Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Einige Tage später kam das Schicksal über Epi.

Noch war der August nicht zu Ende. Die drei Unzertrennlichen lagen des Nachmittags in ihren Betten und ahnten nicht, wie bald sie getrennt werden sollten.

Rascheln und Knistern an Strauch und Zweig störte sie auf. Kein Geschöpf, das hier im Walde lebte, brachte solch ein Geräusch zustande.

Ihre Löffel flogen, getroffen vom ersten Laut, blitzschnell empor und standen kerzengerade. Sie lauschten besorgt.

Nun wurde das Scharren zweibeiniger Schritte hörbar, das sie kannten. Leichte Schritte waren es und Schritte von mehreren Wesen. Die Hasen unterschieden fünf Paar Beine, in fünferlei Richtung. Zögernde, verweilende, dann wieder raschere Schritte. Diese furchtbaren Gebieter kannten kein heimliches Heranschleichen, vor dem die Hasen jedesmal so in Furcht gerieten. Freilich, sie empfanden auch jetzt Angst, doch sie fühlten sich zugleich sonderbar verwirrt.

Knacken von gebrochenen, zarten Ästen, Reißen von mißhandelten Stauden und Blättern klangen näher. Dazu das leise Rauschen der verschonten, zurückschnellenden Büsche.

Fremdartige, erregende Witterung fiel die Hasen an. Sie wurden noch verwirrter, denn auch diese Witterung war anders als jene, welche Er sonst ausströmte, war weniger giftig, weniger scharf und aufreizend. Sie brachte das Blut nicht so rasch in Wallung.

Gleichwohl waren die Hasen alarmiert.

Sie vernahmen helle, laute Stimmen, vor deren Macht sie in Verblüffung gerieten. Ihre Löffel zuckten und standen steif. Nichts, aber rein gar nichts verstanden sie von diesen Stimmen, hörten sie übrigens mit zitternder Ehrerbietung zum erstenmal, denn niemals zuvor hatte Er noch einen Ton von sich gegeben. Nur den Donnerschlag seiner fernhintreffenden Vernichtung kannten sie. Jetzt erschollen Rufe und ein hohes, langgezogenes Schreien, das kein Ende nahm.

Die Hasen begriffen nichts davon. Sie wußten nicht, daß Kinder beerensuchend durch den Wald gingen, und sie wußten nicht, daß diese Menschenkinder fröhlich sangen.

Etliche Hasen begannen rege zu werden und planlos im Dickicht hin und her zu springen. Murk und Rino, Mamp und Klipps, Iwner und die andern. Das Knacken, Rascheln, Reißen, Knirschen des Buschwerks, das Scharren der zweibeinigen Schritte von allen Seiten, die erregende vielfache Witterung und die andauernden, überlauten, unverständlichen Stimmen hatten sie rasend gemacht.

Besonders Trumer war ganz außer sich. Er vollführte weite Sätze, stellte sich auf den Hinterbeinen hoch, seine Nase war in heftiger Bewegung, und seine Schnurrhaare wirbelten. »Nur fort!« flüsterte er ohne Fassung immerzu. »Nur fort!«

Plötzlich legte er die bisher hochgerichteten Löffel flach auf den Rücken und stob in verzweifelter Flucht davon. Man sah die großen Bögen, die sein weißes Panier im Grünen beschrieb. Man hörte sein gekeuchtes: »Jeder für sich!«

Er mußte zuerst auf die Eindringlinge gestoßen sein, denn sowohl Hops und Plana wie Epi erblickten jetzt die fremden Gestalten, die dorthin liefen, wo Trumer vorbeiflitzte. Tosendes Rufen schwoll an, so stark, daß den drei Unzertrennlichen das Herz erbebte.

Aber kein Donnerschlag folgte, und es wurde stiller.

»Jetzt wird es Zeit für uns«, meinte Hops. Er zitterte, aber er war entschlossen und verließ sein Bett.

Plana sprang zu ihm. Epi schloß sich an.

Behutsam glitten sie durch Seidelbast, Farn und Lattich. Die Angst, die Trumer erfüllte, als er »Nur fort! Nur fort!« gemurmelt hatte, brach auch in ihnen aus und machte sie kopflos.

Aber da standen schon zwei der entsetzlichen Gestalten dicht vor ihnen.

Hops und Plana stoben auseinander und rannten, was sie konnten. Die Wellenlinien ihrer hellweißen Blumen zogen über niedere Stauden dahin.

