Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Der Sommer stieg höher, war üppig schwer von Sonnenglanz, brachte Tage, in deren Glut alle Gerüche der Blätter, der reifenden Beeren und Früchte zu zerstäuben schienen, spendete Nächte, in denen Wald, Wiese und Feld, vom gelinden Tau erquickt, den eigenen kühlen Duft tranken.

Die Hasen zogen durch Dickicht und über Blößen weit hinaus in die Saaten, die der Ernte harrten.

Da waren Kartoffeläcker, da ragte, gleich einem gepflegten Dschungel, mit wildrauschenden Blättern der Mais, und die Körner seiner Fruchtkolben begannen von milchsüßem Saft zu strotzen. Da stand goldgelb und dünnhalmig voll prächtiger Ähren der Roggen. Der Kohl hielt seine tiefgrünen, rosenähnlich gebuschten Köpfe dicht am Boden.

Es war eine Zeit herrlicher Schwelgerei und glücklicher Sorglosigkeit.

Man suchte sogar die gewohnten Betten nicht immer, lag mitten im prächtigen Reichtum, war vollkommen geborgen, aß und schlief, tummelte sich spielerisch ein wenig, aß wieder und schlief wieder.

Viele andere Geschöpfe hielten sich in den Feldern auf.

Die Rehe blieben oft bis in den hellen Tag, waren auch tagsüber in hoher Esparsette niedergetan. Fasane rückten jeden Morgen und jeden Abend in ganzen Prozessionen heran; sie sahen stolz aus im metallischen Schimmer ihres Gefieders. Einigen von ihnen zierte ein weißer Ring den dunkel gleißenden Hals; doch die Königsfasane mit ihrem goldenen, schwarzgeflammten Federkleid und dem sehr langen, nachschleppenden Stoß erinnerten an Fürsten im Ornat. Sie liebten die Maisfelder, saßen tagelang darin und weideten sich an den frischen Körnern. Ganz früh am Morgen hörte man das berstende Gocken der Hähne, vernahm es abends wieder, wenn sie sich auf ihre Schlafbäume begaben.

Zuweilen erschienen die Könige des Waldes, die Hirsche, in ganzen Rudeln. Die Enden ihrer Geweihkronen blinkten schon elfenbeinern weiß, indessen die geperlten Stangen dunkler und dunkler wurden, vom Saft der jungen Eschen, Erlen, Silberpappeln, an denen sie immer und immer wieder gefegt wurden.

Jedesmal wußten es alle rings auf den Äckern, wenn die Hirsche kamen. Denn ihre kleinen Vettern, die Rehe, entsetzten sich jedesmal vor ihnen, stießen Schrecklaute aus und ergriffen die Flucht.

»Boah . . . ba-oh! Bö! Bö! Baoh!« klang es da und dort, entfernte sich und klang vom Walde her noch lange. Besonders wenn eine alte, nervöse Rehgeiß sich über den Anblick ihrer riesenhaften Verwandten gar nicht beruhigen konnte.

Die Hasen kannten die Sache und belustigten sich daran. Wurde der erste Schreckruf laut – »Ba-oh!« –, dann nickten sie einander nur mit den Löffeln zu, sagten sich wohl auch stumm, durch das bloße Spiel ihrer Schnurrhaare: Die Hirsche sind da!

Allein auch sie wichen den mächtigen Herrschaften aus, wo sie nur konnten.

Die aber waren ungeheuer vornehm und hatten sich noch niemals mit irgend jemand in eine Unterhaltung eingelassen. Sie kamen des Nachts, wenn die Sterne am Himmel funkelten oder das blaße Mondlicht herniedergeisterte. Sie traten majestätisch einher, als wäre dies alles hier ausschließlich ihr Eigentum, so daß die andern sich der Empfindung nicht erwehren konnten, an ihnen einen Diebstahl zu verüben. Und sie zogen sich beim ersten schwachen Morgendämmern wieder in den Wald zurück.

