Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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So wie jetzt bleibt es nicht . . .« Hops sprach das leise vor sich hin.

Ganz früh war er mit Plana vom Feld her ins Holz gezogen. Nun lagen sie nah beisammen, näher als andere Hasen, lagen in ihren gewohnten Betten, während der Tag heller wurde.

»Was meinst du?« fragte Plana obenhin und schläfrig.

»Eine Veränderung steht bevor«, erwiderte Hops, »eine große Veränderung . . .«

Plana wurde munter: »Warum glaubst du das?«

Hops seufzte: »Ich fühl's, ich habe eine Ahnung.«

Plana versuchte, ihn zu beruhigen: »Du bist immer so besorgt, mein Lieber, viel zu besorgt.«

»Unsereiner kann nie zu besorgt sein«, meinte Hops, »und dann . . .«

»Gar nichts wird geschehen«, beteuerte Plana, aber sie fing schon an bange zu werden. Sie sah, wie erregt Hops war, und seine Erregtheit sprang ihr wie ein Funken in die Seele.

»Viel wird geschehen«, sprach Hops vor sich hin. Er hielt den Kopf geduckt zwischen die Vorderpfoten gepreßt und regte sich nicht.

Sie waren alle beide nun größer, Hops und Plana, ebenso wie alle andern jungen Hasen ihrer Kameradschaft. Freilich, es fehlte noch einiges, bis sie so stattlich waren wie die Mutter oder wie Fosco, der Alte; doch sie waren erwachsen.

»Viel wird geschehen«, wiederholte Hops. Er fuhr fort: »Merkst du nicht den bittersüßen Geschmack, den jetzt alles hat, was wir essen?«

»Ja, das ist wahr«, Plana staunte.

»Jedes Blatt, jeder Halm, jeder Strunk«, erklärte Hops, »alles schmeckt anders, alles hat weniger Saft, alles fängt an ein bißchen dürr zu werden, und alles riecht nach Erde.«

»Oh!« Plana widersetzte sich. »Es gibt noch genug . . . genug Frisches . . .«

Hops blinzelte. Seine Löffel, fest auf den Rücken gelegt, bewegten sich kaum merkbar. »Frisches? Ich danke!« Nach einer Weile sagte er: »Das Frische . . . mir wird immer übel, wenn ich davon koste.« Und nach einer Pause erkundigte er sich: »Möchtest du die blassen, traurigen Blumen essen, die auf den bleichen, kurzen Stengeln jetzt überall zum Vorschein kommen?«

Plana schwieg.

Er drängte: »Möchtest du?«

Ein Zittern lief über Planas Rücken. »Nein!« rief sie. »Ich vertrage ihren Geruch nicht. Sie sind wohl giftig?«

»Kaum eine Biene, kaum eine Hummel oder Wespe hab' ich bei diesen Dingern gesehen.« Hops redete fast mürrisch. »Eine große Veränderung steht bevor.«

»Erkundige dich doch bei der Mutter!«

Seine Schnurrhaare bebten: »Die Mutter? Sie war lange nicht da, sehr lange. Ich kenne sie kaum mehr. Wer weiß, ob sie noch lebt . . .«

»So frage einmal Fosco!« riet Plana.

Hops zuckte. »Fosco? Die Alten sagen nichts. Gar nichts sagen sie. Oder sie machen bloß Andeutungen, durch die man nur noch unruhiger wird.«

Jetzt kamen die andern hastig herbeigesprungen, Murk, Mamp, Iwner, Nella. Beinahe alle. Eine kleine, durchsichtig graue Wolke zog nah am Boden ins Dickicht und verbreitete eine Witterung, die in die Nase biß, die so beißend in die Augen fuhr, daß man davon Tränen hatte und gezwungen war, die Lider zu schließen. Draußen, auf den Äckern, brannte das Kartoffelkraut, von den Bauern gehäuft, in schwelendem Feuer.

Hier innen ging ein zartes Wispern, ein feines Rieseln durch den Wald, das die Hasen entsetzte und sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Beständig fielen die Blätter von den Bäumen, lösten sich still von den Ästen, schwebten langsam nieder, drehten sich, kreiselten in der unbewegten Luft und berührten dann endlich ganz sanft, fast zärtlich den Boden.

