Felix Salten
Fünfzehn Hasen
Felix Salten

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Währenddessen begab sich bei den andern allerlei Alltägliches. Sie waren, noch bevor Hops erkannt hatte, daß jener erste Er herankam, rechtzeitig und ohne Panik in das schützende Buschwerk geschlüpft. Sie drückten sich fest an den Waldboden, und Er bemerkte sie nicht, wie sie dalagen und sich ganz ruhig hielten.

Er sah nicht ihre vor Angst gerundeten Augen, sah nicht die zarte, bebende Bewegung ihrer straffen, weißen Schnurrhaare, und Er vernahm auch nicht das heftige Schlagen von zehn furchtsam erregten Hasenherzen.

Sie waren alle, bis auf Plana, jenseits vom Hochholz, durch das Er kam und darin Er stehenblieb.

Nur Plana befand sich drüben bei Ihm.

Gerade Plana!

Natürlich mußte ihr so etwas Unangenehmes widerfahren. Natürlich!

Plana war ein nettes, kleines Ding. Jeder ihrer Kameraden mochte sie gerne leiden, und sogar die andern Hasenmädchen waren freundlich zu ihr. Sie hatte solch ein drolliges Wesen, solch eine heitere Liebenswürdigkeit. Niemals fing sie mit jemand Streit an und gab niemals Anlaß zu irgendwelchem Zank.

Aber Plana war gedankenlos, fahrig, zerstreut und schien manchmal nicht zu wissen, was sie tat.

Die andern glaubten zuweilen, daß Plana ein wenig dumm sei. Doch sie war, im Grunde genommen, gar nicht dumm, sondern nur verblüffend unbesonnen.

So geschah es ihr auch diesmal, daß sie, als die Signale der Häher, Elstern und Meisen gar keine Zweifel mehr ließen, daß Er da sei, es geschah ihr, daß sie nicht mit den andern ins Dickicht jenseits der Salzlecke schlüpfte.

Sie saß dicht am Hochholz; sie begriff, daß man flüchten und sich verstecken müßte, und sie begab sich einfach in das Hochholz, darin Er herumschlich.

Sie drückte sich zu Boden, ganz nach den Geboten ihrer Art, sie schmiegte sich zärtlich in die weiche Scholle, so wie nur Plana sich zu schmiegen verstand.

Da hörte sie Ihn, hörte Seine leisen Schritte, näher und näher.

Plana fieberte vor Entsetzen. Doch sie blieb ruhig liegen.

Sie dachte nur: »Wahrscheinlich hab' ich das wieder falsch gemacht.« Und ganz verzagt dachte sie: »Warum mache ich denn immer alles falsch?«

Dann dachte sie nichts mehr, konnte überhaupt nichts mehr denken.

Denn nun war Er ganz bei ihr.

Ganz nahe bei ihr war der Fürchterliche, stand und stand und bewegte sich kaum.

Nichts als ein armseliges Büschel Lattichblätter trennte die beiden, Ihn und Plana, die jetzt dalag und das Letzte erbangte.

Seine Witterung fiel über sie her wie stürzendes Gewässer, fortwährend, sinnverwirrend, niederschmetternd. Plana verlor beinahe das Bewußtsein, überschüttet von diesem fremden, drohenden Geruch, der ihr Innerstes aufwühlte und sie zugleich lähmte.

Sie erblickte vor sich zwei harte, braune Ungeheuer. Seine Füße! Diese sonderbaren, geheimnisvollen Füße, deren Er nur zwei besaß, und die Ihn doch trugen, diese rätselhaften Füße, die noch kein Hase jemals gesehen hatte.

Plana starrte sie an und wartete. In Todesangst.

Sie hörte Seinen Atem.

Er atmete freilich sehr leise. Ihr aber war es ein Brausen, das hoch, sehr hoch über ihr durch die Luft wehte.

Ein paar Minuten verstrichen.

Hierauf unternahm Plana etwas, das sicherlich nur Plana unternehmen konnte, weil sie eben nie recht wußte, was sie tat.

Sie sprang auf.