Den kleinen lebhaften Rebhühnern fühlten sich die Hasen sehr befreundet. Sie bestaunten die jungen Hühner, wie sie geschwisterlich zusammenhielten, mit welcher Anhänglichkeit sie bei den Eltern blieben, und wie gesellig sie von Familie zu Familie untereinander Umgang pflegten.

Nur Trumer äußerte sich geringschätzig über diese bescheidenen, erdbraunen, rostrotgefleckten Kinderchen. »Jeder für sich!« wiederholte er seine Lebensregel.

Doch auch er gelangte nach und nach dazu, auf ihr Verhalten zu achten.

Sie flogen nur auf, wenn dringende Gefahr das erheischte. Dann erhoben sie sich mit lautem Schwirren ihrer Schwingen und strichen brausend eine Strecke weit, um an einer andern, sicheren Stelle wieder einzufallen.

Drohte nun eine Gefahr, so liefen auch die Hasen, jeder für sich, in derselben Richtung davon.

Sonst lauschten sie, wurden aufmerksam und schnellten die Löffel hoch, sowie einer der vielen von den Rebhühnern aufgestellten Wachtposten einen kurzen Warnungsruf ausstieß.

Das zarte Locken der Hähne, das zartere, liebliche Gespräch der Rebhennen mit ihren Jungen, das leise Gurren des Behagens waren angenehme Stimmen, von denen die Feierlichkeit der still im Sonnenglanz ruhenden Erntefelder belebt wurde.

Doch wie viele Abenteuer gab es da, wie viele Erlebnisse, wie viele Schrecken und wie viele Gefahren in dieser stillruhenden Seligkeit der Felder.

Ein Maulwurf wühlte sich dort ans Licht, schien blind zu sein und fiel dennoch seltsam heftig über einen Frosch her, der nachdenklich, mit schnellklopfender Kehle im Gewirr der Blätter saß.

Der rote Streifen eines Wiesels huschte schlangenartig in großer Hast vorüber, und bald darauf war das angstvolle Pfeifen einer armen Maus zu vernehmen.

Behutsam lauernd, gefährlich und blutdürstig näherte sich eine Katze. Ehe man sich's versah, hatte sie einmal schon junge Hasen gerissen. Es war schwer, ihr zu entrinnen.

Manchmal stöberte ein verlaufener, jagdlustiger Hund durch Mais und Halme. Doch den Hunden fehlte das Lautlose in Gang und Angriff. Bummelnd und hörbar witternd tappten sie einher, machten Spektakel, wenn sie auf Hasen, Rebhühner oder Fasane stießen, rannten der vermeintlichen Beute nach, bellten ununterbrochen dabei, so daß ein tüchtiger Alarm entstand und alle genügend Zeit hatten, sich zu bergen.

Mit mehr Methode ging der Fuchs zu Werke, wenn er einmal durch die Felder streifte. Der konnte ganz leise sein, konnte lange still sitzen, um ein Mäuschen zu erwarten, der verstand es, den Maulwurf aus seinem flachen Bau zu scharren, den Fasan, der auffliegen wollte, im letzten Augenblick noch zu erwischen. Der Fuchs holte sich fast immer ein Opfer.

Trotz alledem, diese Sommertage waren köstlich.

Ein Morgen kam, da dunstete der Wald, da dampfte das Feld, als hätte die Nacht keine Kühlung gebracht. Der Boden, der Unterwuchs, die Bäume blieben trocken, staubtrocken blieben die Felder. Nirgendwo wurde eine Stimme laut. Die Fasane schwiegen, als sie, erwachend, von den Schlafbäumen niederstrichen. Ihr metallisch berstendes Gocken war nicht zu hören, und nun erst merkte man, wie dieser schmerzliche Klang doch eigentlich seine Fröhlichkeit hatte. Es gab jetzt, im August, ohnehin kaum noch Vogelgesang, doch heute verstummte er gänzlich. Keine Elster schäkerte, kein Häher stieß einen Zankschrei aus. Nur selten tönte aus der Luft oder von den Wipfeln das Kreischen einer Dohle, kürzer als sonst. Kein Specht jauchzte auf. Selbst das Zwitschern der kleinen Grasmücken und Zaunkönige in den Büschen ging gleichsam wortkarger vor sich und setzte oft ganz aus.

