Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Bei der großen Eiche, am Wiesensaum, fand eine Versammlung statt. Ganz zufällig hatte sich das gemacht, vor Tau und Tag, als das Eichhörnchen mit der Amsel in Streit geriet und immer mehr dazu kamen. Häher und Elstern, der Pirol, spazierende Fasane, die stehenblieben, und Hasen, die herbeirutschten, um nachdenklich alles mitanzuhören.

Die Sache begann, als die Amsel, eben erwacht, mit ihrem Zwitscherschrei auf den großen Ast der Eiche flog. Das Eichhörnchen schwang sich mit wehender Fahne durch das Gezweig und setzte sich aufrecht nahe der Amsel hin. »Du Gute«, sprach es zu ihr, »wie freue ich mich auf dein Morgenlied!«

Die Amsel schwieg, wandte den kleinen klugen Kopf hin und her und tat, als hätte sie nichts gehört.

Das Eichhörnchen rückte noch näher. »Dich meine ich . . . Warum antwortest du mir nicht?«

Die Amsel wippte unwillig mit dem Schwanz und schickte sich an, ihren Platz zu verlassen.

Da bat das Eichhörnchen rasch: »Bleib da! Wir sind doch Freunde!«

»Freunde?« Die Amsel drehte sich vor Ärger. »Freunde? Das ist mir neu!«

Das Eichhörnchen saß aufrecht, an seine buschige Fahne gelehnt, hielt beide Vorderpfoten treuherzig vor die weiße Brust und fragte erstaunt: »Das weißt du wirklich nicht?«

»Woher soll ich's wissen?« zwitscherte die Amsel zornig. »Du hast mein Nest ausgeraubt!«

»Ich?« Das Eichhörnchen hatte eine unschuldige Miene.

»Alle meine Jungen hast du gefressen«, schrie die Amsel. »Sie waren so reizend, so hilflos, und ich habe sie so lieb gehabt . . .«

»Das waren deine Jungen?« Verwundert tat das Eichhörnchen einen schwingenden Dreher mit der ganzen Vorderseite und hielt den Kopf schief, wie einer, der staunenswerte Neuigkeiten hört. »Das waren deine Jungen? Wirklich, sie waren reizend gewesen«, sagte es unschuldig und anerkennend, »ganz reizend! Und sie haben ausgezeichnet geschmeckt!«

Finken, Rotkehlchen, Goldammern, Meisen, die zugehört hatten, meldeten sich. »Ihr beraubt uns!« schrien sie dem Eichhörnchen, der Elster und dem Häher zu: »Ihr macht uns unglücklich!«

Das Eichhörnchen saß aufrecht, hielt die Vorderpfoten an die Brust gepreßt und schien ebenso verblüfft wie bekümmert. »Hat man so etwas je gehört?« klang sein Murren. »Ich esse das ganze Jahr Eicheln und Tannzapfen . . . Ich hab' alle so lieb . . .«

»Bleib bei deinen Tannenzapfen!« zirpte es ihm von allen Seiten wütend entgegen.

»Aber . . . ihr Freunde«, das Eichhörnchen war außer sich, »nur manchmal . . . es ist so gut . . .«

Die Elster schäkerte gefühllos: »Man muß leben!«

»Diebin!« kreischten die Grasmücken.

»Diebin!« kreischten die Meisen, die Finken, die Rotkehlchen. »Du stiehlst unsere Eier!«

Unten im Dickicht, wo die Hasen lagen und horchten, reckten die Fasane den Hals: »Und wer zerbricht unsere Eier? Wer trinkt sie aus? Wer streut die leeren Schalen wie zum Hohn auf alle Wege?«

Der Häher zeterte: »Ich!«

Die Krähe schnarrte von hoch oben, vom Baumwipfel her: »Auch ich!«

»Mörder!« riefen die Fasane. »Mörder!«

»Freche Bande!« lärmte der Häher. »Und was seid ihr?«

»Wir?« Der ganze Vogelchor erhob sich empört. Durcheinander zirpten, zwitscherten, stritten sie wider den beschuldigenden Schimpf. Die Amsel, die Goldammer, die Fasane, die andern alle: »Wir sind keine Mörder! Gemeinheit! Wir nicht!«

»So?« Der Häher raste vor frecher Angriffslust. »Fragt doch die Käfer, die Schmetterlinge, die Würmer.« Er lachte auf. »Fragt doch die Schnecken, ihr Fasane, ihr Scheinheiligen!«

Die Amsel und die Fasane schwiegen betroffen.

