Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Ein paar Tage später stöberten Hops und Plana in einem entlegenen Teil des Waldes, fern von ihrer Wohnung.

Alle Hasen waren jetzt unterwegs, denn es gab immer weniger Nahrung, und die Vermutung, anderswo werde es besser sein, trieb sie auf die Suche.

Sie trafen Murk, Iwner und Nella.

Murk war groß und fett geworden; er sah aus wie ein alter Mann. Sein Wesen hatte alles Dreiste und Hochnasige verloren. Er war krankhaft nervös, er litt an Schlaflosigkeit, und er gab sich so demütig bescheiden, er war so zitternd und ängstlich ergeben, daß alle Hasen, die in seine Nähe kamen, erschraken und verlegen wurden.

»Freund Hops«, redete er die beiden an. »Freund Hops, verzeih mir . . .«

»Was soll ich dir verzeihen?« erkundigte sich Hops erstaunt.

Murks Stimme schnappte beinahe über vor rührseligem Versöhnungseifer: »Nun . . . ich hab' dich doch beleidigt.«

»Mich?« Murk bestand darauf. »Es ist freilich schon lange her . . . damals . . . als wir noch jung waren . . .«

»Wir sind ja immer noch jung«, tröstete ihn Hops.

»Ach nein«, fiel ihm Murk ins Wort, »ich bin nicht mehr jung . . . ich nicht.« Er bebte heftig am ganzen Leib. »Erinnerst du dich, Freund Hops, wie du zu uns zurückgekommen bist, erinnerst du dich? Du hast etwas erzählen wollen, etwas von deinem Abenteuer mit dem Fuchs . . . damals hab' ich dich beleidigt . . .«

»Ach«, Hops wehrte ab, »ach, das hab' ich längst vergessen.«

»Du bist so gütig«, jammerte Murk. Er wandte sich an Plana. »Und du bist so schön«, schmeichelte er, »wunderschön bist du.« Er geriet in Zerknirschung. »Auch dich hab' ich beleidigt . . . o ja . . . gewiß . . . das war am selben Tage . . . ich weiß es noch genau . . .«

Planas Schnurrhaare spielten heiter. »Daran denke ich nicht mehr!« Sie bewegte fröhlich die Löffel. »Denk auch du nicht daran, Murk.«

»Ach, jetzt, da ich euch wiedersehe, erinnere ich mich«, sprach er, »und es quält mich. Alles quält mich . . . alles!«

Plana rückte näher. »Du solltest dich lieber erinnern, wie schön es war!« rief sie.

Murk seufzte tief: »Schöne Zeiten waren das. Herrliche Zeiten!« Er seufzte nochmals. »Vorbei! Für immer vorbei!«

»Nichts ist vorbei!« Plana warf einen Löffel hoch. »Sei lustig, Murk! Du bist so groß und stark!«

Murk überhörte das. »Und ihr zwei seid immer beisammen?«

»Ja«, sagte Plana einfach. »Das ist nicht anders.«

»Bei mir«, gestand Murk trübselig, »bei mir bleibt niemand . . . und ich halte es bei keiner aus.«

Er entfernte sich unvermittelt und ohne Gruß in kraftlosen Sprüngen, die viel Lärm verursachten.

Plana schaute ihm nach und schüttelte den Kopf: »Solch ein riesenhafter Bursche, so stark . . . und so jämmerlich.«

Hops saß grübelnd und erwiderte: »Die Narbe, die breite, auf seinem Rücken . . . hast du die bemerkt? Was mag der durchgemacht haben!«

Iwner, dem sie bald nachher begegneten, hatte Nella bei sich. Er war ein hagerer Bursche geworden, sehnig, voll entschlossener Tatkraft und mit humoristischen Anlagen.

»Du liebes Vetterchen«, meinte er zu Hops, »Hauptsache ist, nicht verbittert werden . . . man flüchtet sich eben so durch . . .«

Als Hops einwarf, die Hasen hätten es doch schwerer als andere Geschöpfe, zeigte sich Iwner sehr verwundert: »Wieso denn?« rief er mit erhobenen Löffeln. »Seh' ich nicht ein!« Er sprach vor lauter Tatkraft in abgebrochenen Sätzen. »Unsinn! Flüchten müssen alle! Achtgeben ist für jeden wichtig! Denk an deinen Fuchs! Red keinen Blödsinn! Möchte gar nichts anderes sein, als was ich bin!«

Hops fühlte sich angenehm ermutigt. Dennoch flüsterte er vor sich hin: »Sonderbar!«

»Warum denn sonderbar?« schnurrte Iwner. »Sei nicht dumm, Hops! Bist immer ein wenig dumm gewesen!«

Hops widersprach: »Erlaub mal . . .«

»Na, lassen wir's«, unterbrach ihn Iwner, »sind ja Jugendfreunde, nicht wahr? Darf also aufrichtig sein! Schwermut und Beschränktheit sind in unserer Rasse sehr verbreitet. Kenne das! Habt ihr Murk getroffen? Ja? Na also, vollkommener Trottel.«

»Ein armer Kerl«, entschuldigte ihn Hops.

