Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Erst war es ganz still. Kaum ein Laut ließ sich hören. Nur des Nachts scholl der Gesang der Eule. Der schien eine Trauerklage zu sein. In Wahrheit jedoch riefen die Eulen einander nur zärtliche Grüße zu. Dann gab es den unheimlichen Schrei des Käuzchens, der allen in die Glieder fuhr. Aber das Käuzchen meinte es nicht böse; es hatte nur seinen Spaß daran, die andern zu erschrecken.

Ein paar milde Tage kamen. Der Föhn, der den Wald durchraste, fegte die Wolken vom Himmel, daß er ganz blau wurde und die Sonne wieder schien. Unter der Sonne zerging der Schnee sehr rasch, und rasch trocknete der Wind den Boden.

Es war herrlich.

»Das sind harte Zeiten?« lachte Mamp und zeigte sich übermütiger als sonst.

»Warte ab!« mahnte Fosco.

»Ich warte ja«, scherzte Mamp, »ich sitze die ganze Zeit da und warte auf eure Schrecken.«

»Bist du satt?« erkundigte sich die Mutter.

»Sättigt Holz etwa nicht?« Mamp ließ die Löffel munter baumeln. »Ich finde, es liegt länger im Magen.«

»Schau die Könige an«, rief Hops, »auch sie darben!«

Die Hirsche und die Hirschkühe standen im Hochholz und schälten knabbernd die Rinde von den Eschen.

Mamp sah ihnen aufmerksam zu. »Darben!« sagte er. »Mir scheint, sie schwelgen . . .«

Der Friede wurde gestört, denn Er kam in den Wald.

Geräuschvoll rückte er an. Scharenweise. Vorher schon hatten Meisen, Elstern, Krähen Alarmsignale gegeben.

»Machen wir, daß wir weiterkommen«, meinte Mamp, als in mäßiger Ferne der erste Donner krachte.

Rasch verbreitete sich die Nachricht, Er habe es diesmal vor allem auf Fasane abgesehen, doch auch Hasen lasse Er nicht vorbei.

Ein Rudel Hirsche brach erschrocken in die Dickung, verhielt, witterte, war unruhig und wurde immer unruhiger, je näher der Donner knallte.

»Die bleiben nicht«, sagte Mamp, »rennen wir mit ihnen! Aufgepaßt!«

»Wie willst du es wagen?« widersprach Hops. »Draußen steht überall Er!«

Mamp hoppelte die Ränder der Dickung entlang, kehrte zurück und brachte Bescheid. »Die sind nicht gefährlich.« Er hatte erkannt, daß es nur wenige Treiber waren, hierher gestellt, damit die Fasane nicht ausliefen.

Hoch aufgerichtet saß er, mit vornehm baumelnden Löffeln, und hielt eine Ansprache: »Rennen wir alle weg! Fasane! Ich mein' es gut mit euch: rennt davon! Ich laufe zwischen die Beine der hohen Herrschaften, da bin ich gleich in Sicherheit!« Er unterhielt sich großartig.

Jetzt stürmten die Hirsche los in wilder Flucht. Ohne Zaudern schleuderte Mamp sich mitten unter sie und raste mit ihnen davon.

Trampeln, Knistern, Brechen von dürrem Astwerk. Dann Rufe, die Er ausstieß. Dann Schweigen. Kein Donner.

Mamp hatte sich gerettet.

Die Zurückgebliebenen waren atemlos erregt.

»Als hätte er das wer weiß wie oft erlebt«, sagte Fosco nach einer Weile.

»Ein tüchtiger Kerl, dieser Mamp«, erklärte die Mutter.

Immer näher knallte der Donner.

Hops, der längst schon unruhig und voll Sorge war, schlug vor: »Ich glaube . . . wir können . . . es wagen . . .«

»Wir müssen!« rief Fosco in aufsteigender Angst.

Alle vier Hasen liefen.

Draußen, auf der Schneise, empfing sie das Brüllen der Treiber. Aber die Hasen stoben nur weiter auseinander und liefen. Ein paar Fasane rannten hinter ihnen drein.