Wirklich, sie sprang auf, ganz nah vor Seinen Augen. Und sie sprang einfach hinaus zur Blöße, sprang in ihrer Fassungslosigkeit sogar über den Trog der Salzlecke und raste dem Dickicht gegenüber zu.

Alles blieb still.

Erst drüben, im bergenden Dämmer des Buschwerks, glücklich angelangt, saß sie zitternd auf den Hinterbeinen, hob die Löffel, einen um den anderen, und dachte erschrocken: »Was hab' ich da nur wieder gemacht?«

Im Hochholz jedoch, an den Stamm einer alten Eiche gelehnt, stand Er, paßte auf einen Rehbock und beachtete die Junghasen gar nicht.

Den Rehbock aber hatten vielerlei Signale, vielerlei Kundschafterzeichen gewarnt, so daß er beschloß, heute morgen der Salzlecke fernzubleiben.

Lange stand Er an der Eiche. Lange regte sich kein Laut, kein Wesen in Seinem Umkreis. Die Hasen hielten sich still und flach am Boden, gedeckt vom dichten Gestrüpp und von den Blättern der Brombeersträucher. Die Fasane ringsum waren alle fortgelaufen. Die Mäuse hüteten sich, ihre Erdlöcher zu verlassen. Nur die Bienen und Hummeln summten, die Schmetterlinge schaukelten durch die Luft, die wunderbaren Flugzeuge der Libellen schwebten, hielten für Sekunden, zuckten weiter und gaukelten anmutig auf und nieder. Im Gras, an den Sträuchern und an den Baumrinden kroch, kribbelte, marschierte, hüpfte das unzählbare, winzige Volk der Ameisen, Käfer, Heuschrecken, Bremsen. Eine märchenhaft vielgestaltige Welt für sich.

Die Häher und die Elstern, die Eichhörnchen und ein paar Krähen, alle Grasmücken und Meisen aber waren auf ihren Wachtposten geblieben.

Beständig gaben sie Signale. Andauernd tönten ihre Warnungszeichen, ihre Meldungen durch diesen Teil des Waldes.

Plana lag flach am Boden. Ihre Fassungslosigkeit schwand; sie wurde besonnen, blieb wachsam; die hübsche kleine Nase war immer in Bewegung, prüfte unermüdlich die Luft nach verdächtigen Gerüchen; die Schnurrhaare spielten leise. Manchmal richteten die Löffel sich auf, sprangen kerzengerade empor, wie Soldaten, die ein Befehl ruft. Plana horchte. Dann senkten sich die Löffel wieder, langsam und schlapp, wie Segel, die bei Windstille eingeholt werden.

Das war ein tätiges Ausruhen. Ein anderes Ausruhen gab es für die Hasen nicht.

Plana dachte: »Ich habe doch recht gehabt. Schlau bin ich gewesen! Ich hab' gar nicht gewußt, wie schlau ich war.« Und sie geriet in eine vergnügte, selbstzufriedene Stimmung.

Die Wächter, Aufpasser und Spione schwiegen im Hochholz. Denn Er hatte sich entfernt; die Luft war wieder rein.

Noch eine Weile stand nun zur Verfügung, um ein wenig zu äsen, um an der großen hellen Weite da draußen seine Freude zu haben.

Schon fuhren die Mäuse im Gebüsch mit leisem Pfeifen lustig umher. Ein paar Maulwürfe kamen zum Vorschein, tapsend-mürrisch, aber witzig und offenbar harmlos, wenn man sie ansprach. Man unterhielt sich immer glänzend mit ihnen. Sie hatten liebe, spitze, ein wenig ironische Gesichter; und in ihrem dichten, dunkelvioletten Pelz, der so schmiegsam war, und von dem, wenn sie ans Licht kamen, die Erdkrümel so reinlich abfielen, sahen sie richtig vornehm aus.