»Hör mir auf!« Iwner straffte sich. »Was kann unsereinem denn geschehen?«

»Na, genug!« sagte Hops mit Überzeugung.

Iwner entschied einfach: »Gar nichts! Wenn du klug bist . . . gar nichts! Sieben, acht Jahre kannst du alt werden, und niemand tut dir etwas.«

»Tja«, Hops war erfrischt von dem, was er hörte, doch er blieb bedenklich, »tja, aber die meisten von uns . . .«

»Weil sie dumm sind«, fiel Iwner rasch ein. »Übrigens ist es bei den andern ebenso, die wenigsten erreichen ihr natürliches Alter. Aber sieh dir Fosco an. Rüstig! Frisch! Fröhlich! Und er geht ins siebente Jahr. Ein tüchtiger Bursche!«

Sie schwiegen eine Weile. Plötzlich fing Iwner an: »Besinne dich doch! Wir haben ein reines Gewissen! Wir gehören zu den Adligen, die mit einem reinen Gewissen im Walde leben. Wir haben niemals einem Geschöpf etwas zuleide getan! Nur die Rehe und die Hirsche sind wie wir.«

Hops war voll Zweifel. »Was haben wir davon?«

Iwner warf den Kopf in den Nacken, daß ihm die Löffel platt am Rücken lagen. »Die Lieblichkeit der Unschuld«, sagte er stolz, »die Kraft der langen Flucht, die unbesiegbare Abwehr der List.«

Hops bewunderte ihn. Nach einer Pause erst kam seine schüchterne Frage: »Und . . . Er?«

Iwner blinzelte geringschätzig. »Wichtigkeit! Was tut Er uns überhaupt? Spielt keine Rolle!«

Da muckte Hops auf: »Mna . . . das scheint mir doch übertrieben . . . das ist unerlaubt sorglos!«

Rasch entgegnete Iwner: »Sorglos? Wer spricht von sorglos? Keine Sekunde darf man sorglos sein! Merk dir das!«

Geduckt, das Haupt in den Vorderpfoten, murmelte Hops: »Das sage ich immer.«

»Nun?« fuhr Iwner ihn an. »Nun? Tag und Nacht, zu jeder Stunde, unaufhörlich gibt es hier im Walde Gefahr! Das weißt du doch! Drohung ist im Gebüsch, ist im freien Felde, überall und immer ist Gefahr. Dennoch leben wir! Was willst du von Ihm? Wann kommt Er überhaupt in den Wald? Er? Wichtigkeit! Er gehört nicht zum Walde! Er ist nicht vom Walde! Man hört Seinen Schritt, wenn Er noch so leise schleicht. Er ist unbeholfen. Man hat Seine Witterung. Man kann Ihm ausweichen. Und so selten, wie Er kommt, so ungeschickt, wie Er sich anstellt, ist Er noch am wenigsten gefährlich.«

»Trotzdem.« Hops war nach Beruhigung gierig. »Trotzdem fürchten Ihn alle . . .«

»Genügt!« fertigte Iwner ihn ab. »Es genügt, Ihn zu fürchten, und man ist vor Ihm geschützt.«

Er setzte sich mit hängenden Vorderpfoten hoch, lauschte mit aufgestellten Löffeln, prüfte mit hastig bewegter Nase und vibrierenden Schnurrhaaren die Luft, ließ sich dann behaglich nieder in seine vorige Stellung. Er sah schneidig aus, wie ein zorniger Raufer.

»Reizend ist Plana geworden«, sagte er unvermittelt und schaute zu Plana hinüber, die bei Nella im Gespräch saß. »Ein allerliebstes Ding!«

Hops zuckte mißtrauisch empor. »Ich geb' sie nicht her!« Das klang drohend.

Iwner fuhr fort Plana zu betrachten: »Wirklich, sie ist ganz ungewöhnlich hübsch.«

»Sie ist bei mir, und sie bleibt bei mir. Fertig!« Hops war verwirrt und kampfbereit.

Ohne sich darum zu kümmern, meinte Iwner: »Sie muß sehr sanft sein . . . und sehr zärtlich . . .«

»Das geht dich nichts an!« warf Hops unwirsch hin.