Die zwei entsetzlichen Gestalten ließen ein grauenhaftes Geschrei vernehmen. Doch sie blieben am Fleck stehen und verfolgten die flüchtigen Hasen nicht.

Epi hatte sich ganz fest zu Boden gedrückt. Er lag so nah vor den beiden Mächtigen, daß ihre Witterung ihn fast in Ohnmacht warf. Er war vollständig bestürzt, weder eines Entschlusses noch einer Regung fähig, und hoffte inbrünstig nur das eine: nicht gesehen zu werden.

Allein, da kam eine dritte Gestalt herbei, stolperte fast über ihn, und jetzt geschah das Furchtbare.

Epi fühlte sich an beiden Löffeln gepackt, fühlte sich aufgehoben und hing, starr vor Schreck, in der Luft.

Er begriff nicht, daß es ein kleines Mädchen war, von dem er gehalten wurde. Er verstand nicht, daß dieses kleine Mädchen den Fang bejauchzte, verstand nicht, daß es ausrief: »Je, ein Haserl!«

Epi hing, zappelte mit beiden Hinterbeinen zugleich, was ihn zu krampfhaften Bewegungen brachte. Doch als er das weiße, große Gesicht vor sich sah und die beiden andern entsetzlich glatten, weißen Gesichter, die herzudrängten, erstarrte er und rührte sich nicht mehr.

Das Blut brauste ihm durch alle Adern, seine Schläfen hämmerten dröhnend, seine Nerven waren in wildem Aufruhr.

Er empfand nur: »Ich bin verloren!«

Und erwartete irgendeinen Schmerz, der ihn vernichtete.

Hätten die drei Menschenkinder gewußt, was der arme Epi litt, sie hätten ihn vielleicht aus Erbarmen freigelassen.

Hätte Epi verstanden, was sie sagten, er wäre ruhiger gewesen.

Die Kinder riefen: »Der ist herzig!« Sie riefen: »Lieb ist er!« Und das kleine Mädchen erklärte: »Den nehm' ich mit nach Hause!«

Epi dachte: »Was für ein schreckliches Unglück!«

Sie verstanden einander nicht, der junge Hase und die jungen Menschen. Das waren zwei einander ganz fremde Welten, und von einer zur andern gab es keine Brücke.

Die Kleine setzte Epi in ihre rote Schürze.

Kaum fühlte er, daß seine Löffel losgelassen wurden, unternahm er den Versuch, zu entspringen. Doch das Mädchen deckte die Zipfel der Schürze über ihn und hielt sie fest zusammen.

Epi saß in einer rötlich schimmernden Dämmerung.

Er war verzweifelt und verstört, er hatte noch niemals während seines kurzen Lebens solch eine wahnsinnige Angst und eine solche andauernde Kette lähmender Schrecken ausgestanden.

Ein- oder zweimal wurden die Zipfel der Schürze gelüftet. Epi schaute auf und duckte sich sogleich wieder voll Grauen. Fünf blasse, nackte Gesichter beugten sich zu ihm nieder, um ihn zu betrachten, zeigten ihm ihre Zähne, ließen ihn erzittern, denn er ahnte ja nicht, daß diese fünf Gesichter freundlich lachten.

Nun griffen fünf Hände nach ihm. Entsetzlich nackte Hände. Er hatte ihre Macht eben erst verspürt, und das Herz schlug ihm zum Bersten. Die Hände strichen, eine nach der andern, sanft liebkosend über seine Löffel, über seinen Rücken, über seine Nase. Sie berührten ganz leise seine Schnurrhaare.

Epi starb beinahe vor Pein.

Dann umhüllte ihn wieder die rötlich schimmernde Dämmerung.

Ein sachtes Schaukeln verriet ihm, daß es vorwärts ging.

An der einen Flanke spürte er den warmen Leib des Mädchens, das ihn hielt.

Das dauerte lange, lange, und die Angst, die Epi wie einen wühlenden Schmerz erlitt, dauerte gleichfalls. Er kroch ganz in sich zusammen. Ein- oder zweimal unternahm er plötzlich wilde Versuche zu entspringen. Immer schloß sich das rosa schimmernde Gefängnis fester um ihn.

Da gab er sich auf. Er war völlig ermattet. Sein Kopf schmerzte, sein Puls raste, aber er konnte kein Glied mehr rühren.

Plötzlich atmete er eine andere, ihm unbekannte Luft. Fremde Witterung drang erregend auf ihn ein. Er roch Staub, fremde Tiere, fremdartige Dinge.