Dunkelrot, wie eine runde Flamme, stieg die Sonne empor, träge und zögernd. Gleich einem Schleier, gewebt aus winzigen Funken, umfloß sie die stauberfüllte, heiße Luft.

Der Himmel lag grünlich schimmernd, wie das Innere einer ungeheuren Bleikuppel, über der Erde. Bis zum Zenit bedeckten ihn die Feuerzungen des Sonnenaufgangs. Alsbald wurde das Firmament dunkelblau, die Feuerzungen löschten aus, und eine blendendgelbe Sonne stieg immer höher, brannte und stach immer glühender zur Erde.

Im Wald erstarben die letzten Stimmen.

Selbst die Grillen schwiegen, die Zikaden verstummten, Wespen und Bienen waren nur im Gebüsch hie und da summend zu hören. Käfer verkrochen sich unter den Ästen der Bäume und Sträucher. Fliegen, Libellen, Schmetterlinge hielten sich nah am Boden, und die Schwalben, die Schmätzer, die Regenpfeifer, die ihnen folgten, flogen ganz niedrig.

Heute zogen nur wenige von allen Tieren hinaus aufs Feld, und die wenigen kehrten bald wieder zurück. Sogar die Rebhühner verließen ihre gewohnte Flur. Sie suchten das Randgebüsch des Waldes. Man hörte das Rufen der Rebhähne, das Zureden der Rebhennen, das bange Girren der Jungen, die Warnungssignale der Wachtposten nur eine kurze Frist im Laubwerk. Dann wurde es still.

Heute schlichen keine Räuber umher.

Die Kreatur erschauerte in der Ahnung des Furchtbaren.

Was geschehen werde, wußten die jungen Hasen nicht. Sie fühlten nur, daß Ungeheures geschehen werde. Und sie bebten. Sie hielten sich nahe bei ihren Betten, sie waren ernst und voll bekümmerter Erwartung.

So erging es allen Geschöpfen, die nicht älter waren als das zum Frühling erwachende Jahr.

Diejenigen freilich, die schon einige Jahre auf Erden lebten, wußten, was bevorstand. Aber heute wagte es niemand, sie zu fragen, und sie selbst zogen es vor, nicht zu sprechen.

Hops und Plana lagen nah beisammen.

»Schrecklich«, seufzte Plana.

Hops bestätigte: »Unerträglich!«

Ganz dicht bei ihnen klang ein geflüstertes Stöhnen der Zustimmung: »Furchtbar!« Das war der kleine Epi.

»Man muß ruhig sitzenbleiben«, meinte Hops, »laufen hilft nicht.«

»Ach«, seufzte Plana wieder, »ich könnte jetzt gar nicht laufen.«

»Wer kann denn jetzt laufen?« Der kleine Epi hauchte das nur.

Langsam war das Blau am Himmel verschwunden. Ein helles Grauweiß, das wie geronnene Milch aussah, verbreitete sich da oben und ließ selbst die Sonne erblassen. Doch ihre Strahlen stachen nur noch quälender.

Im Westen erschien die tiefblauschwarze Mauer einer Wolke, schob sich sachte und gewaltig immer näher.

Das dauerte bis gegen Mittag.

Die dunkle Wolkenmauer hatte die Sonne noch nicht erreicht und stand.

Bald nachher aber brach lichtgraues, angriffswütiges Gewölk aus dieser Mauer hervor, ballte sich, lockerte sich, wälzte sich vielgestaltig über den ganzen Himmel hin, riß die dunkle, drohende Wand mit sich fort und verfinsterte die Sonne.

