Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Wo sind meine Geschwister?«

Der junge Hase, der im Dickicht unter Farnwedeln neben seiner Mutter saß, hatte das plötzlich gefragt.

Er war so klein wie ein Klümpchen Erde des Waldbodens. Er glich einem Flöckchen Wolle, doch er schien fast noch zarter als der zarteste Flaum, schier hauchartig. Er sah ganz nebelgrau aus; sein Fell hatte jenes feine Farbengemenge, das man Pfeffer und Salz nennt. Er war eigentlich so wesenlos und dabei doch so wunderbar wie der erste blasse Schimmer des frühen Morgens, der soeben herandämmerte. Auf seiner Stirn stand der weiße Stern, das Zeichen seiner Kindheit.

»Wo sind meine Geschwister?« fragte er noch einmal. Sie waren ihm gerade jetzt eingefallen. Er wußte nicht, wie, und er dachte auch nicht weiter darüber nach. Er war gewohnt zu fragen, und so fragte er.

Die Mutter schwieg.

Eine große, stattliche Häsin, saß sie völlig in sich verkauert, hatte einen schwarzen Streifen, der sich den Rücken entlang über das erdbraune Fell hinzog, hatte kleine schwarze Streifen am Bug der Löffel. Und ihre mächtigen weißen Schnurrhaare befanden sich jetzt in unaufhörlicher, leiser Bewegung. Es blieb unwahrscheinlich, daß der winzige Junge neben ihr jemals so gewaltig werden könnte wie sie.

»Mir ist doch«, fing er wieder an, »mir ist doch, als seien viele Geschwister dagewesen . . .«

Als keine Antwort kam, redete er weiter: »Brüder und Schwestern waren bei mir . . . Ich weiß nicht mehr wie viele, es ist so lange her, und ich bin noch zu klein gewesen, damals . . .«

Dieses »lange her« und dieses »damals« hatte sein eigenes Maß, denn der Junge war erst ein paar Wochen auf der Welt.

Die Mutter wandte sich zu ihm. Ganz wenig, ohne ihre Haltung zu ändern. Doch ihre Schnurrhaare spielten etwas lebhafter. »Ja, ja«, sprach sie, »mein lieber Hops, du wirst größer. Es ist zum Staunen, wie schnell du groß wirst . . .«

Der winzige Hops richtete sich auf, saß in den Hinterbeinen und stellte erfreut die Löffel hoch. »Wo sind die andern?« forschte er dringend.

Die Mutter antwortete leise: »Verschwunden . . .«

Hops legte die Löffel nieder. »Auch du verschwindest manches Mal . . . aber du kommst wieder . . .«

Die Mutter hielt die Nase fest zwischen die Vorderpfoten gepreßt und schwieg.

Dem Kleinen ahnte Schlimmes; er fragte: »Wann . . . wann kommen sie zurück . . . die andern?«

Noch fester drückte die Mutter ihren Kopf in die Vorderpfoten, noch leiser sagte sie: »Niemals . . .«

»Wo sind sie?« Hops war es bang zumute, aber er ließ nicht locker.

Ohne sich zu regen, gab die Mutter Antwort: »Verloren sind sie . . .«

Der Kleine begriff nicht ganz, was er da hörte. Gleichwohl war er erschüttert. Nach einer Pause verlangte er zu wissen: »Und ich . . .? Werde auch ich verloren sein?«

Die Mutter zuckte: »Mein Hops . . . mein lieber Hops . . .« Sie seufzte, ehe sie weitersprach: »Du mußt aufpassen, immer, immer achtgeben, immer . . . verstehst du? Und du mußt laufen können . . . schneller als alle andern Geschöpfe hier im Walde . . .«

Hops beteuerte: »Oh, Mutter . . . ich gebe ja acht . . . ich weiß eigentlich noch gar nicht, warum, aber ich geb' immer acht!«

»Du bist brav«, wurde er gelobt, »eines Tages wirst du von selbst lernen, warum wir immer auf der Hut sein müssen . . . Du bist jung, mein Kleiner . . .«

»Und laufen kann ich«, rief Hops, »schau mir zu . . .«

Er begann zu rennen, unbeholfen, kindlich, doch mit bestem Willen. Er umsprang die Mutter, rannte in immer größeren Kreisen.

Die Mutter saß still und blickte ihm nach. Eine geringe Zufriedenheit durchzog warm ihr Herz. Dann murmelte sie vor sich hin: »So oder so . . . niemand behält seine Kinder . . .« Sie legte die stattlichen Löffel melancholisch und langsam nieder, während sie bekümmert wiederholte: »So oder so . . . die Kinder bleiben nie . . . sie brauchen uns eines Tages nicht mehr . . .«

Hops geriet in eine Ekstase des Laufens. Das graue Flöckchen Wolle, das von seiner Mutter Hops genannt wurde, fegte über den Boden hin, unter den Blättern von Farnkraut und Lattich, unter dem dünnen, niedrigsten Gezweig junger Hartriegel- und Brombeerstauden. Manche von den Gerten peitschten ihn, wenn sie zurückschnellten, ganz leicht. Hops empfand das angenehm und als eine Mahnung, noch rascher dahinzurennen.

Der Wald begann zu erwachen.

Eine fahle Helligkeit drang durch das frische Maiengrün der Laubwipfel in das Dickicht.

Holztauben schwangen sich mit geräuschvollem Flügelschlag von den Ästen. Laut knatternden Fittichs verließen die Fasanen ihre Schlafbäume, und ihr metallischer Balzton, abgerissen und berstend, klang überall auf. Das wirkte, als züngelten da und dort im Walde blitzende Flammen empor, um gleich wieder zu verlöschen; hörte sich an wie ein im Ausbrechen schon bereuter Schrei, gemengt aus Schmerz und Lust.

Hoch oben, auf den höchsten, dünnsten Zweigspitzen der Buchen und Linden saßen die Amseln, waren vom Erdboden gesehen nur schwarze Punkte, aber ihr andauernder, in frohen Weisen wunderbar abwechselnder Gesang strömte die Musik inbrünstiger Daseinswonne durch den Maimorgen.

Der Pirol schleuderte seinen goldgelben Leib von Baum zu Baum und jauchzte dazu, immer dieselbe begeisterte Strophe, als wäre die Sonne schon aufgegangen.

Das zornige Kreischen der Häher schrillte durch die Luft; der tanzende Lachton, in dem die Elstern schäkerten, ließ sich vernehmen. Im Buschwerk regte sich das zarte Gezwitscher der flinken Meisen, das Gezirpe der huschenden Grasmücken.

Immer wieder, fern und nah, rief der Kuckuck.

Als Hops sein Laufen einstellte und zurückkehrte, war die Mutter fort.

Er suchte sie nicht.

Viele andere Hasenkinder kamen durch das Unterholz daher. Hier, dort, ganz nah, ein wenig weiter, hoppelten sie, rannten, saßen aufrecht mit hochgestellten Löffeln, gehabten sich fröhlich und übermütig.

Hops kannte sie alle und schloß sich ihnen an.

 


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