»Nein«, gab Iwner bereitwillig zu, »nein, wirklich, das geht mich eigentlich nichts an. Da hast du recht, mein guter Hops. Ich bin ja mit Nella, und Nella ist unvergleichlich. Ich wünsch' mir keine andere . . .«

Hops blickte besänftigt zu Nella hinüber. Sie war häßlich, hatte ein struppiges Fell, ein vernachlässigtes Wesen, gewöhnliche Manieren, und in ihrem stumpfen Gesicht stand zänkische, unfrohe Launenhaftigkeit nur allzu deutlich geschrieben.

Jetzt kam sie heran, mit einem plumpen Hoppelschritt, und befahl: »Komm, Iwner, wir gehen!« Unhöflich setzte sie hinzu: »Es ist genug!«

Iwner gehorchte ihr ohne Widerrede. Er wollte sich freundlich empfehlen: »Nett, daß wir uns einmal ausgesprochen haben.«

Aber sie war schon weg und rief: »Laß das Geschichtenmachen . . . komm!«

Augenblicklich sprang er ihr nach.

Hops sagte zu Plana: »Unbegreiflich, was er an ihr findet.«

Plana lächelte: »Ja, sie hat ihn vollständig in ihrer Gewalt. Übrigens eine unsympathische Person und nicht ein bißchen gescheit. Aber ihn beherrscht sie ganz wie sie will.«

»Rätselhaft«, staunte Hops, »ein so hochstehender, klarer Kopf, eine so überlegene Tatkraft und ganz in den Fängen dieser Schlumpe. Rätselhaft.«

»Alle diese Dinge sind rätselhaft, mein Bester«, belehrte Plana ihn. »Ein Dritter kann da gar nichts wissen und gar nichts sagen.«

Das Revier, in dem sie sich gerade befanden, hatte einige Tümpel und Weiher. Deshalb war der Boden hier feucht, und das Grün der Wiesen, das Laub der Büsche waren noch frisch und voll Saft.

Hier trafen sie eines Tages Zebo und Astalba. Die beiden lebten im tiefsten Dickicht und genossen ein stilles, friedliches Glück.

Zebo war fröhlich und konnte dabei einen gewissen Stolz nicht verbergen. Er überhäufte Astalba mit Zärtlichkeiten, wich nie von ihrer Seite, wusch ihr mit seiner Zunge stundenlang Gesicht und Augen, behütete ihren Schlaf und pries ihr Erwachen.

Astalba sah anmutiger und frauenhafter aus. Sie war sanft, hingebend, gelassen und duldete Zebos Liebe mit einem beständigen Lächeln seliger Heiterkeit.

Die beiden boten einen so reizenden Anblick, daß Hops und Plana ganz in ihrer Nähe blieben.

Hops war seit seiner Unterredung mit Iwner zuversichtlicher und freier geworden denn je.

Eines Tages wurden sie Zeugen seltsamer Dinge.

Tief im Gestrüpp stand plötzlich Brabo vor ihnen. Seine Wunden am Hals, an der Schulter und an der rechten Flanke waren kaum verharscht. Er sah abgemagert aus und gealtert.

Soeben schien er Astalba mit Zebo erblickt zu haben, die in ihrem Bett beieinander lagen. Sehnsüchtig streckte er den Kopf vor, schaute sehnsüchtig auf Astalba, die er einst so heiß geliebt hatte, die er immer noch liebte. Ein Beben lief durch seinen kranken, geschwächten Leib, wie er so dastand und mit dem Entschluß rang, vorzudringen und sich die Geliebte zu erkämpfen. Seine schlanken Beine zitterten vor Begierde, Sehnsucht und Erregung. Aber das Gefühl, ein Besiegter zu sein, das ihn schändete und seinen Mut zerbrochen hatte, hielt ihn zurück. Ganz leise schlich er davon.

Am andern Tage kehrte er wieder. Um dieselbe Stunde, um die Astalba und Zebo rasteten. Viele Tage kam er so, stand mit sehnsüchtig vorgestrecktem Haupt verborgen im Gestrüpp, den regungslos liebevollen Blick auf Astalba geheftet. Dann entglitt er, ohne sich durch das leiseste Geräusch zu verraten, zog weg, scheu und heimlich, mit einer Gebärde, als verschmähte er Astalba, und als hätte er eigentlich gar nichts gewollt. Hops und Plana jedoch sahen den Gram in seinem immer noch schönen Antlitz, lasen die Trauer aus seinen großen, dunklen Augen.

 


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