Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Von den Bäumen war das Laub nun ganz herabgefallen. Die Sträucher waren kahl und streckten ihre leeren Äste wie Verzweifelte zum Himmel. Das Gras auf den Wiesen hatte eine krankhaft gelbe Farbe und schmeckte abscheulich. Selbst die blassen Herbstzeitlosen waren verblüht.

Mitten auf der Wiese aber breitete eine Platane ihre Zweige, die noch voll belaubt waren. Diese Blätter hatten freilich mancherlei Kolorit, von erbleichtem Grün bis zu Kupferrot, aber sie saßen noch alle auf ihren Stielen, und die Platane, prächtig anzuschauen, war sehr stolz.

Des Morgens dampfte der Wald von dichten Nebeln, die Wege waren grau. Der Himmel schien mit schweren, nassen, grauen Tüchern verhangen, und der Sonnenstrahl, der nur selten und nur ganz kurz hervordrang, gab keine Wärme. Auch der Sonnenstrahl war bleich und kränklich.

Alle Vögel suchten jetzt die üppige Platane. Elstern versammelten sich da mit halblautem Geschwätz, Meisen wisperten versteckt im Gezweig, die Amseln, die nicht mehr sangen, stießen einen Zwitscherschrei aus, wenn sie zur Platane angeflogen kamen.

Hops und Plana suchten die Wiese nach Futter ab. Sie fanden wenig und wurden ernst. Die Mutter war bei ihnen, auch Fosco kam oft, und die beiden Alten sprachen von der harten Zeit, die nun heranrückte.

Hops und Plana verstanden sie nicht.

»Noch härter?« fragte Plana ungläubig.

Und Hops meinte: »Es ist ohnehin schon hart genug.«

»Das ist noch gar nichts«, belehrte ihn Fosco.

Aber Hops hielt Fosco für einen Prahler. Er schwieg.

Da sagte die Mutter, als hätte sie seine Gedanken erraten: »Nein, wirklich, jetzt läßt sich's noch ertragen, aber später . . . das kannst du dir nicht vorstellen.«

Durch die nebelgraue, rauchig verblasene Luft kam eine Vogelschar. Große Vögel waren es, mit vorgestreckten langen Hälsen. Man hörte ihre Stimmen schon von weitem, noch ehe sie sichtbar wurden. Jetzt, da sie in mäßiger Höhe über die Wiese dahinstrichen, zeigte sich die wunderbare Ordnung ihres Fluges. Sie schrieben ein Dreieck ohne Basis in den Wolkenhimmel, einen ausgespannten Zirkel, dessen Schenkel in gleichmäßiger Linie fast zur Hälfte geöffnet waren. Der Führer flog an der Spitze, und dicht hinter ihm, in weiter fortgesetzter Schräge, Hals an Hals, Schwinge an Schwinge, Brust hinter Brust.

Hops und Plana warfen beim Klang ihrer Stimmen die Löffel hoch, setzten sich beim Anblick dieses geordneten Fluges in die Hinterbeine und fragten: »Wer sind denn die?«

»Das sind Fremde«, erklärte die Mutter.

Fosco fügte hinzu: »Das sind die Freiesten unter allen Freien.«

Die Stimmen der Wildgänse klangen dazwischen. Aufregend und hinreißend. Ein ungelenkes Jauchzen zerbrach in ihrem Schrei, ein zügelloser Unband, ein triumphaler Stolz, eine niegestillte Wanderlust, eine leidenschaftliche Sehnsucht in alle Fernen.

So zogen sie über die Wiese hin, über den kahl gewordenen Wald, verbreiteten Aufruhr und abenteuerliche Gedanken unter den Geschöpfen, die am Boden hafteten. Und sie waren noch lange zu hören.

Die Hasen lauschten still entzückt.

Dann sagte Hops mit einem Seufzer: »Die Glücklichen!«

Auch Fosco seufzte: »Nun wird es Frost geben!«

Und die Mutter stimmte zu: »Immer wenn diese Fremden kommen, bringen sie harte Zeiten mit.«

Mamp aber tanzte und strampelte: »Was kümmern uns harte Zeiten!«

Er war ein fröhlicher Bursche, dieser Mamp, der lustigste von allen Hasen hier im Walde. Nichts auf der Welt konnte ihm seine gute Laune verderben. Keine Gefahr verdüsterte sein heiteres Gemüt. Einem schrecklichen Abenteuer, das ihm den Tod hätte bringen können, entwich er mit so mutwilliger Heiterkeit, als wäre es nur ein Spaß gewesen. Er wollte immer noch spielen, wie einst in den Frühlingstagen der Kindheit. Dabei schloß er sich nie an ein weibliches Wesen an, und so gesellig er sein konnte, er blieb stets allein.