»Wird es schon Abend?« fragte Epi schüchtern.

Planas Schnurrhaare vibrierten: »Jetzt schon? Vielleicht . . .«

Die Blätter der Bäume begannen zu lispeln. Die dünnen Äste fingen an zu schaukeln.

Der leichte Atem eines Windes strich über die Erde.

Plana erbebte: »Ach, die Blätter . . . das halte ich nicht aus . . .«

Hops drückte sich, so fest er konnte, an den Boden: »Jetzt kommt's!« sagte er noch.

Da fiel auch schon der Sturm wütend über den Wald her.

Das Rauschen der Baumwipfel, der Sträucher war, als ob der Wald unter der Peitsche des Sturmes aufbrüllte.

Plana, die sich gleichfalls geduckt hatte, jammerte: »Das Ende . . .«

Hops konnte sie nicht hören.

Ein Rasen und Toben zauste den Wald, ein unsichtbarer, aber gigantischer Zorn schien ihn zu durchwühlen. Das hohe Ächzen der dünnen Bäume, die nah beisammenstanden und sich plötzlich aneinander reiben mußten, wurde vernehmlich, das tiefe Knarren der alten, sturmgerüttelten Stämme, das zerreißende Klagen starker Äste, die entzweibrachen, das knisternde Splittern geknickter Birken und Erlen. Alte Eichen standen da, und ihre Wipfel, vom Orkan gepackt, schienen im Begriff, davonzufliegen. Mit den gebrochenen Zweigen, die an ihren Wundstellen das lichte Innere des Holzes zeigten, und die heftig schaukelten, vollführten sie Gebärden der Verzweiflung.

Hinuntergefegte Blätter, dürres, dünnes Holzwerk, Splitter von Zweigen wirbelten durch die Luft, tanzten auf dem Boden herum, und überall, wo sie angefahren kamen, steigerten sie die Angst der erschrockenen Hasen zu starrem Entsetzen.

Ein greller Lichtstrahl durchzuckte die Finsternis. Gleich hinterdrein folgte kurzer, niederschmetternder, gewaltiger Donnerschlag.

Nach einer Sekundenpause zuckte der zweite Blitz, und der zweite Donnerschlag klang so furchtbar, als wäre die Welt zersprengt worden.

Irgendwo im Walde, nicht weit entfernt von Hops und Plana, hatte dieser Blitz eine alte Ulme gespalten.

Zwischen Blitz und Donner hörten die Hasen das Stöhnen des getroffenen Baumes, hörten nach dem Donner das Seufzen der sterbenden Ulme.

Dann prasselte in breiten, heftigen Sturzgüssen gewaltiger Regen nieder. Das war nicht wie sonst, wenn es einmal regnete und die Baumwipfel das Wasser auffingen, das vom Himmel rieselte, so daß nur nach und nach ein paar Tropfen hindurchkamen und die Erde langsam feucht wurde. Dieser wütende Regen schlug augenblicklich bis zum Boden hinab. Kein Wipfel, kein Laubdach war fest genug, dem niedersausenden Strome zu widerstehen. Sofort bildeten sich Lachen und Pfützen, augenblicklich rieselten in den Furchen wilde kleine Bäche, denn der Boden, so durstig er auch war, konnte die Fülle nicht schnell genug trinken.

Ein paarmal noch flammte der Blitz, erschütterte jäh hinwütender Donner den Wald.

Schier besinnungslos saßen die Hasen; sie kamen sich verlassen vor, fühlten sich einsam und glaubten, sie seien ohne Rettungsmöglichkeit verloren.

Der Sturmwind hielt den Atem an.

Die Blitze wurden matter, als leuchteten sie nur von ferne auf. In immer größeren Pausen folgte das Donnern, matt und sehr weit weg, leise vergrollend.

Einzig der Regen dauerte noch an. Der rauschte, trommelte, klatschte und ließ die Hasen unglücklich sein.