Da lagen sie überall an der braunen Erde, rostrote, braune, gelbe, fast noch grüne Blätter, die rasch so dürr wurden wie die andern. Sie rollten sich an den Rändern ein; sie bogen sich in sich selbst zusammen. Sie warfen sich und gerieten aus ihrer Form im Krampf des Sterbens.

Viele Fasane liefen nun von draußen herein, hatten noch die Zeichen überstandenen Schreckens und die verwunderte Eile des Geborgenseins, dazu ihre andauernde, niemals unterbrochene Wachsamkeit. Sie reckten im Lauf die schillernden Hälse, drehten die kleinen, ausdrucksvoll spähenden Köpfe, blieben stehen, rannten weiter. Unter ihren zierlichen Eilschritten raschelten die gefallenen, toten Blätter hart auf.

Ein paar Rehe kamen gesprungen. In anmutig hohen Sätzen. Verhofften und wandten sich, um mit hochgehobenem Haupt zu den Äckern hinauszuäugen. Auch aus ihren Augen, aus dem Spiel ihrer Lauscher sprachen überwundene Angst und Genugtuung. Dann machten sie wieder kehrt, waldeinwärts, und sprangen weiter, bis sie verschwunden waren.

Ein stattlicher Rehbock blieb länger. Anmutig blickte er zu den Feldern hinaus. Unwillig schritt er, mit stolz gehobenen Beinen, zu einer Haselstaude, scharrte zornig den Boden, daß die Erdkrumen aufspritzend umherstoben, fegte und fegte mit wuchtigen Hieben das Gehörn an dem armen Strauch, riß ihm die Blätter von den Ästen, verwundete die Rinde, bis das weißliche Fleisch des Holzes sichtbar wurde, und keuchte dazu: »Immer noch keine Ruhe! Immer noch keine Ruhe!«

Alle, die in der Nähe waren, hörten ihn, sahen ihn und begriffen seinen zornigen Ausbruch. Alle bewunderten, wie sein Hals sich im Schwung dieses Drauflosschlagens voll kräftiger Grazie bog, wie sein Haupt von gekrönter Hoheit umschimmert und wie sein Antlitz von schönem Ernst überbreitet war.

»Daß er so etwas jetzt noch tut!« murmelte Hops. »Jetzt noch!«

Der Bock ließ jedoch sehr bald von der Haselstaude ab und verschwand im tiefen Dickicht. Er hatte einen Anfall gehabt.

Elstern flogen von Ast zu Ast und schakerten erregt. Eichelhäher kreischten auf. Laut, boshaft. Immer wieder und wieder.

Alarm!

Von den Äckern hoben sich Krähen mit schweren Flügeln, steuerten in den Wald, saßen hoch oben auf den Wipfeln und schrien einander zu: »Er! Er!«

»Was kommt jetzt?« lispelte Plana.

»Du hörst ja«, entgegnete Hops, »Er!«

»Ach, Er«, Plana kuschelte sich behaglich zusammen. »Da können wir Hasen ruhig sein, Er tut uns nichts zuleide.«

»Woher weißt du das?« Hops legte sich noch flacher.

»Nun«, gab Plana Bescheid, »Epi hat es doch gesagt.«

»Epi?« Hops bewegte die Schnurrhaare lebhaft. »Epi?«

Aber Plana bestand darauf: »Der kleine Epi war sehr klug, sehr klug, und er hat beobachtet . . .«

Hops unterbrach sie: »Wo ist Epi?«

Plana schwieg erschrocken.

Eine Weile war Stille. Nur das Schakern der Elstern, das Kreischen der Häher, das langsam verebbende Lärmen der Krähen dauerten und machten die Stille noch deutlicher und gespannter.

In sausendem Schwunge kam das Eichhörnchen durch das große Geäst der Buche hernieder. Mitten in seiner tollen Fahrt klang das helle Rucken und Schirren seiner Stimme.

