Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Gegen Abend kehrte Hops zurück. Er war ausgeschlafen, spürte nichts mehr von Müdigkeit und hatte alle seine Kräfte wiedergewonnen.

Die Stimmung, in der er sich befand, kannte er noch gar nicht. Er schien sich selbst ganz fremd, als er den Weg langsam durchmaß, den er heute morgen, um sein Leben rennend, vor dem Fuchs einhergerast war. Von Fleck zu Fleck erinnerte er sich an all die furchtbaren Augenblicke dieser Flucht. Hier war er in die Bodenfurche gestürzt. Jetzt kletterte er behaglich hinunter, fand Waldmeisterblätter, von denen er ein bißchen naschte, fand oben am Rand, beim Hinaussteigen, duftende Minze, die ihm schmeckte. Dann stand er eine kurze Weile vor einem Plätzchen, das ihn abstieß und zugleich festhielt. Da waren ein paar arme, ganz kleine Triebe von Haselstauden, Brombeeren und Silberpappeln geknickt, andere schienen sich allmählich zu erholen, sie waren im Begriff sich aufzurichten. Viele rote Fellhaare hingen an den Stengeln, lagen büschelweise am Boden, vermengt mit weißlicher Bauchwolle. Scharfe Witterung haftete noch an ihnen, und die Erde wie die Blätter nahe an der Erde zeigten getrocknete rote Spritzer, fast schon pulverisiert.

Hops schnupperte, geriet in fieberhafte Erregung und wußte dabei, daß keine Gefahr drohte.

Hier war der Fuchs gestürzt, hatte sich im Sturz überschlagen, als der Donner des Gebieters ihn umwarf.

Hops dachte das nicht genau. Es zog nur in Gedankenwolken durch sein Hirn. Das undeutliche Erinnerungsbild des sich überschlagenden Verfolgers, der dann so still, so sanft ergeben in der Luft hing, als Er ihn emporhob, dieses verschwommene Erinnerungsbild und das letzte Bett des Feindes, davor Hops nun saß, wurden eins. Hops fühlte: er war gerettet worden.

Ein Schauer griff ihn an und rieselte über seinen Rücken.

Schleunigst entfernte er sich von der unheimlichen Stelle.

Es gab Geheimnisse, die ihn zittern machten. Er begriff nichts davon. Er konnte nur ahnen und zittern.

Als er den weiten Kahlschlag durchmessen hatte und an den Rand des Gehölzes gelangt war, hielt er inne, hob den Leib empor, stellte die Löffel steif, spähte, witterte und lauschte umher. Das war eine Gebärde, die lustig schien, die in ihrer altklugen Art komisch wirkte, die jedoch der ernsthaftesten, mißtrauischen Vorsicht diente.

Dann saß Hops aufrecht, die Löffel glatt an den gewölbten Rücken gestrichen, saß ohne andere Bewegung als die seiner vibrierenden Schnurrhaare und blieb so, ganz still, eine geraume Zeit. Seine Haltung, der runde, glatte Kopf, ein wenig schräg und wie fragend zum Himmel gerichtet, die großen, runden Augen, die voll Sorge waren, all das sprach den Seelenzustand aus, in welchem Hops sich während einer der ruhigsten Stunden seines Daseins befand. Er glich, wie er so dasaß, einem bescheidenen, ängstlichen und demütigen Kleinbürger, der sich in seiner Naivität und Beschränktheit daran gewöhnt hat, viel Not zu leiden, viel Bedrückung zu ertragen, und dem es niemals in den Sinn kommt, sich zu wehren. Solch einen armseligen, geringen Mann, der in der Abendkühle vor der Schwelle seiner Wohnung sitzt, um ein bißchen Luft zu schöpfen, der aber selbst dieses Atemholen schon als Vermessenheit empfindet, solch einem Wesen der Geduld glich Hops.

Dennoch war er gerade jetzt von so viel Selbstgefühl durchströmt, als er überhaupt erschwingen konnte. Was waren denn alle die Erlebnisse, die er bisher überstanden, gegen das Abenteuer von heute morgen?

Er hatte die große Gefahr durchlitten, die größte, die es gab. Doppelt und dreifach. Zuerst an der Salzlecke: Er! Dann der Fuchs, dem er so lange zu entwischen vermochte. Dann wieder ein zweiter Er. Doch Hops hatte die große Gefahr doppelt und dreifach überstanden!

Sein weißer Schnurrbart zuckte. Hops fühlte eine Anwandlung von Stolz. Mehr nicht, nur eine leise, wohlig-warme Anwandlung, die mit dem Zucken seines Schnurrbarts schnell wieder verging.

Er wußte jetzt, daß er seiner Flinkheit, seinem guten Rennen, seiner List im Entwischen vertrauen durfte.

Aber zugleich stellte sich das Wissen ein, welch eine unaufhörliche Wachsamkeit ihm geboten blieb.

Er gehörte nun einmal zum Geschlecht der Wehrlosen und Verfolgten! Allein er, Hops, war in diesem Volk der immer Gehetzten ein tüchtiger Bursche, der heute seine erste ernste Probe bestanden hatte, und der sich nun vornahm, immer tüchtiger zu werden.