Der Igel Grunz schlapfte träge durch das Buschwerk heim. Das war ein spaßiger Bursche. Er war nicht neugierig, er wollte mit niemand verkehren, und er gab immer sehr grobe, aber lustige Antworten. Er hatte von allen, die hier im Walde lebten, das feinste Gehör, das von einer staunenswerten, unterhaltsamen Empfindlichkeit war. Bei dem leisesten Pfeifen, Knacken, Piepen zuckte er getroffen zusammen. Es warf ihn förmlich. Dann blieb er sitzen, und sein still schmunzelndes Antlitz bekam den Ausdruck tiefsinniger Weisheit.

Fasane zogen vorsichtig durch die Dickung, hielten inne, hoben lauschend den kleinen Kopf, zogen weiter.

Nun sprangen die Hasen wieder auf die Wiese hinaus, saßen eine Zeitlang ruhig am Waldrand, die Löffel glatt an den Rücken gelegt, und schauten zu den Baumwipfeln, schauten zum Himmel hinauf, der sich sacht grün und blaßrosa zu färben begann.

Sie hatten alle schon den bekümmerten Ausdruck, als wären sie von schweren Sorgen beladen oder von einem immerwährenden Kummer bedrängt, indessen sie sich doch der gefahrlosen Schönheit dieser Morgenstunde erfreuten. Aber aus diesem kummervollen Ausdruck, den sie unbewußt hatten, sprach das Hasenschicksal; in dieser sorgenschweren Haltung, die sie jetzt, während einer köstlichen Pause, ohne es zu wissen, einnahmen, war der tausendjährige Schmerz des ewig Verfolgten.

Murk kam zu Plana. »Fein hast du dich wieder einmal benommen«, redete er sie an.

»Ich?« Plana tat, als wäre sie erstaunt.

»Du verstehst ganz gut, was ich meine«, fuhr Murk fort. »Keinen Grashalm hätte ich mehr für dich gegeben.«

»Mach dich nicht wichtig, Murk«, fiel Iwner ein, der sich näherte. – Auch Mamp und Trumer waren herbeigeeilt.

»Was gibt's?« rief Mamp, wie einer, der zu befehlen hat.

»Murk spielt sich wieder als ganz Gescheiter auf«, rief Iwner, »er gibt Plana weise Lehren.«

Mamp blickte erwartungsvoll und gebieterisch von einem zum andern.

Murk hielt den Kopf schief. »Das Mädchen ist so dumm«, begann er mit kluger Miene, »man muß ihm helfen.«

Trumer hatte sich behaglich gesetzt. »Wozu helfen?« sagte er gleichgültig. »Jeder für sich!«

Murk klapperte ein wenig mit den Löffeln. »Ich denke gar nicht daran, Plana beizuspringen, aber ich wollte nur . . .«

Iwner fiel ihm hitzig in die Rede: »Aber du wolltest dich wichtig machen . . . du Prahler.«

Murk war beleidigt. Er schob sich ganz nahe an Iwner: »Sag das noch einmal!«

Iwner richtete sich in den Hinterbeinen empor, seine Schnurrhaare sträubten sich. »Prahler!« schimpfte er und begann sofort auf Murks Kopf loszutrommeln.

Der stieg nach dem ersten Streich gleichfalls in die Hinterbeine und erwiderte mit Ohrfeigen.

Da stürzte sich Mamp auf die beiden. Er hämmerte so kräftig auf Murk und Iwner los, daß sie ins Gras kugelten und winzige Flöckchen ihrer Wolle umherflogen.

Dann wandte er sich zu Trumer: »Und du? Was willst du?«

Trumer blieb in aller Ruhe sitzen, wie er saß. Seine Löffel speilten abwechselnd auf und nieder. »Jeder für sich«, sprach er bedächtig, »ich menge mich da nicht ein.«

»Nicht?« fragte Mamp drohend. »Also, da hast du etwas für dich!« Und er schlug einen Trommelwirbel auf Trumers Haupt und Löffel, von dem jedem andern schwindlig geworden wäre.

Trumer jedoch duckte nur die Nase zu Boden. »Ist das so?« murrte er und fügte gleichmütig hinzu: »Ja . . . das geht jetzt mich an!« Hierauf erhob er sich so schnell und unerwartet und hieb Mamp derart kräftig ins Gesicht, daß dieser nach hinten stürzte und seinen weißen Bauch zeigte.