Aber der Wald stand nun ruhig da, vom Wasser überbraust und schien sich an der Kühlung zu erquicken. Es begann sehr stark nach Erde zu riechen, nach geöffneter, angefrischter, nach neu belebter Erde.

Die Hasen blieben sitzen und hockten trübsinnig da, jeder in seinem Bett.

Plötzlich hatte der Regen ein Ende. Nach dem betäubenden Lärm des Gusses wurde es auf einmal still. Doch durch die Stille hörte man das Pochen der einzelnen Tropfen, die von Blatt zu Blatt fielen, das klopfende Schlagen, überall hörte man's, hoch in den Wipfeln und tief in den Sträuchern. Das klang wie boshaftes Trommeln und fuhr den Hasen in die Nerven. Sie waren alle vom Regen mißhandelt, doch jetzt, wenn ein schwerer Tropfen einen von ihnen traf, bebten sie, als würden sie gepeitscht oder vom Finger des Unheils berührt.

Eine Weile saßen sie und duldeten die Behelligung.

Dann aber stieg der Geruch der Scholle heftiger und ermutigender auf. Das nasse Holz begann zu riechen. Allem Laub, allen Blättern, jedem Kraut entströmte wunderbar starker und stärkerer Duft. Es war ein beglückendes Aufatmen, war wie stummer, leidenschaftlich seliger Gesang des Waldes.

Jetzt wurde er auch wieder strahlendhell. Eine milde Sonne drang schräg vom Westen her durch das Gezweig, gelind und mit belebender Wärme.

Dabei währte das trommelnde Fallen der Tropfen von Bäumen und Sträuchern fort und hinderte die Hasenherzen, sich zu beruhigen.

Von den höchsten Wipfeln jubelten schon die Amseln, die Eichhörnchen turnten wie toll in den Ästen, putzten sich und waren vor Fröhlichkeit außer Rand und Band. Die Meisen, Grasmücken, Finken, Gimpel huschten mit lustigem Zwitschern und Piepen hin und her. Der Häher kreischte, die Elster schäkerte, die Fasane liefen ins Freie. Überall regte sich munteres, erfrischtes Leben.

»Bist du da?« fragte Hops.

»Meinst du mich?« flüsterte Epi leise. Er sah jämmerlich aus. – »Wo ist Plana?« begehrte Hops zu wissen.

Da sagte Plana mit sanfter Stimme: »Ach, Hops, das war Zeit! Ich hätte es nicht lange mehr ertragen.«

Murk und Nella wankten vorbei. Mamp zottelte kleinmütig vorüber. Trumer machte sich auf den Weg. Alle boten, ganz durchnäßt, wie sie waren, und noch sehr verängstigt, einen trübseligen Anblick.

»Komm«, sprach Hops zu Plana, »komm, wir wollen ins Freie.«

Er forderte Epi gar nicht auf. Der kam ja doch von selber mit. – Plana richtete sich auf: »Ins Feld?«

Hops, der schon ein paar Schritte gemacht hatte, hielt inne. »Ins Feld? Wenn du Lust dazu hast . . . Aber ich glaube, an der Salzlecke wär's besser, da ist das Gras niedriger, und man trocknet vielleicht schneller. Es ist auch näher . . .«

Die kleine Blöße, auf der sich die Salzlecke befand, lag in vollem, warmem Sonnenschein. Dort trafen sie Klipps und Lugea, Sitzer und Rino. Ebenso Iwner und Olva.

Auch ein alter Hase war da. Fosco. Ein großer, gewichtiger Mann, wohlbeleibt und behäbig: ein Riese an der jungen Schar gemessen. Dicht beim Waldsaum saß er aufrecht und schien schon fast trocken.

Die Sonne strahlte sogleich Zuversicht in die armen, vergrämten Junghasen.

Plana ließ sich bei Fosco nieder.

Hops und Epi nahmen daneben Platz.