Doch ehe es noch den niedersten Zweig erreichte, krachte draußen auf den Äckern der Donner, den alle kannten, fünf-, sechsmal rasch hintereinander. Es war nur ein schwacher, blasser Donner. Er knallte dünn, verflatternd und zerborsten.

Hops blickte hinaus. Das Herz wurde ihm schwer.

Über die Felder, weit entfernt, kam Er geschritten. Siebenmal Er, in Abständen voneinander, so daß die Reihe die Schmalseite des Feldes beherrschte. Davor liefen zwei Hunde kreuz und quer, standen, ein Vorderbein hochgezogen, starr, Hals und Haupt waagerecht vorgestreckt. Von der Rutenspitze bis zur Schnauze eine gerade Linie.

Dann kam Er in der Reihe näher. Dann sprangen die Hunde los. Und dann schwirrte eine Kette der Rebhühner hoch. Gleich nachher krachte der Donner, und drei, vier dunkle Klumpen fielen aus dem fliegenden Rebhühnervolk schwer zu Boden.

»Siehst du«, wandte Hops sich an Plana, »da mordet Er unsere kleinen Freunde. Er wird auch uns nicht verschonen.«

»Nein!« widersprach Plana. »Er tut uns nichts!« Sie hielt sich an dieser Hoffnung fest. »Nichts tut Er uns! Denk doch daran, wie Er dich gerettet hat, als der Fuchs hinter dir her war!«

Hops schwieg bekümmert.

»Und weißt du noch«, sprach Plana eifrig weiter, »weißt du noch, am selben Tag habe ich neben Ihm gesessen . . . ganz nah . . . dann bin ich ganz nah an Ihm vorbei . . . dicht an Ihm bin ich vorbei . . . nicht einmal schnell, denn ich war ja halb gelähmt vor Angst . . . nun . . .? Hat Er mir etwas getan?« Sie frohlockte.

Surrenden Fluges standen die Rebhühner draußen wieder auf. Fünf-, sechsmal dröhnte wieder der dünne, leichte Donner. Drei Hühner fielen zu Boden. Die beiden Hasen erblickten das schreckliche Schauspiel nun etwas näher. Sie sahen, wie die Leiber der Getroffenen zuckten und dann regungslos blieben. Sie sahen, wie ein getroffenes Huhn leidenschaftlich mit den zerschossenen Schwingen schlug und in wahnsinniger Angst sich zu erheben versuchte.

Ein Hund sprang darauflos, nahm das flatternde Kleine in seinen Rachen. Es rührte sich nicht mehr.

Mit einem Schauder begann Hops: »Und ich sage dir . . .«

Aber Plana wollte durchaus die Angst, die in ihr zu erwachen anfing, betäuben. »Sag mir nichts!« rief sie. »Ich glaube an das, was Epi . . .«

Hops fiel ihr ins Wort: »Epi! Hör doch damit auf! Hat Er nicht Epi mitgenommen?«

Plana duckte sich. »Das ist wahr . . .« Beinahe weinend wiederholte sie: »Wahr . . .«

Hops stöhnte: »Epi kam als erster von uns dran . . .«

»Richtig«, wimmerte Plana, »richtig!«

Jetzt aber kam der laut surrende Flug der Rebhühner herein ins Dickicht. Heller Donner rollte hinterdrein von den Feldern her, sieben-, achtmal nacheinander. Ihr zartes Rufen zwitscherte: »Gleich hätten wir hier herein sollen!« Andere mahnten: »Nur weiter!« Wieder andere klagten: »Es geht nicht weiter . . . ich bin müde!«

Aus der gehetzten Schar fiel ein Huhn zur Erde. Ganz nahe bei Hops und Plana. Beide erschraken, wie das kleine Ding plötzlich so hart zu Boden schlug, wie es sich langsam aufrichtete und matt dasaß.

»Was ist dir?« fragte Plana entsetzt.

Das Rebhuhn gab keine Antwort, hielt den kurzen Hals nach rückwärts gebogen. Das winzige Haupt starrte in die Höhe, und der feine Schnabel stand schmerzlich weit offen.

»Bist du getroffen?« erkundigte sich Hops voll Schrecken.

Unendlich zart kam der Bescheid: »Ich . . . weiß . . . nicht . . .« Es war eine hinschwindende Stimme.