Nun kamen plötzlich alle andern herbei. Sie sahen, ein wenig verblüfft, wie die vier sich nun wahllos und durcheinander prügelten.

»Was ist geschehen?« rief Rino. Doch Klipps und Sitzer fragten nicht erst, sondern beteiligten sich augenblicklich an der Rauferei, die sich in wechselnde Zweikämpfe löste.

Epi, der Kleinste, wollte nicht mittun und rannte stracks ins Gebüsch.

Die Mädchen versammelten sich um Plana, die ganz bestürzt dasaß.

»Was war denn los?« erkundigte sich Nella.

Lugea und Olva waren dringender: »Du mußt es wissen!« riefen sie. »Erzähl doch gleich!« Und sie hielten die Löffel steif.

»Ach«, meinte Plana bescheiden, »nun, ich glaube, sie prügeln sich um meinetwillen . . .«

»So?« Nella stieß das scharf hervor. »So?!«

Plana erhob bei diesem feindseligen Klang einen Löffel, der andere hing ihr wie geknickt den Hals hinab. Sie schwieg.

Eine ganz milde, fast schmeichelnde Stimme flüsterte: »Warum denn nur um deinetwillen, Plana . . .?« Das war Lugea, die gemächlich herzugerutscht war.

Plana fühlte sich ungemütlich und wollte fort.

»Bleib doch, Liebling«, flehte Lugea, »bleib und sag uns alles . . .«

Die Burschen hatten ihren Kampf beendet und saßen vereinzelt im Gras umher; sie waren erschöpft und ratlos.

»Es begann . . .« Plana sprach zaudernd, »es begann damit, daß Murk kam und mir Vorwürfe machte . . .«

Lugea unterbrach sie freundlich: »Murk . . . wahrhaftig . . . Murk? Was hast du mit Murk zu schaffen?«

Plana beteuerte ihre Unschuld: »Nichts . . . gar nichts . . . er wollte . . .«

Lugea ließ sie nicht weitersprechen. Sehr teilnahmsvoll, zärtlich, leise, als verstünde sie alles, erklärte sie: »Er wollte . . . ach ja . . . er wollte . . . und er hat dir Vorwürfe gemacht . . . gewiß, mein Liebling . . . wir kennen dich . . . still! Keinen Laut! Wir wissen, was für eine Abgefeimte du bist, und wir wissen, wie gerne du prahlst. Ja, mein Liebling, du verdienst, daß man dich einmal tüchtig durchbläut . . .«

Nella erhob sich ganz wenig und begann ohne Vorbereitung auf Planas geduckte Stirne einen erbitterten Wirbel zu hämmern.

Auch die andern Mädchen schickten sich an, Plana zu mißhandeln. Ihr verhaltener Zorn brach aus.

Aber Plana dachte keine Sekunde daran, sich prügeln zu lassen oder sich zu widersetzen. Sie wich den wütenden Pfotenhieben aus und lief einfach davon, mitten in die Wiese hinaus. Blitzschnell rannte sie, daß ihre weiße Blume hoch auf und nieder schwenkte.

Das war überraschend.

Die andern setzten ihr nach.

Plana schlug Haken auf Haken.

Mamp, Klipps, Sitzer beteiligten sich an dem Wettlauf. Iwner folgte und Trumer. Rino jagte allen voraus, und Trumer entschloß sich, als letzter mitzumachen.

Plana lief in Kreisen.

Die andern zogen in Kreisen nach. Es wurden zwei, es wurden drei Kreise. Und auf einmal war das wieder nur ein heiteres Spiel. Jeglicher Zorn war während des Wettlaufens verraucht.

Hoch aus den Lüften klang der Schrei des Bussards.

Augenblicklich schwenkten alle Hasen ab, ins Dickicht.

Trumer war der erste, der in die üppig grünende Sicherheit gelangte. »Jeder für sich!« dachte er und suchte sein Bett.

Die Spitzen der Baumwipfel erglühten goldfarben, berührt von den ersten Strahlen der Sonne.

 


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