umschloß die Schlinge seinen Hals, desto schmerzlicher würgte sie ihn.

Jetzt brach in ihm eine Angst aus, wie er sie noch nie gekannt hatte; eine Angst, die sich rasch in Verzweiflung wandelte und gleich darauf zur Raserei wurde.

Murk sprang ruhelos, ohne Methode, ohne Plan, fast ohne jedes Hoffen. Er sprang hoch, nur um zu springen. Er sprang, weil er noch lebte, weil sein ganzes Herz gierig danach war, zu leben, und nichts anderes fühlte als das nahe Sterben.

Der Schnee staubte auf bei den Sprüngen des Gefangenen. Murk schlug immer wieder zu Boden, wobei sich die Schlinge lockerte, fuhr immer wieder in die Höhe, wodurch sich die Schlinge immer wieder zuzog.

Ein paar Rehe waren herbeigekommen, Hops und Plana kamen, auch Olva erschien. Alle standen umher und sahen teilnahmslos zu, wie Murk wider eine unbegreiflich geheimnisvolle Gewalt um sein Leben kämpfte.

Murk lag nach dem Toben der letzten Angstsprünge im Schnee. Er lag auf der Seite, fast ohne Besinnung, gänzlich erschöpft. Der Draht würgte ihn jetzt ärger als zuvor. Die Augen traten ihm blutunterlaufen weit aus dem Kopf. Der Atem pfiff schnell und angestrengt, eine scharfe Hitze dörrte ihm Gaumen und Zunge. Er lag da und war in einer trübseligen Berauschtheit. Sein Rasen hatte wohl kaum die Angst, die er litt, aber doch die Qual ganz wenig gelindert. Er hatte sich gewehrt. Für die Dauer des Sichwehrens bedeutete das viel. Jetzt regte er sich nicht, und in seinem benommenen Zustand dröhnte die Verzweiflung, die ihn erfüllte, nur noch dumpf, als käme sie von fern, von anderswoher.

Faline, die Rehmutter, wies zu dem Strauch hin, an dem ein Zweig sich heftig bewegt hatte, als Murk an der Schlinge rüttelte.

»Der Unglückliche«, flüsterte sie. »Als ich noch Kinder aufzog, hab' ich einen kleinen Sohn geradeso verloren.« Sie hielt inne. Dann sprach sie noch leiser: »Da gibt es keine Rettung . . .«

Sie wandte sich ab und ging mit den andern Rehen langsam fort. »Das kann ich nicht mitansehen«, murmelte sie.

Auch die Hasen entfernten sich. Zögernd, schonungsvoll. Wie man Abschied nimmt von einem, der nicht merken darf, daß es ein Abschied ist.

Murk blieb allein. Er lag ganz still. Er schlief mit röchelndem Atem den Schlaf der Erschöpfung.

Als es finster wurde, vernahm Murk den Schritt des Zweibeinigen, hörte, wie Er näher und näher kam. Da raffte Murk sich einmal noch auf, da versuchte er einmal noch zu entwischen, da durchlitt er einmal noch, hell erwacht in all seinen Sinnen, die äußerste Pein.

Dann vernahm der Wald seinen Todesschrei. Er klang dünn, jammernd, wie das klägliche Weinen eines Menschenkinds.

 


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