Hops und Plana schauten gebannt auf das kleine Rebhuhn, das da vor ihnen saß und kämpfte. Seine Augen waren in Angst, in hoffender Erwartung größer geworden als sonst. Der Kopf blieb in krampfiger Haltung, ohne sich zu regen. Nur der aufgesperrte Schnabel schien die Qual, die den armen Leib durchtobte, hinausschreien oder um Hilfe rufen zu wollen.

Plana ertrug das nicht mehr. »Darf ich dir etwas bringen?« flüsterte sie zu dem Rebhuhn hinüber und wußte dabei gar nicht, was sie eigentlich bringen könnte.

Aber das Bewußtsein des Rebhuhns war der Gemeinschaft mit andern Lebewesen schon entrückt. Die Augen des Rebhuhns sagten jetzt nichts mehr von Erwarten und Angst; sie redeten eine andere, eine fremde, traurige Sprache. Es war ihr Abschiednehmen von dieser Welt. Der winzige Kopf gab die verkrampfte Haltung auf, neigte sich sacht, ganz sacht, mit einer unendlich wehmütigen, unendlich beredsamen Gebärde, und sank dann schlaff zur Brust nieder. So starb das Rebhuhn.

Draußen auf den Äckern kam Er in der Reihe immer näher. »Sollen wir fort?« Plana bebte am ganzen Leib; ihre Löffel zuckten unruhig auf und nieder.

Auch Hops war in Aufruhr, doch er blieb unbeweglich. »Nein«, antwortete er fest. »Er betritt die Dickung nicht. Halte dich still! Gib endlich mit deinen Löffeln Ruhe!«

Plana verharrte geduldig in ihrer Mulde.

Ein Hase sprang draußen vor Ihm auf und rannte quer an Seiner Reihe vorbei dem Gehölz zu. Haken auf Haken schlug er.

Der Donner krachte. Der Hase lief. Wieder dröhnte der Knall. Der Hase machte einen Ruck, aber er lief.

Atemlos kam er ins Gebüsch, kam bis zu Hops und Plana, und sie merkten, daß seine Flanke, daß sein weißer Bauch ganz rot und verklebt waren von Blut und Staub.

»Rino!« schrie Hops.

»Rino!« schrie zugleich Plana.

»Ich muß weiter!« keuchte Rino. Doch im selben Augenblick fiel er um, wie vom Blitz erschlagen, zappelte ein paar Sekunden, als bildete er sich, am Boden liegend, ein, daß er weiterliefe. Dann war er still. Ein braunweißer schmaler Streif auf der dunkelbraunen Erde des Waldes.

»Was ist mit ihm?« fragte Plana scheu.

Hops schwieg.

Er setzte sich in die Hinterbeine und stellte die Löffel hoch. Sein Antlitz war bekümmert, und seine Augen hatten einen sorgenschweren Ausdruck. »Jetzt wird's Zeit für uns«, sagte er.

Plana saß wie ihr Gefährte.

Plötzlich flüsterte sie: »Dort! Dort! Ist das nicht Trumer?«

Hops blickte hinaus und ließ einen Löffel sinken. »Ja, wirklich!«

»Daß er so lange draußen bleiben konnte«, staunte Plana, »gerade er!«

Indessen rannte Trumer in vortrefflichem Tempo, und hinter ihm staubte die Ackerscholle vor dem Ungestüm seiner Flucht. Er schlug listig kleine und große Haken. »Jeder für sich! Jeder für sich!« war der Gedanke, der ihn wie mit Schwingen vorwärts trug.

Ein kurzer, heller Donner knallte, ein einziger.

Trumer überschlug sich, überschlug sich noch einmal, denn die Schnelligkeit des Laufens riß den toten Leib noch mit sich fort.

Er lag ausgestreckt in der Ackerfurche, die weiße Wolle seines Bauches gegen den Himmel gekehrt.

Hops und Plana eilten davon. Tief in den Wald hinein.

Sie waren schon fort, als die Hunde das Dickicht durchstöberten, um Rino und das kleine Rebhuhn zu holen.

 


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