»Es war grauenhaft«, knüpfte Plana ein Gespräch mit dem alten Hasen an.

Fosco bewegte die Löffel, rollte die Augen und wippte eindrucksvoll mit den mächtigen Schnurrhaaren.

»Nicht so arg«, sagte er knapp, doch freundlichen Tones.

Plana staunte: »Nicht arg?«

Und Hops bemerkte: »Ich denke, es war arg genug!«

Fosco blinzelte geringschätzig zu ihm nieder. Er war doppelt so groß wie die Junghasen und vermutlich dreimal so kräftig. »Tja«, ließ er sich vernehmen, »das muß man eben durchmachen.«

»So?« Plana, bereit, zu erstaunen, forschte dringend: »Hast du so etwas schon einmal erlebt?«

Fosco rührte die Schnurrhaare: »Oft und oft!« Es klang ein wenig prahlerisch.

»Oh!« Plana rückte näher zu ihm. Ganz Bewunderung, sah sie ihn an und seufzte zärtlich: »Ja . . . du!«

In Hops erwachte ein winziges Gefühl von Eifersucht: »Was nennst du dann eigentlich arg?« wünschte er zu wissen.

Fosco setzte sich noch steiler aufrecht, wurde noch größer. Er wurde tiefernst: »Ihr kennt den Schnee nicht . . . und das andere . . .«

»Was ist das, Schnee?« rief Plana begierig.

Doch Hops erkundigte sich zweifelnd: »Und was ist das andere?«

Fosco rührte sich nicht. »Wartet's ab!« erwiderte er kurz.

Plana schmeichelte: »Erzähl uns davon, bitte!«

Hops raffte sich zur Keckheit auf: »Sag's doch . . . wenn du's weißt.«

Fosco schwieg.

Eine lange Pause entstand.

Die Hasen wurden allmählich trocken und fühlten sich so wohl, daß sie glaubten, so wohl sei ihnen noch nie zumute gewesen. Iwner und Klipps waren herbeigekommen, Mamp und Murk gesellten sich dazu. Später rückte noch Rino mit Sitzer und Nella näher. Alle hockten im Kreise umher und begafften den großmächtigen Fosco. Nur Trumer hielt sich abseits. Lugea und Olva blieben aus Furchtsamkeit fern.

Fosco schwieg lange und ließ sich bewundern. Dann, als ihrer mehr und mehr sich um ihn versammelt hatten, murmelte er: »Es ist nicht gut, wenn so viele beisammensitzen.«

Mamp sprang sofort davon. Er war beleidigt.

Murk folgte ihm und sagte überlegen: »Alter Wichtigtuer!«

Plötzlich hob Fosco die Löffel, stellte sich in die Hinterbeine, und seine mächtigen Schnurrhaare spielten bei lebhaft bewegter Nase.

»Oh«, meinte Plana altklug beschwichtigend, »das sind nur die lieben Rehe.« Und sie wies mit einem Löffel zur Salzlecke. Dort stand geraume Zeit schon ein ganzes Rudel Rehe, bewegte die Lauscher, kratzte mit den Schalen im Lehmboden und ließ das rote Fell an der Sonne trocknen.

Aber Fosco war verschwunden, ehe die andern sich's versahen.

Da trat ein starker Hirsch aus dem Dickicht. Er stand lange ganz still; das hocherhobene, hochgekrönte Haupt nahm von überallher Witterung.

Klipps, Sitzer und Iwner erschraken und flüchteten ins Dickicht.

»Ich fürchte mich nicht vor ihm«, erklärte Hops, doch es klang weder bestimmt noch überzeugend.

»Man kann nicht wissen«, flüsterte Rino und beeilte sich in die Sicherheit zu schlüpfen.

Die Rehe waren sofort davongesprungen, voll überstürzter Hast.

Hops blieb; also blieben auch Plana und Epi.