Sie erreichten die nächste Dickung, wo es still war und leer. Sie hielten sich nicht auf, rannten durch die zweite, durch die dritte, zogen in behaglicherem Tempo durch die vierte und fünfte.

Immer ferner und schwächer grollte der Donner herüber.

Die Hasen blieben nicht an einer Stelle, sie zogen weiter und weiter. Hoch über ihnen flogen Fasane, die entkommen waren, ohne getroffen zu sein.

Endlich gelangten sie in eine große Versammlung. Hirsche standen sichernd beisammen, hochmütig und unnahbar, als wären sie ganz allein auf der Welt. Rehe drückten sich schüchtern zur Seite. Viele Fasane spazierten aufgeregt, scheinbar ziellos hin und her. Ein Fuchs schlüpfte scheu durch all den Wirrwarr und verschwand, noch ehe er Schrecken verbreiten konnte.

Unter etlichen Hasen saß Mamp, lustig wie immer.

»Na also!« rief er ihnen entgegen, »hab' ich nicht recht gehabt?«

Ganze Donnersalven krachten von fernher.

»Soll Er donnern«, lachte Mamp, »was kümmert's uns?«

»Denkst du so?« sagte die Mutter streng. »Unsere Brüder sterben jetzt!«

»Aber wir leben!« antwortete Mamp schnell. Dennoch wurde er verlegen. »Erinnerst du dich«, fragte er Hops, »Trumer hat immer gesagt: ›Jeder für sich!‹«

»Trumer ist tot«, erklärte Hops dumpf.

Mamp fand, das Gespräch sei zu ernst geworden. Er stieß den müden Hops in die Seite. »Sieh doch, hier trifft man alte Bekannte.«

Lugea und Klipps näherten sich. Ein wenig weiter weg lag Olva platt am Boden. Auf der andern Seite, ganz allein, hockte Sitzer.

»Nein, wie nett!« rief Plana erfreut. »Was für ein Wiedersehen!«

Der Donner krachte matt dazwischen.

»Oh, Plana«, sprudelte Lugea hervor, »wie hübsch du bist, und wie schön dein Hops ist. Wohnst du noch immer dort an der Wiese? Ja? Wir sind hierher gezogen . . . Klipps und ich . . . das heißt, eigentlich war es mein Entschluß, nun, eigentlich war es seiner, nicht wahr, Klipps? Ach, er ist ja so herrisch . . . ich kann dir sagen . . .«

Niemand kam mehr zu Wort.

Klipps unternahm einen Versuch, der jedoch, wie immer, mißlang: »W . . . ir wir . . . fr . . . freuen . . .« Er kam nicht weiter. Er stotterte. Ob er sich das infolge der Redseligkeit seiner Gefährtin angewöhnt hatte, oder ob es ein angeborener Fehler war, ließ sich nicht entscheiden.

Lugea vollendete seinen Ausspruch: »Wir freuen uns! Natürlich freuen wir uns. Das braucht man doch nicht erst zu sagen. Ich kann das überflüssige Reden nicht leiden.«

Sie war sehr niedlich, die kleine Lugea, und sie meinte es gut. Von ihrer eigenen Geschwätzigkeit hatte sie nicht die leiseste Ahnung. Sie wußte auch nicht, daß sie den braven Klipps tyrannisierte.

»Tja«, plauderte sie weiter, »das dort ist Sitzer, ja . . . aber wir verkehren nicht mit ihm. Er ist ein solcher Raufer. Und weißt du«, sie neigte sich ganz zu Plana, »er hat es auf mich abgesehen. Deswegen haßt er Klipps. Diese Männer! Na, ich sag' dir . . .« Sie schwieg keine Sekunde. »Und die Zausige dort ist Olva. Nein, sie wohnt nicht hier . . . ich bin sehr froh darüber. Denk dir nur, die ist in Klipps verliebt . . . was sagst du dazu?«

Ein Fasan unterbrach Lugeas Redestrom.