Die zarten Gerüche saftiger Stengel, knuspriger Blätter, vom Abendtau befeuchteter Blüten umspielten seine Nase. Hunger begann sich in ihm zu regen, und er verschwand im Gebüsch. Eilig strebte er durch den Waldstreifen zur Wiese. Dort traf er die andern. Ihn zog es zur Wiese, zog es jenseits der Wiese zu dem Dickicht. Wie sie ihre tändelnde Mahlzeit oftmals unterbrachen, um sich spielend im Kreis zu jagen, schienen sie ihm kindisch.

Mit überlegener Ruhe begann er zu äsen, wählerisch, genußvoll, bedächtig.

»Da ist Hops!« Plana rief das voll Erstaunen.

Der kleine Epi rutschte herbei, betrachtete ihn verblüfft und wiederholte schüchtern: »Wirklich . . . Hops!«

Plana und Epi schwippten mit den Löffeln.

Olva und Rino kamen, Iwner und Lugea. Dann Sitzer und Klipps.

»Hops, bist du da?« redete sie ihn an. »Bist du's oder bist du's nicht?«

Hops untersuchte eine Rispe, erhob sich ein wenig und biß die feinen Spitzen ab.

Die andern saßen um ihn herum. Hops schwieg.

Nun sprangen Murk, Trumer und Nella nacheinander heran.

»Was gibt's denn?«

»Was ist denn los?«

Und Nella rief: »Ach . . . Hops! Wie nett!« Sie wandte sich zu Trumer: »Denk nur . . . Hops!«

Trumer ließ einen Löffel den Hals hinabhängen.

»Wichtigkeit«, sagte er, »Ereignis!«

Hops wandte sich zu ihm: »Das war auch ein Ereignis, mein Lieber.«

Auf einmal befand sich Mamp in ihrer Mitte. Er staunte nicht, er grüßte nicht, er schwippte nicht mit den Löffeln. Er stand herausfordernd vor Hops und wollte wissen: »Von was für einem Ereignis sprichst du?«

»Daß mir der Fuchs dicht am Leib war«, antwortete Hops und trat Mamp ebenso herausfordernd entgegen.

»Der Fuchs?« riefen Klipps und Sitzer, Rino und Iwner entsetzt. – »Dicht am Leibe . . .« erschraken die Mädchen.

Ein Schauer überflog die Hasen alle. Sie duckten sich und lagen flach am Boden.

Der kleine Epi seufzte: »Furchtbar!«

Nur Mamp und Hops blieben stehen, einander gegenüber.

»Und weiter . . .?« forschte Mamp.

Hops fuhr großartig fort: »Ich bin ihm entwischt! Und er ist . . .«

»Sei froh«, unterbrach Trumer in gleichgültigem Tone. »Was hilft es mir, was hilft es uns, daß du entwischt bist? Jeder für sich!«

Hops wollte sprechen.

Da rief Murk belehrend dazwischen: »Wir haben gesehen, wie dumm du dich benommen hast.«

Hops wandte sich mit einem Ruck zu ihm: »Dumm? Ich . . .?«

»Jawohl«, bekräftigte Murk, »heute morgen an der Salzlecke . . .«

Doch Mamp übertrumpfte ihn: »Prahl nicht, armer Hops! Mitten auf der Salzlecke bist du gehockt, mitten drauf! Jawohl . . . hast gar nicht bemerkt, daß Er geschlichen kam . . .«

Hops schwieg. Jetzt war er beleidigt und wollte nichts mehr sagen.

Indessen vollendete Murk mit lehrhafter Überlegenheit: »So unaufmerksam, so leichtsinnig darf ein rechter Hase gar nicht sein.«

Mamp stimmte zu, und das war den andern ein Zeichen, gleichfalls beizustimmen.

Murk triumphierte: »Nur Plana hat sich noch dümmer benommen als du.«

Hops blieb allein. Alle hatten sich entfernt.

Enttäuscht und verdrossen saß er da. Nun war er nicht einmal dazu gelangt, ihnen die wichtige Nachricht mitzuteilen, daß der Fuchs . . . Er ließ beide Löffel tief herunterhängen. Ihm lag nichts daran! Er würde diese Nachricht eben bei sich behalten.

Plötzlich saß Plana neben ihm.

»Ach, Hops«, begann sie, und in ihrer Klage war ein Unterton von Schelmerei: »Ach, Hops . . . die andern glauben, daß ich dumm gewesen bin. Glaubst du das auch?«

»Nein«, erwiderte Hops und hatte die Teilnahme, die ein Verkannter für den andern empfindet. »Nein, das kann ich von dir nicht glauben, Plana.«

Sie rückte näher. »Weißt du . . . ich war nur zerstreut . . . aber dann . . .«

Und sie erzählte ihm den ganzen Zwischenfall.

Als sie geschlossen hatte, ließ sich die dünne Stimme des kleinen Epi vernehmen: »Sehr klug war Plana . . . sehr klug . . . nicht wahr?«

Hops lauschte gespannt, wie Er von Plana geschildert wurde.

Dann sagte Hops: »Nein, so nahe, so entsetzlich nahe hab' ich Ihn freilich nicht gesehen. Aber . . .« Und er berichtete sein ganzes, großes Erlebnis.

Atemlos lauschte Plana.

Epi warf rasche, winzige Ausrufe der Bewunderung und des Staunens dazwischen.

Hops war außerordentlich befriedigt von dem starken Eindruck, den seine Schilderung machte.

Er und Plana standen von nun an einander noch näher. Und der kleine Epi wurde ihr treuer Begleiter.

 


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