Da trommelte der Specht stürmisch an den Baumstamm. Und stürmisch rief er: »Das geht dich gar nichts an!«

»Meinst du«, fauchte der Häher, »meinst du? Und ich soll mich beleidigen lassen?«

Der Specht überschrie ihn: »Ein Räuber bist du! Was unterstehst du dich, du infamer Kerl? Du willst dich der Käfer annehmen? Der Würmer? Sind sie unseresgleichen? Haben die Flügel und adliges Bewußtsein wie wir? Können die singen, können die jauchzen wie wir?«

»Aber sie leben doch wie wir!« kreischte der Häher, schäkerte die Elster, krächzte die Krähe.

»Verschont ihr sie vielleicht?« höhnte der Specht. »Ihr Mitleidigen! Sind euch nicht Käfer und Würmer und Schnecken, Libellen und Schmetterlinge willkommene Beute? Ihr wollt uns Vorwürfe machen, ihr?«

»Aber«, klang es zurück, »ihr macht ja uns Vorwürfe! Ihr . . . uns!«

Der Specht wurde zornig: »Weil ihr euresgleichen anfallt, weil ihr eure Verwandten tötet! Ihr Mordgesindel!«

Aus der Tiefe des Bodens hob sich der Maulwurf mit rosiger Schnauze: »Ich töte meinen Bruder, wenn er mir in den Weg kommt, und wenn ich ihn besiege! Ich fresse ihn auch! Was ist dabei?«

»Mit dir rede ich nicht, du Verruchter«, antwortete der Specht.

»Blut!« piepste das Wiesel. »Blut! Habt ihr eine Ahnung, wie herrlich das ist?«

»Herrlich!« stimmte die Spitzmaus zu und saß zierlich aufgerichtet. »Wer schwach ist, muß sterben!« rief sie mit zarter, dünner Stimme.

»Wer nicht wachsam ist, muß sterben!« pflichtete das Wiesel bei.

»Wer sich fangen läßt, muß sterben!« frohlockte der Iltis.

»Wer zu unserer Speise geboren ist, muß sterben!« knurrte der Fuchs.

Alle schwiegen und schauderten. Selbst die Krähen, die Häher, die Elstern verstummten. Das Eichhörnchen flüchtete ein paar Zweige höher und saß, an seine buschige Fahne gelehnt, fast erstarrt.

Hops flüsterte Plana zu: »So leben wir! Von Tod und Gefahr dauernd umlauert!«

Plana entgegnete: »Und wir tun niemand etwas zuleide.«

Da sagte Hops: »Was hilft uns das? Wer niemand etwas zuleide tut, muß am meisten leiden!«

Der Specht rief zum Fuchs hinunter: »Mir drohst du nicht, du alter Gauner, mir nicht! Ich verachte dich und alle, die am Boden kleben.«

Plötzlich stand ein prachtvoller Rehbock mitten in der Versammlung.

So lautlos war er gekommen, so gegen den Wind, so unbegreiflich überraschend, daß keines von all den wachsamen, beständig lauschenden, fortwährend witternden Geschöpfen sein Erscheinen zu begreifen vermochte.

Eine hohe, wunderbare Krone schmückte jetzt noch sein Haupt, das bis zur Stirne hinauf silberweiß schimmerte.

»Ihr Armseligen«, sprach er langsam, »was streitet ihr? Wißt ihr nicht, daß es im Walde niemals Frieden gibt? Immer nur Flucht! Immer nur Verfolgung!«

Mäuschenstill war es ringsum.

Er sprach: »Man muß sich wahren und wehren. Jeder nach seiner angestammten Art. Und jeder wird sich selbst zum Schicksal.«

Er war verschwunden, noch ehe die andern sich besonnen hatten. Niemand vermochte zu sagen, wie und wohin er entschwand.

Plana richtete sich auf, mit hochgeworfenen Löffeln: »Wer war das?«

Hops saß, die Vorderpfoten in der Luft, und wiederholte betroffen: »Wer . . . war . . . das?«

Der alte Fosco hob sein Haupt und flüsterte ehrfürchtig: »Das? Das war Bambi!«

Hoch oben, auf dem letzten, schwanken Ast der Buche, begann die Amsel zu singen.

 


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