Jetzt stieß er Hops mit der Nase in die Seite und sauste im Kreise auf der Wiese umher. »Komm doch! Fang mich!« lockte er. Er war wie ein Kind.

Hops saß ruhig bei den Alten und rührte sich nicht.

Wieder näherte sich Mamp, stieß ihm wieder die Nase in die Flanke, sprang über Plana und forderte sie auf: »Fangt mich, rennt doch, ihr Faulenzer! Das wärmt!« Er raste so heftig im Kreise, daß er sich mehrmals überschlug. Es machte ihm nichts aus, kopfzustehen und im Kugeln den weißen Bauch zu zeigen. Er war gelenkiger und flinker als viele andere Hasen. Er war so wachsam, so klug, so vorsichtig und so voll List wie nur einer, wenn es zu fliehen oder sich zu verbergen galt, aber er tat sich nicht wichtig damit und schien das nicht ernst zu nehmen.

Hops wies ihn ab: »Harte Zeiten kommen . . . Frost!«

Mamp nahm auch das nicht ernst. »Frost? Was ist das, Frost? Hab' ich noch nie gesehen.«

»Du wirst ihn spüren«, rief Fosco.

»Hast du ihn gespürt?« gab Mamp zurück.

»Oft genug!« – »Leider!« Die Mutter und Fosco hatten gleichzeitig geantwortet.

»So?« Mamp sprang hoch. »Und ihr lebt trotzdem? Ich bin nicht bange.«

Plana mengte sich ein: »Ich zittere vor den harten Zeiten!«

Mamp kam schnell herbei. »Komm, Plana . . . renn, schöne Plana . . . Warum zitterst du schon jetzt? Warte, bis die harten Zeiten da sind!«

»Es ist jetzt schon schwer genug.« Plana wurde verlegen.

»Was ist denn gar so schwer?« verspottete Mamp sie. »Es gibt wenig zu essen! Na! Später wird's vielleicht noch weniger geben! Das ist gesund! Wir werden nicht verhungern.«

Er ließ die Hasen alle dicht am Stamm der Platane in den kleinen Stauden hocken und galoppierte mitten in die Wiese hinaus.

Ein Habicht, der vorbeistrich, blieb eine Sekunde in der Luft stehen und stieß dann herab. Wie ein Geschoß pfeilte er nieder, und seine scharfen Krallen griffen nach Mamp. Aber sie griffen in den welken Rasen. Denn Mamp hatte den Habicht erblickt, er hatte genau den Punkt erraten, an welchem der Habicht auf die Erde treffen würde. Und er war ausgewichen. Mit fabelhafter Geschicklichkeit. Jetzt rannte er. Wie toll er rannte, und mit welcher Besonnenheit! Er schien mit dem großen Vogel, der ihm dicht am Boden folgte, zu spielen. Die Schwingen des Habichts brausten. Da er so nah, so ganz nah an der Erde flog, hatte er keine Stoßkraft, doch seine Fänge haschten immer wieder nach dem Hasen, der knapp unter ihm war, und der ihm doch immer wieder entglitt. Mamp schlug Haken bei Haken; der Habicht mußte sich wenden und drehen und wurde immer wütender. Amseln, Elstern, Häher waren herbeigeeilt und umkreisten ihn scheltend.

Mamp war ins Dickicht gesprungen, dorthin, wo das enge Gitter der Büsche den Flug des Habichts, der ihm folgte, hemmte und hinderte. Beide waren verschwunden. Man hörte nur das zornige Schimpfen der flatternden Amseln, Elstern und Häher.

»Er ist verloren«, sagte Hops.

»Der Unglückliche«, flüsterte die Mutter. – Fosco schwieg.

»Nichts geschieht ihm!« rief Plana.

Da stieg drüben aus dem Dickicht der Raubvogel hoch, mit leeren Fängen. Amseln, Elstern und Krähen umzeterten ihn noch eine Weile, als wären sie es, die ihn verscheuchten. In großen Kreisen hob sich fast ohne Flügelschlag der Habicht stolz höher und höher, bis er in den Wolken entschwand.

Drüben, am Rande des Gebüsches, erschien Mamps Kopf, tauchte mit fröhlichem Gesicht hervor, und seine Löffel spielten heiter.

Plana jubelte: »Ihm geschieht nie etwas!«

 


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