Er kam in schnellem Fluge aus der Richtung, aus der immer noch der Donner scholl. Er ließ sich sehr rasch nieder, mitten unter die Hasen, so plötzlich und ihrer Nähe so wenig achtend, daß sie auseinanderspringen mußten, um ihm Platz zu machen.

Dennoch streiften seine Fittiche Lugea und Hops. Der Fasan merkte es nicht, er flog nicht mehr, er stürzte, als er dicht überm Boden war. Er hatte schon das Bewußtsein verloren und blieb mit ausgebreiteten Schwingen liegen, ohne sich mehr zu regen.

Erschrocken blickten die Hasen auf den Entseelten, der seinen Tod so weit durch die Luft getragen hatte.

Lugea wollte irgendwelches rührseliges Zeug zu plaudern anfangen.

Aber Hops gebot ihr zwingend: »Schweig!« Und Lugea verstummte.

Plana bewunderte ihn.

Noch mehr Fasane kamen gestrichen, ließen sich mit gebreiteten Flügeln nieder, die sie dann falteten, und verliefen sich gesund und wohlgelaunt, wie Geschöpfe, die soeben eine große Gefahr überstanden haben.

Ein Fasan brauste heran, geriet ins Flattern, als schwänden ihm die Kräfte. Er überschlug sich in der Luft und stürzte, in fortwährendem Überschlagen, zwischen den Baumästen, zwischen den Zweigen des Buschwerks zu Boden. Zerzaust bis zur Unkenntlichkeit lag er da. Es schien mit ihm vorbei zu sein. Nach einer Weile aber hob er den Hals, wandte den kleinen Kopf hin und her und flüsterte: »Wo bin ich?«

Er stand auf, schüttelte sein Gefieder zurecht, murmelte: »Schrecklich, wie ich aussehe!« Er rannte ein paar Schritte, blieb stehen und sank um. »Ich bin krank«, seufzte er vor sich hin. »Sonderbar . . . Wieso denn plötzlich?« Wieder stand er auf, rannte wieder ein paar Schritte, blieb wieder stehen. »Schmerzen«, sagte er zu sich, »arge Schmerzen . . .« Er rannte weiter, als hätte er Eile, und verschwand in der Tiefe des Dickichts.

Stolz zog ein Königsfasan daher. Ganz goldfarben war sein Federkleid, goldfarben und schwarz geflammt, mit weißen Spitzen. Imposant war die lange Schleppe, die er trug. Stolz ließ er sich nieder.

Aber er konnte nicht stehen. Beide Füße waren ihm durchschossen. Er mußte auf dem Bauch sitzen. So bot er mit all seiner Herrlichkeit einen kläglichen Anblick.

Jetzt, da er den Boden berührte und auf seinen verwundeten Ständern hockte, fühlte er sich von tobenden Qualen durchwühlt. Er ließ sich nichts merken. »Ich bin ein wenig müde«, sprach er gelassen, während der Schmerz ihn zu zerreißen drohte.

»Mich kriegen sie nicht«, dachte er, »mich nicht.«

Als niemand zu ihm hinsah, kroch er auf dem Bauch ins dichteste Dickicht.

»Wir wollen weiter«, mahnte Hops.

Plana war sofort bereit. »Ja, irgendwohin, wo es keinen Jammer gibt.«

Hops schaute ihr in die Augen: »Wo wäre das? Wo denn im Wald gibt's keinen Jammer?«

Plana flehte: »Aber . . . es gibt doch auch Glück . . .«

Hops warf die Löffel hoch, und seine Miene zeigte Zuversicht. »Gewiß! Dafür leben wir ja! Darum hängen wir ja so sehr am Dasein!«

Sie wanderten durch die Abenddämmerung. Es war still geworden vom Lärm der Menschen.

Im Gestrüpp, durch das sie kamen, saß der Fasan, der vorher so steil herabgestürzt war, saß versteckt und atmete schwer.

Den Königsfasan fanden sie nirgends.

Plana war ganz erregt vor Mitleid.

Hops beschwichtigte sie: »Wenn kein Hund die beiden erwischt und kein Fuchs, können sie noch gesund werden . . .«

 


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