Jetzt stand das Mädchen still. Wieder dröhnten diese furchtbaren Stimmen. Die Zipfel der Schürze wurden gelüftet. Fünf nackte, grauenhafte Gesichter waren abermals drohend nahe. Epi erwartete bebend vor Schreck das Schreckliche, das er nur zu ahnen, doch nie zu wissen vermochte. Allein die fünf Hände streichelten nur wieder sein Fell unter Ausrufen, die Epi nicht verstand.

Es war eine Qual.

Dann schlossen sich die Zipfel wieder.

Jetzt rannte das Mädchen. Epi wurde hin und her, auf und nieder geschleudert. Übelkeit begann sich in ihm zu regen.

Da, plötzlich helles Tageslicht.

Epi fühlte sich aus der Schürze gehoben. Er saß auf einer blanken, weißen Holzplatte. Und um ihn herum lauter Schreckgestalten. Er, in jeglichem Format, groß, klein, ganz klein. Ein Er dabei, wie man ihn hie und da im Walde zu sehen bekam, mit dunklen Haaren im bleichen Gesicht. Wie es schien, mit halbem Kopf. (Denn der Mann hatte keinen Hut auf.)

Epi drückte sich flach an das Holz, das abscheulich roch. In eine völlig fremde Welt war er geraten, in eine feindliche, erbarmungslose Welt, darin es für ihn wohl kein Leben gab.

Seine Nase arbeitete, seine Schläfen brausten, seine Schnurrhaare bebten; der ganze, kleine Epi zitterte, wie er sich so still und geduckt hielt, das Haupt in die samtenen Vorderpfoten gepreßt.

Er saß auf einem Tisch in einer offenen Veranda. Das Häuschen gehörte dem Krämer des Dorfes und hatte einen engen, ungepflegten Garten.

»Nett«, sagte der Krämer und stopfte die Pfeife.

»Herzig«, meinte die Frau.

»So lieb!« rief das kleine Mädchen begeistert.

Ihr kleinerer, dreijähriger Bruder erklärte: »Haben!« und griff mit energischen Fäustchen nach Epi.

Der wehrte sich nicht einmal, obgleich folternde Schmerzen ihn durchschnitten.

Aber das Mädchen schob die griffigen Fäuste weg, löste Epis Fell von ihrem Zausen und schrie: »Laß! Er gehört mir . . .«

Epi saß in peinvollem Erwarten.

Wieder fuhren Hände über seinen Rücken. Die Mutter streichelte ihn. Er selbst berührte ihn. Das Mädchen lehrte den kleinen Bruder, wie man Hasen liebkost.

»So«, sagte sie, »so . . . das hat er gern.«

Dann war auch diese Marter vorbei.

Eine neue Marter hatte Epi zu bestehen. Der Mann zündete seine Pfeife an. Als der Qualm über Epi herfiel, zuckte er und wollte sich aufrichten. Doch gleich hielten ihn ein paar schwere Hände nieder. Er blieb also bewegungslos und rang gegen die Erstickungsgefühle, von denen seine Kehle gedrosselt wurde.

Dann, nach einer Weile, packte ihn das Mädchen an den Löffeln und riß ihn empor. Epi hing wieder in der Luft. Er zappelte nicht einmal.

Sie trugen ihn ins Zimmer, setzten ihn in eine Kiste, die mit Stroh ausgelegt war. Die Mutter hatte sie bereitet. Dann warfen sie ihm ein paar Salatblätter vor.

Im Zimmer, im engen Raum der Kiste war es arg für Epi. Er fühlte sich zu müde, zu sehr verzagt, um ganz zu ermessen, wie arg es war. Am meisten litt er unter dem Geruch hier drinnen. Alles hatte die scharfe, bittere, beizende Witterung, die ihm als Alarm galt.

Alarm! Epi mußte in seinem Gefängnis hockenbleiben, durfte, konnte sich nicht rühren.

Leise schob er sich näher an die Salatblätter. Auch diese rochen entsetzlich, waren über und über bedeckt vom Grauen jener Witterung. Allein Epi, vom Hunger geschwächt, begann dennoch daran zu knabbern.

»Mutter!« rief das Mädchen voll Freude. »Er frißt!«

Epi erschrak und ließ das Blatt los.

»Ja, ja«, sagte die Mutter, »Hasen werden leicht zutraulich.«

Doch Epi war nicht zutraulich. Er hatte Angst. Und er wurde vom Ekel gepeinigt.

 


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