Langsam, majestätisch schritt der Hirsch zur Mitte der Blöße vor, blieb stehen und schüttelte sich, so daß viele kleine Wassertropfen seinem Fell entsprühten und ihn eine Sekunde lang als eine besonnte Aura umfunkelten.

Plana schob sich zu Hops: »Er kommt sonst nie am hellen Tag«, meinte sie zaghaft.

Hops beruhigte sie: »Er will eben auch trocken werden, sonst nichts.«

Der Hirsch ging noch ein paar Schritte vorwärts, warf unvermittelt auf und sicherte.

Da krachte der kurze Donnerschlag, den sie alle kannten.

Die drei Junghasen sprangen entsetzt ins Gehölz.

Sie sahen noch, wie der Hirsch emporfuhr. Als hätte ihn eine unwiderstehliche Gewalt aufgehoben und in die Höhe geschleudert, zuckte er mit allen vier Läufen in der Luft. Aus seinen schönen großen Augen sprach letztes Erschrecken, sprachen Schmerz und bange Sehnsucht nach Rettung.

Im dichten Laubwerk hatten die drei Junghasen kehrtgemacht und schauten voll Neugier und Grauen hinaus zur Blöße. Dort landete der Hirsch nach einem verzweifelten Satz wieder auf dem Rasen, fand keine Kraft mehr zu weiterer Flucht, taumelte und stürzte zusammen.

Sie hörten das dumpfe Ächzen, darin sein Leben erlosch.

Ein Schauer überrann alle drei Hasen. Sie waren fassungslos und stumm.

Ein neues Grauen schüttelte sie, als nun Er auf der Blöße erschien und rasch dorthin eilte, wo der Hirsch lag. Still beugte Er sich zu dem Gefallenen nieder. Etwas seltsames blitzte und blendete in einem Seiner Griffe. Nun faßte Er in die Krone des Toten, hob das Haupt auf und fuhr mit dem Messer in die willenlos klaffende blutige Muffel, die Er öffnete, um die Haken herauszubrechen. Dann entfernte Er sich, leise wie Er gekommen war.

Die Luft schien rein, jede Gefahr vorbei.

Doch die drei wagten sich nicht mehr hinaus auf die Blöße. Sie blieben erschüttert und nachdenklich beisammen.

Der kleine Epi erlangte zuerst wieder Besinnung. Er kroch ganz nahe zu den beiden andern. Er arbeitete heftig mit den Löffeln, blinzelte und verdrehte die Augen, seine Schnurrhaare bewegten sich heftig, und ein Zucken riß von der Stirne her oft über seinen schmalen Rücken. Offenbar wollte er etwas sagen. Endlich fing er an, leise und wie immer schüchtern: »Vielleicht . . . ich meine nur . . . vielleicht ist Er gar nicht unser Feind . . .«

Plana wandte sich erregt zu ihm: »Glaubst du?«

Epi antwortete: »Immer hat Er nur die Rehböcke niedergestreckt . . . jetzt den Hirsch . . . ich meine nur . . . wir Hasen sind vor Ihm herumgesprungen . . . du, Plana, bist bei ihm gewesen . . . Er hat dir nichts zuleide getan . . . Er hat keinem von uns etwas zuleide getan . . . ich meine nur . . .«

Plana wandte sich zu Hops: »Was denkst du?« fragte sie hastig. »Sag doch! Wie denkst du darüber?«

Hops überlegte. Er ließ beide Löffel hängen, schaute vor sich hin, seine Nase geriet in Bewegung, und sein Schnurrbart spielte. Ihm fiel ein, wie Er ihn vor dem Fuchs geschützt hatte. Und als Plana ihn jetzt bedrängte, er müsse sich äußern, murmelte er: »Schon möglich!«

Plana hob sich freudig in die Hinterbeine, schlug die Vorderpfoten durch die Luft und jubelte: »Das wäre herrlich!«

Da fügte Hops warnend hinzu: »Trotzdem . . . man muß auf der Hut sein!«

 


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